Aus dem Tagebuch einer Examensstudentin…
von Anja Kutsch

09:11 Uhr: Zum achtundachtzigsten Mal in Folge drücke ich dieses Jahr die schwerfällige Tür zur Medizinerbibliothek der Universität Köln auf. Der Countdown auf dem Handy zeigt mir: Noch 26 Tage bis zum Staatsexamen.
Seit Mitte Mai hat sich mein Studentenleben schlagartig geändert. Die fünf Jahre Medizinstudium sind unglaublich schnell verflogen und so fand ich mich im zehnten Semester wieder. Da ich das Studium in der Regelstudienzeit absolvieren konnte, steht mir nun am Ende des 10. Semesters das zweite Staatsexamen bevor. Es klingt nicht nur einschüchternd – das ist es auch. Es handelt sich dabei um DIE Prüfung, die jedem Medizinstudenten seit dem Physikum Albträume bereitet. Besteht man sie, ist man auf der sicheren Seite. (Hoffentlich!). Was einen dann noch von der Berufsbezeichnung „Arzt/Ärztin“ trennt, ist das Praktische Jahr und eine mündliche Prüfung.
Drei Tage, 300 Kreuze. Es klingt ganz simpel. Keine Bachelorarbeit, keine Masterarbeit, die einem wissenschaftliches Arbeiten abverlangen und nach mehrmaligen Korrekturen die Dozenten immer noch nicht zufriedenstellen. Doch seit mehreren Wochen, die ich lernend hier im 2. Stock der Bibliothek verbringe, beschleicht mich das ungute Gefühl, dass es vielleicht doch nicht ganz simpel ist; dass eine dreitägige Prüfungssituation ganz schön anstrengend ist und dass es gar nicht so leicht ist, die richtige von fünf Antwortmöglichkeiten zu wählen, wenn man vier davon nicht mal richtig aussprechen kann, geschweige die Erkrankung dahinter kennt. Vielleicht ist das System mit der Bachelor- und Masterarbeit doch die angenehmere Variante seine Abschlussprüfung zu absolvieren?
Im Laufe meiner monatelangen Lernphase habe ich allerdings festgestellt, dass es nichts bringt, mich selbst zu bemitleiden und Ideen nachzuhängen, wie ich das Medizinstudium reformieren würde. Jeder Gedanke, der mich abschweifen lässt, kann mir an diesen Tagen in der Bibliothek zum Verhängnis werden. Die Konzentrationsfähigkeit lässt nach drei Monaten täglichem Lernen zu wünschen übrig. Ich verliere andauernd den Faden, muss Sätze bis zu fünfzehn mal lesen bis mir überhaupt die Kernaussage bewusst wird. Ich entwickle dabei erstaunliche Fähigkeiten: Ich kann meinen Blick minutenlang in den graumelierten Socken des Kommilitonen verlieren, der zwei Tische weitersitzt. Von sozialen Medien auf dem Handy möchte ich gar nicht erst anfangen…
12:30 Uhr: Ein erlösender Blick auf die Uhr. Das Mittagessen in der Mensa oder Klinikcafeteria wird in diesen Tagen zelebriert wie nie zuvor. Auch wenn in den Semesterferien das Angebot auf zwei Gerichte reduziert ist - noch nie war es so lecker! Gemeinsam mit lernenden Freunden pilgert man tagtäglich über das Klinikgelände, klagt sein Leid (jeden Tag die gleichen Worte) und lässt sich die weichgekochten Nudeln schmecken. Der anschließende Kaffee im italienischen Café auf dem Gelände schmeckt wie auf einer römischen Piazza. Pures Glück! Aber wie jeder Urlaub, von dem wir im Moment nur träumen können, endet auch die Pause viel zu schnell, und ich sitzte wieder in der Bibliothek und starre apathisch auf CT-Schnittbilder nicht definierbarer Organe.
Die richtige Lerntaktik auszuwählen, ist mittlerweile nicht schwer. Während zu Beginn meines Studiums viele Examensstudenten mit dicken Büchern wie ALLEx, mediscript STaR oder Explan in der Bibliothek saßen, beschränkt sich mein Umfeld auf ein dünnes Notebook und ein Ladegerät fürs Handy (falls die etlichen Katzenvideos, den Akku geleert haben). Es gibt einige Online-Lernprogramme, die vorgefertigte Lernpläne für uns bereithalten. Diese decken zwar die meisten relevanten Themengebiete ab, sind dadurch allerdings so umfangreich und einschüchternd, dass manch einer vier bis fünf Monate vor dem Prüfungstag anfängt zu lernen. So fing auch ich schon am 22. Mai 2017 mit einem 100-Tage Lernplan an, um mir ein paar freie Tage und einen Puffer für Panikattacken zu genehmigen.
Am Anfang des Lernplans dominieren in den Auswertungen des Lernfortschritts und Kenntnisstands die roten Balken und Tortendiagramme, die einen auslachen und einem vor Augen führen wollen, dass man in den letzten fünf Jahren auch einfach hätte RTL II gucken können – dann wüsste man nämlich genauso viel wie jetzt. Doch das ändert sich natürlich im Verlauf der Lerntage. Ich lese die Hälfte des Tages systematisch Lernkarten zu Pathologien durch und kreuze die andere Hälfte des Tages Fragen aus vergangenen Examina. Obwohl auch dies wieder ganz simpel klingt, musste ich doch feststellen: Man muss sich die Dinge, die man liest, auch merken! Und das ist nicht leicht, wenn man versucht, sich an die relevanteste Nebenwirkung von Isoniazid zu erinnern, obwohl es ganze 83 Tage her ist, dass man sich damit beschäftigt hat.
Am 12.Oktober um 14:00 Uhr wird dies in jedem Fall ein Ende finden. In welchem geistigen Zustand Medizinstudenten in ganz Deutschland an diesem Tag sein werden, kann keiner vorhersagen. Ich denke, er wird irgendwo zwischen Hypomanie und quälenden Versagensängsten liegen. Obwohl das Prüfungsergebnis postalisch erst nach einigen Wochen zugestellt wird, besteht die Möglichkeit, online die 300 Fragen analog zur Prüfungssituation zu kreuzen und direkt zu erfahren, welche Punktezahl man damit erreicht hat.
16:50 Uhr: Mir wird klar, dass ich seit der Mittagspause völlig unproduktiv war. Man darf nie vergessen, dass auf jede üppige Mahlzeit in der Mensa ein träges Mittagstief folgt. Statt 60 Altfragen zu kreuzen, habe ich mitgezählt wie oft mein Tischnachbar zur Toilette gegangen ist ... auch eine Möglichkeit, die Lerntage mit Abwechslungsreichtum zu füllen.
Ich packe meine Sachen und nehme mir fest vor, die restlichen Themen und Fragen des heutigen Lerntags zu Hause zu bearbeiten. Selbstbetrug ist schließlich nicht strafbar. Und mir ein für alle Male zu merken, dass die Nebenwirkung von Isoniazid Neurotoxizität ist.