Weiterführende Informationen und Differentialdiagnostik zur Zertifizierten Kasuistik: Eisenmangelanämie bei einem 50 Jahre alten Mann
Folge 84 der Reihe Zertifizierte Kasuistik
von Robert Hüneburg, Christian P. Strassburg und Jacob Nattermann
Erläuterung - Fallauflösung
In der vorliegenden Kasuistik handelt es sich um eine Eisenmangelanämie auf dem Boden eines Ileumkarzinoms mit dem Nachweis eines MSH2-Verlustes im Tumor.
Auch wenn sich in der Histologie lediglich höhergradige Dysplasien aber kein sicher maligner Befund nachweisbar waren, wurde bei klinisch-endoskopischem Verdacht und fehlender endoskopischer Therapierbarkeit die Indikation zur zeitnahen operativen Versorgung gestellt. Es erfolgte nach einem bis auf den Lokalbefund unauffälligem Staging mittels Computertomographie (Thorax und Abdomen) die chirurgische Vorstellung.
Zehn Tage nach der Diagnose erfolgte eine laparoskopische onkologische Resektion eines ca. 35 cm langen Jejunumsegments mit primärer Anastomose. Die Operation verlief komplikationslos, und der Patient wurde kardiopulmonal stabil auf die Normalstation verlegt.
Postoperativ wurde der Patient nach dem Fast-Track-Konzept behandelt. Bereits am ersten postoperativen Tag begann der Kostaufbau, und der Patient konnte frühzeitig mobilisiert werden. Die histologische Untersuchung bestätigte ein pT3, pN0 (0/10), cM0 Adenokarzinom des Jejunums, reseziert im Gesunden (R0). Aufgrund der hohen Mikrosatelliteninstabilität und dem Tumorstadium UICC II wurde eine engmaschige Nachsorge ohne adjuvante Chemotherapie empfohlen.
Es erfolgte anschließend nach entsprechender Aufklärung gemäß dem Gendiagnostikgesetz eine humangenetische Diagnostik bei einem MSH2-Verlust im Tumor. Es konnte eine pathogene Variante im MSH2-Gen festgestellt und somit die Diagnose eines Lynch-Syndroms gestellt werden. Eine entsprechende prädiktive Diagnostik für die erstgradig Verwandten wurde dem Betroffenen angeboten.
Im weiteren Verlauf sind Gastroskopien (alle 1 - 4 Jahre) sowie Koloskopien (alle 2 Jahre) geplant.
Es erfolgte die prädiktive Testung des 76 Jahre alten Vaters des Patienten mit auch dem Nachweis der pathogenen MSH2-Keimbahnvariante. Die letzte Koloskopie des Vaters war vor drei Jahren erfolgt. Bei der nun durchgeführten Koloskopie bei asymptomatischen Patienten wurde ein Sigmakarzinom (pT3, pN0, cM0; UICC IIa) diagnostiziert mit anschließender kurativer Operation.
Diagnostik und Vorsorge und Therapie bei Lynch-Syndrom -
Epidemiologie und Screening
Das Lynch-Syndrom, früher als HNPCC (Hereditäres nicht-polypöses Kolonkarzinom) bekannt, ist eine der häufigsten Form der erblichen Prädisposition für Krebserkrankungen. Schätzungen zufolge trägt etwa eine von 300 Personen in der Bevölkerung eine krankheitsverursachende Variante, die mit einem erhöhten Risiko für Tumorerkrankungen verbunden ist [1]. Somit sind in Deutschland ca. 300.000 Personen betroffen, von denen circa 5 Prozent bisher identifiziert sind. Betroffene haben nicht nur ein erhöhtes Risiko für Darmkrebs, sondern auch ein signifikant erhöhtes Risiko für andere Tumore, insbesondere im Magen-Darm-Trakt (Magen, Dünndarm, Pankreas, Gallengänge) sowie im Urogenitaltrakt (Gebärmutterschleimhaut, Eierstöcke, Harnleiter / Nierenbecken). Das Lynch-Syndrom wird durch krankheitsverursachende Varianten in den vier DNA-Reparaturgenen MLH1, MSH2, MSH6 und PMS2, die an der DNA-Reparatur (Mismatch-Repair/MMR) beteiligt sind, sowie durch Deletionen im hinteren Bereich des EPCAM-Gens, das neben dem MSH2-Gen liegt, verursacht. Die Tumorprädisposition wird autosomal-dominant vererbt, was bedeutet, dass bereits eine Mutation einer der beiden Genkopien genügt, um das erhöhte Risiko auszulösen. Somit tragen Kinder und Geschwister von Betroffenen die genetische Variante mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent [2].
