Die Substitutionstherapie Opioidabhängiger stellt für behandelnde Ärztinnen und Ärzte einen erheblichen Mehraufwand dar, nicht nur weil Betroffene in der öffentlichen Wahrnehmung diversen Vorurteilen ausgesetzt sind. Wie gut Substitution funktionieren kann, wenn man gewisse Dinge beachtet und worauf Ärzte sich dabei einstellen müssen, zeigt ein Beispiel aus Nordrhein.
von Vassiliki Latrovali
In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Suchtmedizin in Deutschland zu einem wichtigen medizinischen Tätigkeitsfeld entwickelt. Knapp 80.000 opioidabhängige Patientinnen und Patienten erhalten bundesweit eine medikamentös unterstützte Suchttherapie. Sie werden von Ärztinnen und Ärzten sowie Psychologinnen und Psychologen betreut, die sich auf eine suchtmedizinische Versorgung spezialisiert haben. Die Behandlung Opioidabhängiger erfolgt mit gesetzes- und richtlinienkonform zu verordnenden Medikamenten. Die Therapie soll vor allem Komplikationen des illegalen Drogenkonsums wie Spritzenabszesse oder die Übertragung von Hepatitis C und B sowie von HIV vermeiden. Betroffene sollen außerdem langfristig zeitlich und finanziell entlastet, Prostitution und Beschaffungskriminalität sollen reduziert oder verhindert werden.
2004 hat die Ärztekammer Nordrhein eine Beratungskommission zur substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger eingerichtet. Die Kommission arbeitet in Anlehnung an die Richtlinien der Bundesärztekammer und kann von allen Kolleginnen und Kollegen bei Fragen und Problemen zur qualifizierten substitutionsgestützten Behandlung kontaktiert werden (https://www.aekno.de/aerzte/beratung/beratungskommission-substitutionsgestuetzte-behandlung-opioidabhaengiger).
Substitution im Praxisalltag
In Köln-Deutz substituiert Kommissionsmitglied Dr. Konrad Isernhagen gemeinsam mit zwei Kolleginnen und einem Kollegen rund 200 Patientinnen und Patienten. „Substitution lässt sich problemlos in den Praxisalltag integrieren, ich sehe da wirklich keine Schwierigkeiten. Schwerpunktpraxen müssen natürlich selbst geeignete Strukturen entwickeln“, sagt der Allgemeinmediziner. Es werde streng darauf geachtet, dass weder vor noch in der Praxis szeneartige Verhältnisse entstehen. Die Akzeptanz bei allen übrigen Patientinnen und Patienten sei sehr hoch. Die Angst vieler Ärztinnen und Ärzte davor, Patienten zu verlieren, wenn sie substituieren, sieht er als unbegründet an. „Die Deutzer Bürgerinnen und Bürger haben unsere Praxis toll aufgenommen. Wir haben keine Patienten verloren, ganz im Gegenteil. Viele kommen gerade deshalb, weil sie sehen, dass wir uns eben für alle Menschen einsetzen“, sagt Isernhagen. Unterstützt wird das Ärzteteam von einer Sozialpädagogin und einer speziell ausgebildeten Medizinischen Fachangestellten (MFA). „Ich kann jeder Substitutionspraxis empfehlen, eine MFA speziell für die Suchtmedizin zu schulen. Das erleichtert die Arbeit ungemein“, so der Hausarzt.
In der Therapie gehe es vor allem darum, den Gesundheitszustand der Betroffenen zu stabilisieren und langfristig zu verbessern. „Es soll eine greifbare Möglichkeit geboten werden, das eigene Leben in geordnete Bahnen bringen zu können. Deshalb ist es wichtig, auch die somatischen und psychischen Begleiterkrankungen zu behandeln“, betont Isernhagen.
Den erhöhten Dokumentationsaufwand sieht er gelassen: „Auch viele andere Krankheitsbilder erfordern eine aufwendige Dokumentation. Man kann sicherlich darüber diskutieren, wie wichtig all diese Formulare und Bögen im Endeffekt sind, aber man hat irgendwann eine gute Routine und arbeitet das ab.“ In den vergangenen Jahren habe sich zudem die rechtliche Lage der Suchtmedizin deutlich verbessert und berge für die substituierenden Ärztinnen und Ärzte keine Fallstricke mehr. „Diese Änderungen bedeuten in erster Linie Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte und somit eben auch mehr Versorgungssicherheit“, erklärt der Hausarzt.
