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Zertifizierte Kasuistik "Patient mit Fieber, Durchfällen und retrosternalem Druckgefühl"

Weiterführende Informationen und Differentialdiagnostik zur Zertifizierten Kasuistik "Patient mit Fieber, Durchfällen und retrosternalem Druckgefühl"

 

von Tilo Schluppeck, Frank Lazar, Gottfried Feuchtgruber und Alexander Schöning

Inhaltsübersicht

Allgemein

Ursachen und Topographie von Retro- oder Parapharyngealphlegmonen/-abszessen

Klinik

Therapie

Literatur


Allgemein

In der vorliegenden Kasuistik handelt es sich bei dem Krankheitsbild des Patienten einer Retropharyngealphlegmone an deren Folgen er im Vollbild einer Sepsis akut verstarb.

Gemäß derAmerican College of Cest Physicians (ACCP)/ Society of Critical Care Medicine (SCCM) Konsensus-Konferenz werden nachfolgende Diagnosekriterien für die Sepsis, schwere Sepsis und den septischen Schock zusammengefasst (AWMF-online S2 – Leitlinie, Nr. 079/00; 2010)

I. Nachweis der Infektion

Diagnose einer Infektion über den mikrobiologischen Nachweis oder durch klinische Kriterien

II. Severe inflammatory host response (SIRS) (mind. 2 Kriterien)

  • Fieber (≥38°C) oder Hypothermie (≤36°C) bestätigt durch eine rektale oder intravasale oder –vesikale Messung
  • Tachykardie: Herzfrequenz ≥90 /min
  • Tachypnoe (Frequenz ≥20/min) o. Hyperventilation (PaCO2 ≤4.3 kPa/ ≤33 mmHg)
  • Leukozytose (≥12000/µl) oder Leukopenie (≤4000/µl) oder ≥10% unreife Neutrophile im Differentialblutbild

III. Akute Organdysfunktion (mind. 1 Kriterium)

  • Akute Enzephalopathie: eingeschränkte Vigilanz, Desorientiertheit, Unruhe, Delirium.
  • Relative oder absolute Thrombozytopenie: Abfall der Thrombozyten um mehr als 30% innerhalb von 24 Stunden oder Thrombozytenzahl ≤100.000/µl. Eine Thrombozytopenie durch eine akute Blutung oder durch immunologische Ursachen muss ausgeschlossen sein.
  • Arterielle Hypoxämie: PaO2 ≤10 kPa (≤75 mmHg) unter Raumluft oder ein PaO2/FiO2-Verhältnis von ≤33 kPa (≤250 mmHg) unter Sauerstoffapplikation. Eine manifeste Herz- oder Lungenerkrankung muss als Ursache der Hypoxämie ausgeschlossen sein.
  • Renale Dysfunktion: Eine Diurese von ≤0.5 ml/kg/h für wenigstens 2 Stunden trotz ausreichender Volumensubstitution und/oder ein Anstieg des Serumkreatinins > 2× oberhalb des lokal üblichen Referenzbereiches.
  • Metabolische Azidose: Base Excess ≤-5 mmol/l oder eine Laktatkonzentration > 1,5× oberhalb des lokal üblichen Referenzbereiches.

Die Sepsis ist definiert durch: Kriterien I und II,
Die schwere Sepsis ist definiert durch:Kriterien I, II und III

In der vorliegenden Kasuistik erfüllte der Patient mit den Kriterien I, II und III die Definition einer schweren Sepsis. Hierzu passte auch der zur Aufnahme des Patienten gemessene Procalcitoninwert von 60 ng/ml, der den Grenzwert von < 0,5 ng/ml deutlich überschritt. Im Serum ist eine schwere Sepsis ab einem Schwellenwert von 2,0 ng/ml hochwahrscheinlich. Laut oben zitierter Sepsis-Leitlinie sollte der Procalcitoninwert bei dem Verdacht auf eine Sepsis möglichst frühzeitig bestimmt werden, um rechtzeitig die Diagnose zu sichern. Da die Bestimmung des Procalcitoninwertes Zeit erfordert, sollte innerhalb von 30 Minuten bei Vorliegen der Verdachtsdiagnose einer Sepsis der Laktatwert gemessen werden. Ein Laktatwert >5 mmol/l ist hinweisend auf das Vorliegen einer Sepsis.

