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Wenn sich die Welt abwendet

17.04.2024 21
RAE Ausgabe 5/2024

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 5/2024

Seite Seite 21

Der Weg durch den Abwasserkanal ist der einzige zur kleinen Krankenstation in Brooklyn, einem Slum in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. © Tankred Stöbe
Haiti versinkt im Chaos: Bandengewalt, Entführungen, Plünderungen und gewalttätige Proteste prägen den Alltag. Regierung, Polizei und Militär haben ihre Autorität verloren. Etwa 300 skrupellose Gangs kontrollieren die Hauptstadt Port-au-Prince. Die Folge: Lebensmittel und Wasser werden knapp, und viele Menschen haben kaum noch Zugang zu medizinischer Versorgung. 

von Heike Korzilius

Der Weg nach Brooklyn führt durch die offenen Abwasserkanäle. Auf dem Motorrad geht es durch die knietiefe Kloake zur kleinen Klinik, die Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) in dem Elendsviertel der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince betreibt. Denn sämtliche Zufahrtswege haben lokale Banden abgeriegelt. Dr. Tankred Stöbe, Mitglied im Vorstand von MSF Frankreich, steht noch immer unter dem Eindruck seines mehrwöchigen Einsatzes als medizinischer Koordinator in dem Karibikstaat. „Ein solches Ausmaß von Armut und Bedürftigkeit habe ich lange nicht gesehen“, sagt der Notarzt, der seit gut 20 Jahren für MSF weltweit in Kriegs- und Krisengebieten im Einsatz ist. Brooklyn ist Teil von Cité Soleil, dem „größten, ärmsten, gewalttätigsten Slum der westlichen Hemisphäre“, in dem MSF ein großes Basisgesundheitsprojekt samt Notfallklinik betreibt, die täglich rund 180 Patientinnen und Patienten versorgt. In der kleinen MSF-Klinik im abgeriegelten Brooklyn kümmert sich Dr. Odans Elmondo, der selbst aus dem Viertel stammt, um Patientinnen und Patienten, die an Cholera, Malaria, Dengue, an Hauterkrankungen oder Mangelernährung leiden. Schätzungsweise 100.000 Menschen leben in Brooklyn. Genaue Zahlen gibt es nicht. Neben der medizinischen Versorgung bereitet Ärzte ohne Grenzen für die Bewohner des Viertels an vier Stellen Trinkwasser auf. Das gehöre zwar nicht zu den Kernaufgaben der Organisation, sagt Stöbe. Aber es gebe zurzeit keine andere Organisation, die diese Aufgabe übernehme. „Und wenn wir es nicht machen, gibt es noch mehr Fälle von Durchfall oder Cholera.“

MSF betreibt außerdem zwei Trauma-Zentren in Haiti, in Carrefour, unmittelbar im Südwesten der Hauptstadt, und in Tabarre, nahe dem Flughafen von Port-au-Prince. Die Klinik in Tabarre ist die einzige in der Stadt, die Brandverletzte versorgen kann. Die meisten Patientinnen und Patienten dort haben aber Stöbe zufolge Schussverletzungen erlitten, so wie Rose Mary. Die 53-Jährige ist als unbeteiligte Passantin durch einen Schuss in den Nacken verletzt worden. Zwar kann die Wunde gut versorgt werden, Rose Mary ist aber in der Folge vom Hals abwärts gelähmt und wird nicht mehr aus eigener Kraft atmen können. Das Team steht vor einem ethischen Dilemma: In der Klinik gibt es nur zwei Beatmungsgeräte, von denen eines Rose Mary am Leben erhält. In ganz Haiti gibt es jedoch keine Pflegeeinrichtung, die eine beatmete Patientin wie sie weiterversorgen könnte. Was also tun? Aktive Sterbehilfe kommt für das Team nicht infrage. Gemeinsam mit den Angehörigen entscheidet man schließlich, die Therapie nicht weiter zu eskalieren. Rose Mary stirbt wenige Tage später an den Folgen einer beatmungsassoziierten Lungenentzündung. „Solche Situationen gibt es in Deutschland nicht“, sagt Stöbe. „Der Fall zeigt die Not und die Ausweglosigkeit, wenn wir als humanitäre Organisation zugleich die letzte Bastion sind, die einem so schwer kranken Menschen helfen kann.“

