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Hilfe nach dem Beben

20.03.2023 Seite 20
RAE Ausgabe 4/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 4/2023

Seite 20

 
 
Anfang Februar bebte an der syrisch-türkischen Grenze die Erde. Rund 50.000 Menschen verloren unter den Trümmern ihr Leben, mehr als 111.000 Menschen wurden verletzt. Unmittelbar nach dem Beben rückte der Oberhausener Hausarzt Dr. Peter Kaup mit den Rettern von I.S.A.R. Germany nach Kırıkhan aus, um vor Ort zu helfen. 

von Marc Strohm

Schutt und Trümmer, so weit das Auge reicht – als Dr. Peter Kaup mit dem Search and Rescue Team von I.S.A.R. Germany in Kırıkhan eintrifft, bietet sich dem Hausarzt aus Oberhausen ein Bild der Verwüstung. Bereits auf der Fahrt vom Flughafen in Gaziantep in das eigentliche Erdbebengebiet sieht er zerstörte Gebäude, „wie bei einem schweren Bergbauschaden“, erinnert sich Kaup im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. In Kırıkhan selbst ist jedes zweite Haus komplett in sich zusammengefallen. Die unteren Etagen waren bei dem Erdbeben eingebrochen und die darüber liegenden Etagen hatten alles zermalmt. Von manchen Gebäuden sei so gut wie nichts mehr stehengeblieben; die einstigen Zimmerdecken der mehrstöckigen Häuser lagen mit einem Abstand von knapp dreißig bis fünfzig Zentimetern übereinander, so Kaup. Zwischen Trümmern und Schutt hatten die Menschen mit Holz und den wenigen brennbaren Materialien, die sie in den Trümmern finden konnten, Feuer entzündet, um sich zu wärmen. Denn es war bitterkalt. Der Bedarf an Hilfe ist immer noch riesig, sagt Kaup.
 

Unmittelbar nach der Ankunft habe das I.S.A.R. Germany Team mit der Rettung begonnen, denn die Zeit drängte. In der Regel können verschüttete Menschen um die hundert Stunden überleben, bevor sie verdursten, erklärt Kaup. Die Kolleginnen und Kollegen von I.S.A.R. Turkey hatten zu diesem Zeitpunkt bereits das Gebiet vorselektiert und Orte markiert, an denen sich Menschen unter den Trümmern bemerkbar gemacht hatten. Im ersten Schritt hätten die Hundeführer mit ihren Spürhunden die Trümmer sondiert. „Man muss wissen, dass die Hunde nur bei Lebenden anschlagen“, sagt Kaup. „Sobald die Hunde eine Person in den Trümmern gewittert haben, folgt eine technische Ortung und wir versuchen, mit dem Verschütteten Kontakt aufzunehmen.“ Meist machen sich diese durch Klopfzeichen oder Rufe bemerkbar, sodass die Retter ihre genaue Lage bestimmen können. Danach folgt die Bergung. Drei Lebendrettungen verliefen Kaup zufolge relativ unproblematisch, da die Personen in einem Hohlraum eingeschlossen waren und sich dort bewegen konnten. Als extrem schwierig gestaltete sich dagegen die Rettung einer Frau, die unter den Trümmern ihres Hauses verschüttet worden war. Die Retter konnten zwar Kontakt mit ihr aufnehmen, doch ihr Körper war unter dem Schutt begraben. Mit einer Infusionsleitung, die wie ein Strohhalm genutzt wurde, versorgten Kaup und sein Team die Frau mit Wasser. Über fünfzig Stunden lang dauerte der Rettungseinsatz, der Kaup bis heute nicht loslässt. „Die Mischung aus Trauer, Angst und Hoffnung war unglaublich“, sagt der Arzt. Zwar gelingt es dem I.S.A.R.-Team, die Frau aus den Trümmern zu befreien, sie stirbt aber nur wenig später im Krankenhaus. „Es ist wichtig, dass wir ihr ermöglicht haben, noch einmal ihre Familie wiederzusehen und dann in deren Armen zu sterben“, sagt Kaup.

Ein Auge auf das Team haben

Insgesamt ist es dem Team während des Einsatzes in der Türkei gelungen, vier Menschen lebend aus den Trümmern zu bergen. „Das ist außergewöhnlich“, meint Kaup. Normalerweise seien in derart komplexen Einsätzen wie diesem durchschnittlich ein oder zwei Rettungen möglich. Denn bei einem solchen Ausmaß an Zerstörung lägen über den Verschütteten häufig dicke Betonplatten, Möbel, Rohre, Rohrleitungen und Schutt, durch die sich die Helfer durcharbeiten müssten, um zum Beispiel auch eingeklemmte Extremitäten zu befreien. 
Kaup selbst übernahm als Arzt im Erdbebengebiet die medizinische Erstversorgung der Geretteten, bestimmte die Medikation, arbeitete mit den Rettungsdiensten vor Ort zusammen und begleitete einige Patienten mit ins Krankenhaus. „Das Search and Rescue Team ist die erste Hilfe vor Ort“, beschreibt der Hausarzt aus Oberhausen die Aufgabe von I.S.A.R. Und wie gehen die Retter mit solch traumatischen Erfahrungen um? Er habe zwar schreckliche Dinge gesehen, sagt Kaup. Doch wenn er auf den Trümmern stehe, habe er keine Zeit, sich über das Ausmaß der Katastrophe Gedanken zu machen. Er versuche dann, diejenigen Menschen zu retten, die eine Chance haben zu überleben. Als leitender Teamarzt gehöre es außerdem zu seinen Aufgaben, ein Auge auf das Team zu haben. „Ich achte darauf, dass sie physisch und psychisch gesund zurückkommen“, sagt Kaup. Entscheidend sei, dass sich das Team im Ernstfall hundertprozentig aufeinander verlassen könne. 

