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Online gegen Angst und Depression?

18.03.2019 Seite 14
RAE Ausgabe 3/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 3/2019

Seite 14

  • Die Mischung macht es - Die Online-gestützte psychotherapeutische Intervention via Laptop kann für Menschen in einer leichten bis mittelschweren depressiven Episode, die sich initial nicht persönlich an einen Therapeuten wenden möchten, durchaus eine Hilfe sein. Experten befürworten allerdings eine Kombination von realer wie medienvermittelter Kommunikation zwischen Therapeut und Patient. © Ivan Kruk/fotolia
  • © Viktoriia/fotolia

Ein Experimentierfeld der Digitalisierung im Gesundheitswesen ist die internetgestützte Psychotherapie. Allerdings ist der Aufwand hoch, die Probandenzahl klein und die Finanzierung unsicher.

von Bülent Erdogan

Im März 1989 schlägt der Physiker und Informatiker Tim Berners-Lee seinem Arbeitgeber, dem europäischen Kernforschungszentrum CERN, vor, die auf Frankreich und die Schweiz verteilten Labore mittels eines sogenannten Hypertexts miteinander zu verknüpfen. Damit soll der wissenschaftliche Austausch zwischen den Standorten erleichtert werden. Mit weiteren Innovationen (der Seitenbeschreibungssprache HTML, dem Transferprotokoll „http“, der „URL“ und dem ersten Browser) ebnet Berners-Lee damit den Weg für das Internet, wie wir es heute kennen. Der Rest der Geschichte ist bekannt.

Dreißig Jahre später – allem Hin und Her rund um die elektronische Gesundheitskarte zum Trotz –  ist die Digitalisierung (oder was hierfür gehalten wird) auch im Gesundheitswesen eine Realität. So geht allein die Zahl der Apps, die sich mit (vermeintlichen) gesundheitlichen oder Wellness-Aspekten beschäftigen, in die Hunderttausende. Mit der Entscheidung des 121. Deutschen Ärztetags von Erfurt 2018, die ausschließliche Fernbehandlung per Kommunikationsmedium im Einzelfall zu erlauben (RÄ 7/2018, Seite 12-14: Ärztetag lockert Fernbehandlungsverbot), ist Beobachtern zufolge ein Paradigmenwechsel verbunden: Manchem gibt er Anlass zur Sorge um das Niveau der Versorgung, als aktuelles Beispiel sei die Fernkrankschreibung per App genannt – anderen wiederum geht er noch nicht weit genug.

In Modellprojekten jedenfalls werden die reale und die Online-Welt schon seit längerer Zeit miteinander verknüpft, wie auch auf einem Symposium des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) Anfang dieses Jahres deutlich wurde. Ein Beispiel ist das Programm „Net-Step“ am St. Alexius-/St. Josef-Krankenhaus in Neuss. Professor Dr. Dr. Ulrich Sprick, Chefarzt des Ambulanten Zentrums und stellvertretender Ärztliche Direktor der Klinik, erläuterte Beweggründe für das Konzept, das auf der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) basiert, die einzelnen Bestandteile und überraschende Erkenntnisse.

„Am Anfang dachte ich, das wird ein Programm für junge, internetaffine Männer sein“, sagte Sprick bei der Veranstaltung im Kölner Mediapark. Zwar hätten sich, im Vergleich mit anderen Therapieangeboten, viele Männer angemeldet, wie eine Evaluation gezeigt habe. Doch überwögen auch hier immer noch weibliche Teilnehmer (54 Prozent), das Durchschnittsalter liege bei 36 Jahren (Median: 38 Jahre; n=158).

Anmeldung online, Erstgespräch offline

Die Indikationsstellung erfolgt nach folgendem Schema: Nach der Online-Anmeldung kommt es zu einem ersten Gespräch zwischen Patient, Facharzt und Psychologischem Psychotherapeuten und einer testpsychologischen Untersuchung in Neuss. Ist das Setting für den Patienten geeignet, kann die Therapie mit gestellten Aufgaben online starten. Patient und Therapeut kommunizieren schriftlich miteinander, gegebenenfalls ist auch ein telefonischer Kontakt möglich. Sprick: „Das ist kein Programm zum Sparen, sondern der Aufwand ist initial schon hoch.“ Die Nachbesprechung erfolgt ebenfalls im persönlichen Gespräch. Die Dauer beträgt circa 15 Wochen.