Cave: Bereits beim klinischen Verdacht auf eine Sepsis sollte umgehend eine kalkulierte antibiotische Therapie eingeleitet werden.
Um die Dauer einer antimikrobiellen Behandlung zu verkürzen, können Procalcitonin (PCT)-Verlaufsmessungen erwogen werden. 
Schnellstmöglich sollte auch noch vor der Antiobiotikatherapie mit der Abnahme von Blutkulturen begonnen werden.

Ursachen und Topographie von Retro- oder Parapharyngealphlegmonen/-abszessen

Bei einem Retro-/Parapharyngealabszess handelt es sich um eine Entzündung in einem präformierten Hohlraum. Im Spätstadium kommt es zur Infiltration der Muskulatur und somit zu einer Phlegmone der retropharyngealen Loge. Die retropharyngeale und parapharyngeale Logen sind  enge Spalträume, welche kranial bis zur Schädelbasis reichen und kaudal eine Ausbreitung ins hintere Mediastinum im Sinne einer Mediastinitis ermöglichen. Infektionen der retropharyngealen Loge sind selten. In statistischen Erhebungen wird die Inzidenz mit etwa 2 % der putriden Logeninfektionen im Bereich der Gesichtsregion angegeben. Am häufigsten werden die Infektionen der retro- oder oropharyngealen Logen durch Streptokokken hervorgerufen, gefolgt von anaeroben Bakterien der Bakteroidesgruppe (Ridder et al. 2010). Post mortem erhielten wir das Ergebnis des am Aufnahme- und Todestag durch den Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen gewonnenen Punktates des Patienten mit dem Befund ß-hämolysierender Streptokokken.

Die Letalität von absteigenden Retro-/Parapharyngealphlegmonen ist nach wie vor sehr hoch und insbesondere durch die sich entwickelnde Sepsis mit oder ohne Mediastinitis bedingt. Sie wird in der Literatur zwischen 45% und 90% angegeben (Estrera. AS et al. 1983, Freeman RK 2000). Häufige Ursachen sind nicht-odontogene Eintrittspforten der HNO-Region im Bereich der Tonsillenloge, der Nasennebenhöhlen und der pharyngealen Schleimhaut aber auch der Ösophagushinterwand (direkte Ursache der Mediastinitis).  Tonsillitiden, Pharyngi-tiden führen zu einem Abszess der seitlichen und dorsalen Logen des Pharynxschlauches. Kofaktoren der in den Weichgewebssepten schnell fortschreitenden, schrankenlosen Erregerausbreitung sind z.B.  Diabetes mellitus, reduzierte Abwehrlage bei vorausgegangenen Infektionskrankheiten sowie Erkrankungen des Immunsystems. HNO-ärztlicherseits können Abszesse um die Tonsillenloge herum, sogenannte Peritonsillarabszesse leichter erkannt werden, führen sie doch zu erheblichen Schmerzen und Schluckstörung durch die Tonsillitis selbst und sehr häufig auch zu einer Kieferklemme. Die Vorwölbung der Tonsille und das begleitende Uvulaödem sind meist gut zu erkennen. In der vorliegenden Kasuistik war die Inspektion des Rachens und der Mundhöhle allerdings unauffällig.

Als odontogene Ursachen kommen in der Regel fortgeleitete Infektionen aus dem Bereich der zweiten und dritten Molaren des Unterkiefers bzw. des dritten Molaren des Oberkiefers infrage. Diese treten zu etwa 50% vor und zu 50 % nach Zahnextraktionen auf. Aber auch hierauf fand sich bei dem geschilderten Patienten kein Hinweis.