Sexuelle Übergriffe nehmen zu

Neben den beiden Trauma-Zentren und der Klink in Cité Soleil unterhält MSF eine weitere Notfalleinrichtung in Turgeau, ebenfalls in Port-au-Prince. Letztere war von Dezember 2023 bis Anfang März dieses Jahres aus Sicherheitsgründen geschlossen, nachdem ein Patient von einer Gruppe Bewaffneter aus einem Krankenwagen gezerrt und erschossen worden war. Außerdem hat MSF in der Hauptstadt eine Anlaufstelle für Opfer sexueller Gewalt eingerichtet. „Dort haben wir im vergangenen Jahr 4.000 Frauen nach einer Vergewaltigung meist durch Banden behandelt“, sagt Stöbe. „Das ist die höchste Zahl, die wir jemals verzeichnet haben.“ Allerdings erreichten nur die wenigstenOpfer die MSF-Klinik innerhalb des für die Schwangerschafts- und Infektionsprophylaxe kritischen Zeitfensters von 72 Stunden. „Diese Frauen sind entweder zu Hause unabkömmlich oder sie haben zu viel Angst, von den Tätern wiedererkannt zu werden, wenn sie sich Hilfe holen“, erklärt Stöbe.
 
Die meisten Menschen versuchten ohnehin, ihre Häuser und Wohnviertel so selten wie möglich zu verlassen. Zu groß sei die Furcht vor den Gangs aus den anderen Stadtteilen, sagt Stöbe. „Die kennt man nicht. Da weiß man nicht, wie man sich verhalten soll.“ Das gelte auch für die humanitären Helferinnen und Helfer im Land. „Wir haben zurzeit kaum Bewegungsfreiheit, weil die Gefahr von Überfällen so groß ist – erst recht nach Einbruch der Dunkelheit“, sagt der Notarzt. Dabei könne MSF in Haiti eigentlich relativ gut arbeiten. Noch sei keine Einrichtung der Organisation gezielt angegriffen worden. Stöbe begründet das unter anderem mit dem langjährigen, kontinuierlichen Engagement in dem Land. Seit 1991 ist MSF dort ununterbrochen im Einsatz. „Und wir werden auch bleiben, denn unsere Arbeit wird wirklich gebraucht“, bekräftigt er.

Doch die prekäre Sicherheitslage erschwert die Hilfe erheblich. Der Flughafen, die Häfen und auch die Grenzen zum Nachbarland und Urlaubsparadies Dominikanische Republik sind geschlossen. Die meisten westlichen Regierungen haben ihre Botschafter aus Haiti abgezogen. „Dazu kommt, dass die gebildeten, hoch qualifizierten Haitianer in Scharen das Land verlassen“, erklärt Stöbe. „Es gibt kaum einen Arzt, mit dem ich in Kontakt war, der nicht aktiv darüber nachdenkt, in die USA oder nach Kanada auszuwandern, oder es schon in die Wege geleitet hat. Dasselbe gilt für Juristen, Lehrer oder Übersetzer.“ Das sei zwar individuell nachvollziehbar, aber schlimm für das Land und auch für Hilfsorganisationen wie MSF, die dringend auf gut qualifiziertes Personal angewiesen sind. In den wenigen öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, die noch funktionieren, verdienen die Ärzte Stöbe zufolge 200 Dollar im Monat. Organisationen wie MSF zahlten ein Vielfaches davon, konkurrierten aber mit den wenigen Privatkliniken im Land um qualifiziertes Personal. Im Ausland winkten dann noch einmal besser dotierte Stellen. Die Folge ist nicht nur ein großer Fachkräftemangel. „Es ist zuweilen auch schwierig, mit den gut qualifizierten einheimischen Mitarbeitern in einen konstruktiven Arbeitsprozess zu kommen und Qualitätsstandards einzufordern, weil sie jederzeit damit drohen abzuwandern“, gibt Stöbe zu bedenken. Das führe auch zu Frustrationen beim internationalen Personal. Zudem werde es immer schwieriger, medizinische Güter und Medikamente ins Land zu holen. Häufig blieben diese im Zoll hängen. „Und selbst wenn wir an höchster Stelle intervenieren, passiert oft nichts“, sagt Stöbe. Haiti gilt nicht umsonst als „Gescheiterter Staat“. 
 