Ausschlussgründe bei Net-Step sind Suizidalität, Unterschreitung von Kriterien, wie sie im Strukturierten Klinischen Interview (SKID) festgelegt sind, primär behandlungsrelevante komorbide psychische Störungen einschließlich Persönlichkeitsstörungen, Suchtmittel- und Medikamentenabusus, psychotisches oder dissoziatives Erleben oder der Umstand, dass sich der Interessent bereits in Therapie befindet. Die Patienten erhalten die Aufgaben vom jeweiligen Therapeuten. Es habe sich gezeigt, dass bei diesem Punkt eine hohe Adhärenz des Patienten zum Therapeuten bestehe und zum Beispiel Urlaubsvertretungen selten in Anspruch genommen werden, so Sprick.

Ursprungsgedanke sei gewesen, auch solche Menschen zu erreichen, die ihre Erkrankung als Stigma bewerten und sich daher im ersten Schritt nicht im persönlichen Kontakt offenbaren möchten, sagte Sprick. Herausgestellt hat sich ihm zufolge auf Patientenseite aber vor allem ein pragmatischer Ansatz: Für acht von zehn Teilnehmern war demnach der schnelle Zugang zu einer Therapie ohne lange Wartezeit entscheidend.

Das kommt. Das überrollt uns. Und wir brauchen hier klare Regeln.

„56 Prozent unserer Patienten hat Abitur oder Fachabitur“, ergänzte Sprick. 59 Prozent der Patienten sei schon mindestens einmal in psychologischer oder psychiatrischer Behandlung gewesen. Laut Evaluation gaben 84 Prozent der Befragten an, nach der Teilnahme von der Therapie zu profitieren; jeder vierte Patient setzte die psychotherapeutische Behandlung nach dem Ende der Internet-Intervention fort, davon allerdings niemand stationär.

Patientendaten würden nicht en bloc, sondern gestückelt auf mehreren Servern gespeichert, sagte der Mediziner. Die Kommunikation erfolge ausschließlich über den Klinikserver. Meta-Analysen zeigten, dass internet-geleitete konventionelle Verhaltenstherapien gegenüber herkömmlichen ambulanten Psychotherapien nicht schlechter abschnitten, so Sprick. Er sieht online-gestützte Verfahren, die weiterhin nicht regelhaft finanziert werden, immer nur als Ergänzung zum persönlichen Patientenkontakt (engl.: blended treatment) und nicht als einen Ersatz hierfür. Net-Step soll nun um multimediale Komponenten ergänzt werden. Ins Detail ging Sprick in Köln allerdings nicht.

Sprick kommt zu folgendem Fazit, was die Vor- und Nachteile des Konzepts angeht:

  • Geringere Wartezeit und früherer Interventionsbeginn
  • Flexiblerer Therapiezeitraum und -ort, da keine Live-Video-Sitzung
  • Ausgeprägte Offenheit der Patienten und Kontaktmöglichkeit mit anderweitig nicht erreichbaren Personen
  • Vereinfachte kollegiale Intervision
  • Nur begrenzte Einsetzbarkeit in Krisensituationen
  • Fehlen non-verbaler Signale im Vergleich zur Face-to-Face-Therapie und reduzierte Ausdrucksmöglichkeit von Emotionen aufgrund des Verzichts auf Live-Videos
  • Relevante technische Anforderungen für die Sicherung von Kommunikation und der Dokumentation gegen Hacker

Das Interesse an online-gestützter Therapie wachse, sagte auch Professor Dr. Wolfgang Gaebel, von 1992 bis 2016 Ärztlicher Direktor des LVR-Klinikums Düsseldorf und Gründungsdirektor des LVR-Instituts für Versorgungsforschung: „Das kommt. Das überrollt uns. Und wir brauchen hier klare Regeln. Es sind viele Fragen offen, aber es gibt interessante Ansätze.“

International, so Experten, werden internet-gestützte Therapie- oder Selbsthilfeangebote bereits seit etwa 20 Jahren erprobt und mit konventionellen Methoden verglichen. Studien zeigen durchaus die Potenziale auf, die in online-gestützter KVT stecken. Ein regelhafter und flächendeckender Einsatz, auch lediglich psychoedukativer Ratgeber, liegt allerdings noch in weiter Ferne, auch Rückschläge sind Teil der Entwicklung. So gibt es das bereits 2001 in Australien entwickelte Selbstedukationsprogramm Moodgym seit einem Update im Jahr 2017 nur noch in englischer und deutscher Sprache, Flämisch, Finnisch, Chinesisch und Norwegisch werden nicht mehr unterstützt. Die Zahl der Menschen, die sich seit 2001 bei Moodgym registriert haben, gibt der Entwickler mit einer Million an.