Wie bereits oben aufgeführt sind absteigende Retro- bzw. Parapharyngealinfektionen gefürchtet, da sie entlang der prävertebralen Halsfaszie ohne anatomische Barriere Zugang zum Mediastinum finden können. Estrera und Mitarbeiter (1983) unterscheiden zwischen der deszendierenden nekrotisierenden Mediastinitis (DNM), die in oropharyngealen Halsinfinfektionen ihren Ursprung hat, und Halsinfektionen mit nekrotisierender Mediastinitis, die durch nicht-oropharyngeale/cervicale Infektionen z.B. des Ösophagus, der Lunge und Wirbelsäule hervorgerufen werden. Folgende Kriterien beweisen die Diagnose einer deszendierenden nekrotisierenden Mediastinitis (Estrera et al 1983):

  1. Klinische Zeichen einer schweren Infektion
  2. Typische radiologische Zeichen
  3. Evidenz einer nekrotisierenden mediastinalen Infektion belegt durch die Operation oder post-mortem
  4. Oropharyngeale oder cervikaler Ursprung der deszendierenden nekrotisierenden Mediastinitis

In der vorliegenden Kasuistik bestanden nur die Zeichen zu 1. Es fehlten Beweise zu  Punkt 2. Das Kriterium 3 konnte nicht beantwortet werden, da der Patient weder operiert noch obduziert wurde. Auch Punkt 4 kann in der vorliegenden Kasuistik nicht bejaht werden, da sich im Nativ-CT des Thorax keine Mediastinitis fand. Der Nativ-CT-Befund der HWS (wg. der Kreatininerhöhung konnte kein KM gegeben werden) zeigte jedoch deutliche Hinweise auf eine Retropharyngealphlemone des Patienten:

Diffuse Flüssigkeitseinlagerungen im Retropharyngealraum (Abbildung mit Pfeilen markiert). Der prävertebrale Weichteilschatten ist dadurch auf ca. 1,5 cm verbreitert. Nebenbefundlich partiell retropharyngealer Carotisverlauf rechts. Vermehrte und mäßig vergrößerte zervikale Lymphknoten.“

Parapharyngealphlegmonen oder -abszesse deszendieren zwar häufig entlang der prävertebralen Halsfaszie zum Mediastinum, aber auch ohne diesen zunächst lokalen Verlauf kann eine vital bedrohliche Sepsis - lymphogen oder hämatogen- eintreten. Dies war bei dem Patienten in der geschilderten Kasuistik eher der Fall.

Nativ-CT der HWS am 05.04.2012 um  10 Uhr 54:


Klinik

Das Krankheitsbild der Weichgewebsinfektionen der Pharynx- und Tonsillenregion ist insbesondere geprägt durch ein hoch akutes Krankheitsbild mit schlechtem Allgemeinzustand des Patienten, hohem Fieber bis 40°C und darüber, Atem- und Schluckstörungen, Otalgien mit Schwerhörigkeit (bei Tubenbelüftungsstörungen) und häufig eingeschränkter Mundöffnung (bei dem hier geschilderten Patienten war die Mundöffnung unbehindert). Im Blutbild zeigen sich eine Leukozytose und eine Linksverschiebung.  Bei der intraoralen Spiegelung erkennt man meist eine deutliche Rötung und Schwellung der dorsalen Mundhöhle und Pharynxregion. Der unauffällige Inspektionsbefund der Mundhöhle des Patienten in der vorliegenden Kasuistik  ist bei dem vorliegenden Befund nichts Ungewöhnliches. Parapharyngeale und retropharyngeale Infektionen breiten sich neben und hinter dem Pharynxschlauch tapetenartig aus und sind selbst mit dem Lupenlaryngoskop nicht immer eindeutig zu erkennen. Die Schichtbilddiagnostik nach erfolgter Lupenlaryngoskopie ist hier der wegweisende Schritt. Durch Lücken der Pharynxmuskulatur an den Durchtrittsstellen der Gefäße und sensiblen Nerven breitet sich die Infektion in den para- oder retropharyngealen Raum aus. Unklar bleibt in der vorliegenden Kasuistik die lokale Ursache der Infektion, einziger anamnestische Hinweis für dessen Vorliegen waren die Nackenschmerzen.

Hinsichtlich der Topographie der Logenbeteiligung liefert die Computertomographie wie oben dargestellt wertvolle Hinweise.   