Viele Ärzte verlassen das Land

Dr. Rodolphe Jean-Louis ist einer derjenigen, die das Land verlassen haben. Seit 2017 absolviert der heute 37-Jährige am Klinikum Kulmbach in Oberfranken eine Weiterbildung zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. Jean-Louis stammt aus Carrefour, nahe der Hauptstadt Port-au-Prince, und hat mithilfe eines staatlichen Stipendiums in Haiti Medizin studiert. Den Bezug zu Deutschland erlangte er nach dem schweren Erdbeben im Jahr 2010, bei dem fast 300.000 Menschen ihr Leben verloren und viele internationale Helfer in den Karibikstaat strömten, darunter Professor Dr. Thomas Bohrer, der inzwischen am Klinikum Kulmbach die Thoraxchirurgie leitet. Bohrer arbeitete im Rahmen der Erdbebenhilfe eng mit Jean-Louisʼ Bruder Godson, einem Allgemeinchirurgen, zusammen.
 
Zunächst trat Rodolphe nach Abschluss seiner Weiterbildung, ebenfalls in Allgemeinchirurgie, eine Stelle am Albert-Schweitzer-Krankenhaus in Deschapelles, im Norden Haitis, an. Dort waren im Rahmen der humanitären Hilfe viele internationale Kollegen tätig. Einer dieser Ärzte riet Rodolphe, ins Ausland zu gehen. Er sei ein talentierter Chirurg, der seine Kompetenzen in der haitianischen Heimat nicht angemessen erweitern könne. Das habe bei der Entscheidung, seine Heimat zu verlassen, den Ausschlag gegeben, erklärt Rodolphe gegenüber dem Rheinischen Ärzteblatt. Ihm sei es um die eigene fachliche Weiterentwicklung gegangen. Die damalige Lage in Haiti habe dabei keine Rolle gespielt. Denn diese sei erst in den letzten drei, vier Jahren eskaliert. „Natürlich gab es immer Probleme, das Land ist arm, aber man konnte damals dort sein Leben leben“, sagt Rodolphe. Zuletzt war er 2018 in Haiti. Mittlerweile rate ihm sein Bruder Godson, der nach wie vor dort lebt und arbeitet, von Besuchen oder einer Rückkehr dringend ab – zu gefährlich, wenn man schon so lange von zu Hause weg ist und die Situationen, in die man gerät, nicht mehr einschätzen kann.
 
„Godson arbeitet als Oberarzt in einer Universitätsklinik in Mirebalais, im Norden des Landes“, sagt Rodolphe Jean-Louis. „Die Lage dort verschlechtert sich allerdings zusehends.“ Im vergangenen September wurde das Krankenhaus von bewaffneten Gangstern angegriffen, die wild um sich schossen. Verletzt oder getötet wurde glücklicherweise niemand. „Dramatisch ist, dass der Respekt vor medizinischen Einrichtungen und medizinischem Personal mehr und mehr verloren geht“, meint Rodolphe. Für die Menschen werde der Zugang zu Schutz und medizinischer Hilfe damit immer schwieriger.

Godson Jean-Louis will trotz der prekären Lage in Haiti bleiben. Die Brüder telefonieren viel. Natürlich sei Godson gefährdet, er kenne sich aber aus und wisse, wie er sich in gefährlichen Situationen verhalten müsse, sagt Rodolphe. „Er ist ein hervorragender Chirurg und sieht jeden Tag, dass die Menschen Hilfe brauchen. Deshalb sagt er, er könne nicht weggehen.“ Rodolphe bewundert seinen Bruder dafür.
 
Er selbst sieht seine Zukunft in Deutschland, will aber, sobald es die Sicherheitslage erlaubt, regelmäßig direkt vor Ort in Haiti medizinische Hilfe leisten. „Wir Haitianer sind von unserer Mentalität her sehr resilient. Wir haben immer noch die Hoffnung, dass es irgendwann irgendwie wieder besser wird“, sagt Rodolphe Jean-Louis.
Eine unglaubliche Lebensenergie und Überlebensresilienz bescheinigt auch Tankred Stöbe den Menschen in dem Karibikstaat. Schwer erträglich findet er aber, wie die Welt wegschaut und die Gewalt und das Sterben in Haiti hinnimmt. „Unser Appell geht an die internationale und die deutsche Politik: Vergesst Haiti nicht!“, betont Stöbe. Er ist überzeugt, dass dort nur durch internationales Eingreifen Verbesserungen erzielt werden können. „Der Glaube, sich raushalten zu können, ist eine Ignoranz, deren Folgen die Menschen in Haiti jeden Tag erleiden müssen.“