Bald drei Milliarden Smartphone-Nutzer

Einige Krankenkassen bieten ihren Mitgliedern Online-Therapieverfahren an, darunter die DAK mit Deprexis 24 (kostenpflichtiges CE-zertifiziertes Medizinprodukt, mit Push-Nachrichten via SMS; nicht an DAK-Mitgliedschaft gebunden) und die Barmer mit ProMind (ein Angebot, das sich nur an Barmer-Versicherte richtet). Sechs Monate betrage die durchschnittliche Zeit „bis zum tatsächlichen Beginn einer Psychotherapie“, so die DAK. Mit Angeboten wie diesen soll nach dem Willen der Kassenmanager also Wartezeit überbrückt werden. Erwähnt seien an dieser Stelle auch Programme, in denen Psychologen beziehungsweise Psychologische Psychotherapeuten (und einige wenige ärztliche) zum Einsatz kommen: Eine Einzelsitzung bei MindDoc kostet für Selbstzahler gemäß GOÄ (2,3-facher Steigerungssatz) 100,55 Euro, bei Selfapy können ab 26,90 Euro im Monat unterschiedliche „Pakete“ gebucht werden, ab 119,90 Euro monatlich ist ein wöchentliches Telefonat mit einem Psychologen über 40 Minuten inklusive. Die Anbieter werben damit, dass einzelne Versicherer die Kosten übernehmen.

Net-Step ist, insbesondere mit Blick auf das schriftliche Feedback zwischen Therapeut und Patient, auf den Desktoprechner oder das Laptop ausgerichtet. Auch Moodgym, das vom AOK-System unterstützt wird, setzt auf die Eingabe von durchaus größeren Textmengen, eine Tastatur und ein großer Bildschirm können da nicht schaden. Doch wer an Digitalisierung denkt, der hat üblicherweise ein Smartphone im Kopf. Für 2020 wird erwartet, dass drei Milliarden Menschen über einen solchen „Hosentaschenrechner“ verfügen werden.

In der Fachzeitschrift World Psychiatry haben sich Wissenschaftler, Mediziner und Entwickler kürzlich für Mindeststandards ausgesprochen, denen die üblicherweise auf diesen Computern verwendeten Programme, die wir als Apps kennen, gerecht werden sollen: Im Fokus stehen dabei die Aspekte Datensicherheit und -hoheit sowie Privatsphäre, die Effektivität, die Nutzerfreundlichkeit und -adhärenz  sowie der Austausch und die Integration von Informationen (World Psychiatry 18.1, Februar 2019, S. 97f / DOI: 10.1002/wps.20592).

Ist der Gemeinsame Bundesausschuss schnell genug für App und Co?

Aber lassen sich die Anforderungen an Wissenschaftlichkeit, das Bedürfnis von Patienten und Therapeuten an niedrigschwellig zugängliche und gut in den übrigen Praxisalltag integrierbare Lösungen und der Aufwand für Programmierung und Nutzerführung solcher Anwendungen in Einklang bringen mit den Bestimmungen des GKV-Leistungsrechts? Wer investiert in eine Therapieform, wenn erst viele Jahre später ein signifikanter Return on invest erwartbar ist? Denn ehe eine ärztliche oder psychologische psychotherapeutische Behandlungsform allgemeine Kassenleistung werden kann, muss sie vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) anerkannt werden. „Für Psychotherapieverfahren gilt jedoch eine Besonderheit: Es muss nicht nur der Nutzen durch methodisch gute Studien nachgewiesen sein, sondern die Nutzennachweise müssen auch mehrere Anwendungsbereiche der ambulanten Psychotherapie abdecken (insbesondere Depressionen und Angststörungen sowie mindestens einen weiteren Anwendungsbereich)“, heißt es dazu beim G-BA.

Manch ein Skeptiker allzu euphorischer digitaler Heilsversprechen wird da einwenden: Wie gut, dass es in der Zwischenzeit noch eine reale Welt gibt.

Im Einzelfall auch medial

Die Kammerversammlung der nordrheinischen Ärzteschaft hat sich im November 2018 für eine Lockerung der Regelungen zur ausschließlichen Fernbehandlung ausgesprochen. Vorbehaltlich der Zustimmung durch das Landesgesundheitsminis-terium wird §7 Abs. 4 Berufsordnung für die nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte wie folgt lauten:
„Ärztinnen und Ärzte beraten und behandeln Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt. Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen. Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.“