24 Stunden bis zum Einsatz vor Ort

Dass Kaup und die anderen ehrenamtlichen Retter des Search and Rescue Teams bereits rund 24 Stunden nach dem Erdbeben im Katastrophengebiet eintreffen und helfen konnten, verdanken sie der straffen Organisation von I.S.A.R. Germany. Sobald ein Land nach einer Katastrophe, wie der in der Türkei, ein internationales Hilfegesuch herausgibt, werden die Rettungsspezialisten von I.S.A.R. für einen Einsatz angefragt. Dabei vereinen unterschiedliche Professionen ihre Fähigkeiten. Je nach Einsatz werden Ärztinnen und Ärzte, Krankenpfleger, Intensivschwestern, Techniker und Rettungssanitäter, die zusätzlich auf das Bergen spezialisiert sind, benötigt. „Jeder der ausrückt, hat mindestens zehn Unterstützer in der Heimat, die einen Einsatz ermöglichen“, sagt Kaup. In seinem Fall versorgen die Kollegen in der Oberhausener Gemeinschaftspraxis seine Patienten für die Dauer des Einsatzes mit. Die freiwillige Feuerwehr in Duisburg übernimmt in der Regel den Transport von Team und Ausrüstung zum Flughafen. Häufig sei es schwierig, nach Katastrophen wie in der Türkei ein Transportflugzeug in die betroffene Region zu chartern. Um direkt helfen zu können und Wartezeiten zu vermeiden, fliegt das Team von I.S.A.R. stets im selben Flugzeug wie das Rettungsgut mit. Vor Ort werden die Einsätze dann unter UN-Mandat koordiniert, die den Helfern ein Einsatzgebiet und mögliche Kooperationspartner zuweist. In der Türkei arbeitete I.S.A.R. Germany mit dem Technischen Hilfswerk zusammen, einem langjährigen Kooperationspartner, betont Kaup. 
 

Das Team agiert komplett autark

Bei den Einsätzen vor Ort agiert das Team von I.S.A.R. Germany komplett autark. „Wir essen den Menschen kein Brot weg und trinken auch nicht deren Wasser, denn das ist im Katastrophengebiet Mangelware“, sagt Kaup. Neben der Verpflegung bringt das Team auch sämtliche benötigten Geräte selbst mit. Und so finden sich neben Medikamenten für die Erstversorgung, Bohrhämmer, Bohrmaschinen und Holzsägen zur Bergung im Gepäck der Retter. In der Türkei kam jetzt erstmals eine vom Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrum entwickelte Drohnenkamera zum Einsatz. Mit ihr konnten die Helfer von I.S.A.R. Germany das Erdbebengebiet aus der Luft erfassen, um herauszufinden, wo Gebäude eingestürzt und welche Straßen verschüttet waren. Das ermöglichte es ihnen, die Anfahrt ins Einsatzgebiet besser zu planen. Anders als bei Kaups letztem Einsatz auf Haiti, führte das Team dieses Mal weder ein Feldlazarett noch eine Wasseraufbereitungsanlage mit. Diese wurden in der Türkei nicht benötigt. Dennoch passte nicht die komplette Ausrüstung in das Transportflugzeug, weshalb Material zurückgelassen werden musste. Die Wahl fiel auf die Zeltheizung, berichtet Kaup. Für die Helfer bedeutete dies, dass sie vor Ort bei Minusgraden in voller Montur in den Zelten schliefen. „Falls es zu Nachbeben kommt, fällt uns da nur die Zeltstange auf den Kopf“, sagt Kaup. Zur Sicherheit schliefen die Retter stets mit einem Helm an ihrer Seite. Würde ein Teammitglied im Einsatz verletzt, könnten die Ärzte von I.S.A.R. für 48 Stunden eine intensivmedizinische Betreuung bis zur Evakuierung vornehmen, so Kaup.


Der Einsatz von I.S.A.R. Germany wurde am 14. Februar, rund sieben Tage nach dem Erdbeben beendet. „Erst wenn die Hunde nicht mehr anschlagen, gehen wir“, sagt Kaup. Zwar könne es auch nach den kritischen hundert Stunden noch Lebendrettungen geben, doch die Menschen, die dann geborgen würden, seien in der Regel in Hohlräumen eingeschlossen, wo sie auch Zugang zu Wasser und Nahrung hätten, wodurch sich ihre Überlebenschancen verbesserten. 


Nun rücken andere Hilfsorganisationen mit schwerem Gerät nach. Auch Kaups Kollegen von I.S.A.R. Turkey arbeiten weiter vor Ort. Für sie hat das Team von I.S.A.R. Germany seine Zelte und Verpflegung dagelassen. „Das Suchen und Retten ist beendet, aber nicht unsere Hilfe“, sagt Kaup.
 

I.S.A.R. Germany: Suchen, bergen, behandeln

I.S.A.R. (International Search and Rescue) Germany wurde 2003 in Duisburg gegründet und leistet – seit 2007 unter dem Dach der Vereinten Nationen – Hilfe nach humanitären Katastrophen, Unglücken und Naturkatastrophen. Die rund 170 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer haben sich dabei auf die Suche nach und Rettung von Erdbebenopfern, sowie die medizinische Versorgung der betroffenen Personen spezialisiert. 

Die Nichtregierungsorganisation finanziert sich aus Spenden: www.isar-germany.de/spenden
Spendenkonto: ISAR Germany Stiftung gGmbH, 
Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE25 3702 0500 0001 1825 00, 
Sparkasse Duisburg, IBAN: DE48 3505 0000 0200 2687 87.