Die Take-Home-Regelung
Wird eine opioidabhängige Person von den behandelnden Ärzten als stabil eingeschätzt, kann sie das Substitutionsmittel im Rahmen der Take-Home-Regelung für einen oder mehrere Tage mit nach Hause nehmen (maximal für 30 Tage). Das Rezept wird im Rahmen einer persönlichen Konsultation von den Ärzten ausgestellt. Auf diese Weise soll die Eigenverantwortung der Betroffenen gestärkt werden.
Sichtbezug – Einnahme unter Aufsicht
Beim Sichtbezug handelt es sich um die von Fachpersonal beaufsichtigte Einnahme des Substitutionsmittels, meist in einer Substitutionspraxis. Nach entsprechender Unterweisung kann der Sichtbezug auch in der Apotheke erfolgen. Patientinnen und Patienten haben allerdings keine freie Apothekenwahl. Für den Sichtbezug muss zwischen Arzt und Apotheker zwingend eine entsprechende vertraglich geregelte Vereinbarung getroffen werden. Apotheken sind jedoch grundsätzlich nicht zum Sichtbezug verpflichtet – es handelt sich hierbei um eine freiwillige pharmazeutische Dienstleistung.
Beikonsum
Während einer medikamentös unterstützten Suchttherapie kommt es häufig zum Konsum weiterer legaler oder illegaler Substanzen.
Rechtlicher Rahmen
„Das größte Problem der Substitution versteckt sich nunmehr tatsächlich im Dispensierrecht. Das zu substituierende Betäubungsmittel darf unter keinen Umständen von der Praxis herausgegeben werden. Patienten müssen das Substitut unmittelbar vor den Ärzten oder MFAs einnehmen. Mit einem sogenannten Take-Home-Rezept geht das auch über Apotheken, aber dazu müssen bestimmte Kriterien erfüllt werden“, ergänzt Dr. Jennifer Pfingsten von der KV Nordrhein (siehe Kasten).
Den rechtlichen Rahmen für die Substitution geben die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung, das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), die Richtlinie der Bundesärztekammer zur Substitution sowie die Methoden vertragsrechtlicher Versorgung (MVV) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vor. „Über diese Regelwerke werden für alle Bereiche der Suchtmedizin bestimmte Richtungen vorgegeben, beispielsweise die Überwachung des Betäubungsmittels, die generellen Rahmenbedingungen der Substitution, welche Voraussetzungen substituierende Ärztinnen und Ärzte erfüllen müssen, was im Vertretungsfall passiert oder auch wie genau das Substitut eingenommen werden kann und soll“, sagt Pfingsten. Die Richtlinie der Bundesärztekammer sei dabei sehr plakativ und praxisbezogen, während die MVV Abrechnungsfragen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung erläutere. Hierbei dürfe zum Beispiel nicht die Verminderung der Straffälligkeit das oberste Therapieziel sein, sondern die Behandlung der chronischen Suchterkrankung.
Die Regelungen in der Substitution wurden 2017/18 geändert. „Durch die Novellierung haben die Ärzte viele Sicherheiten erhalten, die es vorher nicht gab. Vor einigen Jahren galt die Abstinenz noch als oberstes Therapieziel. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen steht aber eindeutig fest, dass die Opioidabhängigkeit eine andauernde chronische Suchterkrankung darstellt, die einer lebenslangen Behandlung bedarf“, erklärt Pfingsten. Auch der sogenannte Beikonsum (siehe Kasten) werde durch die Änderungen akzeptiert. Dieser Punkt sei zuvor ein sehr heikles Thema für die behandelnden Ärzte gewesen.
Zukunft sichern
„Ich sehe an meinen Patientinnen und Patienten, dass die Substitution ein sehr erfolgreiches Therapiekonzept darstellt. Das ist keine Elendsverwaltung, wie viele meinen“, betont Hausarzt Isernhagen. „Wir konnten das Durchschnittsalter der Patienten in den vergangenen Jahrzehnten von 35 auf 55 erhöhen.“ Die Arbeit mache ihm Spaß, und er sei stolz auf das, was die Betroffenen und sein Team gemeinsam erreichen konnten. „Da ist alles mit dabei: Höhen, Tiefen, Freude und Traurigkeit, die man zusammen erlebt.“
Was Isernhagen gerne ändern würde, ist die anhaltende Stigmatisierung der opioidabhängigen Patientinnen und Patienten: „Das ist leider sehr häufig bei den fachärztlichen Kolleginnen und Kollegen der Fall. Wir erleben es zumindest dort öfter als, wie man vielleicht vermuten könnte, bei unseren konventionellen Patienten. Das macht die Sache mühevoll“, meint Isernhagen. „Wir müssen diese Vorurteile abbauen und Netzwerke schaffen, um eine noch bessere Therapie gewährleisten zu können“, sagt er. Vor allem bei Patienten, die eine psychiatrische Komorbidität aufwiesen, sei eine noch effizientere Kommunikation aller beteiligten niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte von Vorteil.