Therapie

Die Therapie von Retro- oder Parapharyngealinfektionen sollte möglichst frühzeitig und bereits präoperativ mit einer intravenösen Antibiose (breites Erregerspektrum berücksichtigen!) beginnen und ggf. bei vorliegendem Erregernachweis anschließend spezifisch erfolgen. Noch vor der Antiobiotikatherapie sollte mit der Abnahme von Blutkulturen begonnen werden. Der Erregernachweis erfolgt entweder direkt durch die Punktion im Falle eines Abszesses oder im Rahmen der Logeneröffnung bzw. durch Abnahme von Blutkulturen.

Die intensivmedizinische Betreuung ist unumgänglich und muss möglichst frühzeitig erfolgen. Hierbei ist die schnelle Kreislauftherapie mit der intravenösen  Flüssigkeitsgabe von 2 l über 2 Stunden und Katecholaminen zu beachten. Angestrebt werden sollte eine ZVD von > 10 mmHg beim nicht beatmeten und > 14 mmHg beim beatmeten Patienten. Bei einem Hb < 7g/dl sind Bluttransfusionen erforderlich. Bei einer respiratorischen Insuffizienz ist die Intubation und Beatmung notwendig.

Während intraorale Abszesse der Tonsillarregion nahezu immer von intraoral gespalten und drainiert  werden, erfolgt die Inzision der Pharyngealregion zu etwa 90% von extraoral über die Kieferwinkelregion von lateral her. Die korrekte Therapie intraoraler Abszesse besteht in ihrer operativen Eröffnung und Drainage. Bei einem Tonsillarabszess ist unter Umständen die gleichzeitige Tonsillektomie, eine sogenannte „Tonsillektomie à chaud“ indiziert. Andernfalls sollte die Tonsillektomie zur Verhinderung eines Rezidivabszesses im Intervall erfolgen.

Im Falle der Komplikation einer Mediastinitis wird häufig über eine zerviko-laterale Mediastinotomie, nicht so häufig über die endoskopische Ösophagusinzision oder gar dorsale Thorakotomie therapiert.

In der vorliegenden Kasuistik wurde vor dem Hintergrund des sich rapide verschlechternden Allgemeinzustandes mit Ateminsuffizienz ein direkter Erregernachweis durch Punktion der retropharyngealen Loge über die Rachenhinterwand durchgeführt. Der Patient entwickelte eine disseminierte intravasale Koagulopathie (DIC) und blutete aus den Einstichstellen des zentralen Venenkatheters und des Zugangs zur arteriellen Blutdruckmessung. Die DIC ist gekennzeichnet durch einen Abfall des Quickwertes und des Fibrinogens sowie die Erhöhung der aPTT. Desweiteren zeigte sich ein Verbrauch der Thrombozyten. Die DIC wurde mit Heparingabe und FFP (fresh frozen plasma) therapiert.

Auf die operative Intervention wurde in Anbetracht des sich andeutenden letalen Ausgangs nach einer Diskussion mit den beteiligten Fachdisziplinen (internistische Intensivmedizin, Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, HNO-Konsil, Allegemeinchirurgie) verzichtet.

Der nachträglich eintreffende Befund ß-hämolysierender Streptokokken lässt die Vermutung auf eine entzündliche Genese im Bereich der Schleimhäute der Mund-Rachenregion zu.

Literatur

  • AWMF-online Leitlinien der Deutschen Sepsis-Gesellschaft und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin: Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge der Sepsis. (2010) S2 – Leitlinie, Nr. 079/001 Entwicklungsstufe: 2k
  • Estrera. AS, Landy MJ, Grisham JM, Sinn DP, Platt MR. Descending necrotising mediastinitis. Surgery, Gynecology & Obstetrics. 1983;157:545–552.
  • Ridder GJ, Maier W, Kinzer S, Teszler CB, Boedeker CC, Pfeiffer J. Descending necrotizing mediastinitis: contemporary trends in etiology, diagnosis, management, and outcome. Annals of Surgery. 2010;251(3):528–534.