Auswertungen der internationalen Prospektiven Lynch-Syndrom-Datenbank (www.PLSD.eu) der letzten Jahre haben gezeigt, dass sich das Tumorrisiko und das Erkrankungsalter je nach betroffenem Gen stark unterscheiden. Daher ist eine Anpassung der Früherkennungsmaßnahmen an das individuelle Risiko sinnvoll. Insgesamt haben Träger einer krankheitsverursachenden Variante in den Genen MLH1 oder MSH2 ein höheres Risiko für Krebserkrankungen und erkranken in jüngerem Alter im Vergleich zu Trägern einer pathogenen MSH6- oder PMS2-Variante [3].
Diagnostik
Tumorbiologisch führt der Verlust eines der genannten Mismatch-Reparatur-Gene zu Tumoren mit einer verminderten Expression des entsprechenden MMR-Proteins (dMMR), was eine hochgradige Mikrosatelliteninstabilität (MSI-high) zur Folge hat. Beim kolorektalen Karzinom (KRK) ist die dMMR/MSI-Konstellation in etwa 30 Prozent der Fälle auf das Lynch-Syndrom (LS) zurückzuführen. Umgekehrt weisen fast alle LS-assoziierten Tumore eine hohe Mikrosatelliteninstabilität auf. In der Vergangenheit erfolgte diese Diagnostik immer nur bei Erfüllung der Bethesda-Kriterien, die vor allem eine positive Familienanamnese und ein Erkrankungsalter < 50 Jahren berücksichtigten. Besonders Tumore, bei denen das MMR-Protein MLH1 reduziert ist, sind häufig sporadische Karzinome und somit nicht LS-assoziiert. Vor einer Keimbahndiagnostik sollte daher eine Untersuchung des Methylierungsstatus des MLH1-Promotors erfolgen, um zwischen sporadischen und potenziell erblichen Tumoren zu unterscheiden: Ein hypermethylierter MLH1-Promotor deutet auf ein sporadisches Karzinom hin. In solchen Fällen ist eine weitere Keimbahndiagnostik nicht notwendig. Der bei dem Patienten festgestellte Verlust von MSH2 im Tumor ist in seltensten Fällen somatisch bedingt.
Die neue S3-Leitlinie für kolorektale Karzinome (KRK) wird in Bezug auf den diagnostischen Algorithmus zu bedeutenden Änderungen in Deutschland führen und eine Anpassung an internationale Standards bewirken. Die Testung auf defiziente Mismatch-Reparatur (dMMR) beziehnungsweise Mikrosatelliteninstabilität (MSI) bei allen kolorektalen Karzinomen, unabhängig vom Tumorstadium, soll zukünftig bereits an der Biopsie, spätestens jedoch am chirurgischen Resektat, als Empfehlung eingeführt und als Qualitätsindikator überprüft werden. Dazu kommt noch, dass die MMR/MSI-Testung eine notwendige Voraussetzung für die Anerkennung als zertifiziertes Darmzentrum sein wird.
Vorsorge
Das Risiko, im Laufe des Lebens ein kolorektales Karzinom zu entwickeln, ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung erhöht. Somit ist eine qualitativ hochwertige Koloskopie unerlässlich. Dazu gehören der Einsatz von HD-TV-Endoskopen, eine ausreichende Visualisierung der gesamten Dickdarmschleimhaut und das Erreichen des Coecums. Allerdings kann die Koloskopie möglicherweise nicht alle kolorektalen Karzinome bei Lynch-Syndrom-Trägern verhindern [4]. Es wird vermutet, dass dies daran liegen könnte, dass sich ein kleiner Teil der Kolonkarzinome aus dMMR-Krypten entwickelt und damit die klassische Adenom-Karzinom-Sequenz umgeht [5]. Insbesondere bei MLH1-Anlageträgern wurde ein alternativer molekularpathologischer Entstehungsweg nachgewiesen. Dennoch zeigen die verfügbaren Daten, dass die Koloskopie eine Früherkennung von kolorektalen Karzinomen im kurativen Rahmen ermöglicht.
Studien zeigen, dass ein jährliches Vorsorgeintervall im Vergleich zu einem Intervall von 2 oder 3 Jahren weder die Häufigkeit von Kolonkarzinomen noch das Tumorstadium signifikant beeinflusst [6]. Daher wird ein Intervall von 2 Jahren empfohlen. Bei bestimmten Risikofaktoren wie männlichem Geschlecht, einem Alter über 40 Jahren, genetischen Varianten in MLH1 oder MSH2 oder einer früheren Krebserkrankung kann eine Verkürzung auf mindestens 12 Monate sinnvoll sein.
Der Beginn der koloskopischen Vorsorge sollte auf den jeweiligen genetischen Hintergrund abgestimmt werden. Träger einer pathogenen Variante in MLH1 oder MSH2/EPCAM haben ein erhöhtes Risiko und sollten daher zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr mit der Vorsorge beginnen. Das Risiko für ein kolorektales Karzinom vor dem 20. Lebensjahr ist sehr gering, und das allgemeine Risiko hängt stark vom jeweiligen Genotyp ab. So zeigte die prospektive Lynch-Syndrom Datenbank (PSLD) eine kumulative KRK-Inzidenz bis zum 70. Lebensjahr von
- 46 Prozent bei MLH1,
- 35 Prozent bei MSH2,
- 20 Prozent bei MSH6 und
- 0 Prozent bei PMS2 [3].