Doch die Zukunft der Suchtmedizin ist ungewiss. „Die Zahl der Substitutionsärzte nimmt ab, auch hier in der Großstadt“, sagt Isernhagen. „Eine Praxis kann nicht beliebig viele Patienten aufnehmen. Und die Kolleginnen und Kollegen, die substituieren, werden langsam älter, und von den Jüngeren wollen wenige an deren Stelle treten. Das Einzugsgebiet unserer Praxis reicht bis zu 60 Kilometer weit“, erläutert der Allgemeinmediziner. Außerhalb der städtischen Zentren sei es für Betroffene aktuell bereits sehr schwer, geeignete Praxen für eine Substitutionsbehandlung zu finden. Diese Situation werde sich, so Isernhagen, in ein paar Jahren noch deutlich verschärfen. „Sollte sich nichts ändern, wird sich der Substitutionsärztemangel auch auf die Zentren ausbreiten. Es ist schade, dass so wenige jüngere Ärztinnen und Ärzte nachrücken.“ Was sind die Gründe? Viele Studierende sagten, sie hätten während ihres Studiums von Sucht oder Substitution nicht viel gehört, meint Isernhagen. Optimistisch stimme ihn aber, dass die meisten Ärzte in Weiterbildung, die seine Praxis beschäftige und die den Praxisalltag dort miterlebten, sich dann auch für die Suchtmedizin entschieden. „Es handelt sich um ein spannendes und erfolgsversprechendes Fachgebiet“, sagt der Allgemeinarzt.
Anforderungsprofil für die Substitutionsbehandlung Opioidabhängiger*
- Der Verordnungsgeber hat die Bundesärztekammer (BÄK), gemäß § 5 Absatz 12 Satz 1 BtMVV beauftragt, auch die Qualifikation der substituierenden Ärztinnen und Ärzte zu definieren.
- Die BÄK hat eine „Mindestanforderung an eine suchttherapeutische Qualifikation“ festgeschrieben, die durch die Landesärztekammern festgelegt wird.
- Die Weiterbildungsordnung der Ärztekammer Nordrhein sieht dazu die Zusatzweiterbildung „Suchtmedizinische Grundversorgung“ vor. Sie erfordert eine Facharztanerkennung und die Teilnahme an einem 50-stündigen Kurs. Zusatzweiterbildungen sind allgemein mit einer mündlichen Prüfung abzuschließen.
- Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie und Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie erlangen die Qualifikation mit dem Facharzttitel und sind von der Zusatzweiterbildung befreit.
- Nicht nur für eine ambulante, auch für eine stationäre Substitutionsbehandlung ist eine suchttherapeutische Qualifikation (entweder die genannten Facharztbezeichnungen oder die Zusatzweiterbildung) erforderlich.
- Eine befristete Vertretung eines Substitutionsarztes können auch Ärzte ohne Suchtqualifikation übernehmen, solange der eigentlich substituierende Arzt für Rückfragen erreichbar ist.
- Außerhalb der Vertretungen können Ärztinnen und Ärzte ohne suchtmedizinische Qualifikation bis zu zehn Patienten substituieren, solange diese einmal im Quartal einem suchtmedizinisch qualifizierten Kollegen konsiliarisch vorgestellt werden.
- Bei vertragsärztlicher Substitution sind die suchtmedizinische Qualifikation, eine Vertretung oder eine Substitution von bis zu zehn Patienten ohne suchtmedizinische Zusatzweiterbildung formlos bei der Kassenärztlichen Vereinigung anzuzeigen.
* Zur Sicherstellung der Substitutionsbehandlung während der Corona-Pandemie wurden einige Voraussetzungen befristet verändert, meist wurden Vorgaben vereinfacht. Hier werden die allgemein gültigen Bedingungen aufgelistet.
Softskills substituierender Ärzte
- Fähigkeit zu Empathie bei gleichzeitiger therapeutischer Distanz und Souveränität
- Kooperationsbereitschaft mit anderen Therapeuten und Institutionen der Suchthilfe
- Räumliche Voraussetzungen müssen gegeben sein, ebenso die Sicherheit der Betäubungsmittel und ausreichend Laborkapazität
- Bereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Substitutionsbehandlung, gegebenenfalls auch durch Fort- und Weiterbildung
- denkbare Konflikte im Praxisumfeld erkennen und schnellstmöglich Lösungen ausarbeiten
Dr. Peter A. Arbter, Facharzt für Allgemeinmedizin und Mitglied der Beratungskommission substitutionsgestützte Behandlung Opioidabhängiger der Ärztekammer Nordrhein