Somit kann, trotz der wenigen Daten, ein späterer Beginn der Vorsorge bei MSH6 und PMS2 empfohlen werden.
Die Frage, ob zusätzlich künstliche Intelligenz die Vorsorge verbessert, ist noch nicht geklärt. Der Effekt von künstlicher Intelligenz auf die Adenomdetektion bei Patienten mit Lynch-Syndrom wurde bisher in zwei Studien untersucht. So zeigte sich in einer Pilotstudie mit begrenzter Fallzahl eine nicht signifikante Steigerung der Adenomdetektionsrate [(26.1% [95% CI 14.3-41.1] vs. 36.0% [22.9-50.8]; p = 0.379)] [7]. In einer großen europäischen Studie zeigte sich kein Effekt der künstlichen Intelligenz auf die mittlere Anzahl der detektierten Adenome [0.64 im KI-Arm, 0.64 im Weisslicht-Arm] [8].
Das Lynch-Syndrom ist mit einem erhöhten Risiko für Karzinomerkrankungen des oberen Gastrointestinaltrakts, insbesondere Magen- und Dünndarmkrebs, verbunden. Die Inzidenzraten variieren jedoch je nach spezifischer pathogener Variante, die mit dem Lynch-Syndrom assoziiert ist. Zu den Risikofaktoren für Magenkrebs gehören männliches Geschlecht, höheres Alter und eine pathogene Variante in MLH1 oder MSH2 [9]. Weitere Risikofaktoren sind ein an Magenkrebs erkrankter Verwandter ersten Grades, asiatische Herkunft oder Migration aus Ländern mit hoher Magenkrebsinzidenz, chronische Autoimmungastritis, intestinale Metaplasie und Magenadenome. Das Risiko, vor dem 80. Lebensjahr an einem Dünndarmkarzinom zu erkranken, ist bei Trägern von MLH1- und MSH2/EPCAM-Varianten erhöht, während es bei Trägern einer MSH6-Variante leicht erhöht ist. Für PMS2 besteht kein erhöhtes Risiko für Dünndarmkarzinom. Anatomisch ist das Dünndarmkarzinom in mehr als der Hälfte der Fälle im Duodenum lokalisiert. Eine tiefere Diagnostik mittels Kapselendoskopie wurde in Studien untersucht, zeigte jedoch keinen Nutzen. Dies ist vergleichbar mit dem beschriebenen Fall, bei dem eine Kapselendoskopie die tumorbedingte Stenose nicht entdecken konnte. Daher werden Dünndarmkarzinome distal des Duodenums in der Regel nur durch Symptome der Betroffenen erkannt.
Medikamentöse Therapie
Neben der Bedeutung des MSI-/dMMR-Status für die Diagnostik des Lynch-Syndroms, sondern hat auch prognostische und prädiktive Bedeutung. Tumoren mit dMMR/MSI-high-Status weisen oft eine bessere Prognose auf und sprechen besonders gut auf Immuncheckpoint-Inhibitoren an. Dies ist insbesondere bei der Behandlung von kolorektalen Karzinomen von Bedeutung, da der MSI/dMMR-Status die Wahl der Therapie beeinflussen kann. So wurde der Einsatz der PD-1-Blockade als kurativen Ansatz bei Patienten mit lokal fortgeschrittenem, Mismatch-Reparatur-defizientem Rektumkarzinom untersucht, wobei fast alle der eingeschlossenen Patienten ein Lynch Syndrom hatten. Die Studie zeigte, dass eine PD-1-Blockade bei allen Patienten zu einem vollständigen Ansprechen führte, wodurch eine Operation oder eine zusätzliche Strahlen- und Chemotherapie vermieden werden konnte [10]. Ähnliche Therapieerfolge zeigten sich für das Kolonkarzinom, wo in einem neoadjuvanten Setting bei lokal fortgeschrittenem kolorektalen Karzinom und einem dMMR/MSI-high-Status eine doppelte Immuncheckpoint-Blockade erfolgte. Eine komplette histopathologische Remission zeigte sich in fast 70 Prozent der operierten Patienten [11].
Vor- / Nachsorge
Eine regelmäßige endoskopische und bildgebende Nachsorge sowie dann auch endoskopische Vorsorge ist bei Betroffenen mit einem hohen Karzinomrisiko unerlässlich. Im Verlauf zeigte sich bei dem Patienten auch wiederholt Adenome im Duodenum als auch im Kolon, die endoskopisch therapiert werden konnten. Eine Anbindung an Expertenzentrum ist wichtig, welche im Deutschen Konsortium Familiärer Darmkrebs (https://hnpcc.de/) organisiert sind.
Literatur
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