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Was ältere Patienten wirklich brauchen

18.03.2019 Seite 25
RAE Ausgabe 3/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 3/2019

Seite 25

KVNO-Vize Dr. Carsten König, Geriater Thomas Hermens, KVNO-Vorstandsvorsitzender Dr. Frank Bergmann, Hausärztin Dr. Viola Lenz und Dr. Burkhard John, Vorsitzender der KV Sachsen-Anhalt (v.l.n.r.), wollen die Versorgung älterer Patienten verbessern. © KV Nordrhein/Möhl

Um Strategien für eine gute Versorgung der stetig wachsenden Zahl an älteren Patientinnen und Patienten ging es auf einer Fachveranstaltung der KV Nordrhein am 6. Februar. Referenten und Zuhörer waren sich einig: Es braucht einen neuen, interdisziplinären Ansatz zum Aufbau einer adäquaten Komplexversorgung älterer Patienten. Der Weg dahin ist weit.

von Heiko Schmitz *

 Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will qua Gesetz dem immer größeren Mangel an Pflegepersonal begegnen. Ein Schritt in die richtige Richtung, „aber ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagte Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der KV Nordrhein. Die Zahl der Pflegebedürftigen in Nordrhein-Westfalen hat zwischen 2009 und 2017 um 51 Prozent zugenommen, die Anzahl der „Hochbetagten“ über 80 Jahre wird sich in den kommenden 40 Jahren verdoppeln. „Wir werden nach Angaben des Robert Koch-Instituts hunderttausende zusätzlicher Pflegekräfte brauchen“ – und Ärztinnen und Ärzte, die ältere Menschen adäquat versorgen. Dazu braucht es laut Bergmann die 5.500 „geriatrisch tätigen Hausärzte“ in Nordrhein sowie Fachärzte mit „guter geriatrischer Kompetenz“. Aber eben auch Experten mit spezifischen Kenntnissen, Netzwerke und den Willen zu Kooperation und Delegation.

„Wir müssen uns mehr in ältere Menschen hineindenken“, mahnte Hausarzt Dr. Carsten König, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KV Nordrhein. Er unternahm zu Beginn eine Zeitreise: „Mein Großvater ist vor 50 Jahren kurz nach seinem Renteneintritt verstorben – an Erkrankungen, die heute Menschen haben, die 20 Jahre älter sind als er damals. Wir haben bei gleichen Diagnosen eine viel höhere Lebenserwartung“, sagte König – eine Entwicklung, die neue Anforderungen mit sich bringt.  

Wie man darauf reagieren kann, zeigte Hausarzt Dr. Burkhard John, Vorstandsvorsitzender der KV Sachsen-Anhalt, am Beispiel des „Zentrums für geriatrische Komplexbehandlung“ in Schönebeck bei Magdeburg. „Wir haben in der Fläche eine kontinuierliche geriatrische Grundversorgung durch die Hausärzte“, sagte John. „Aber wir haben es mit einer neuen Struktur älterer Patienten zu tun, die multimorbide und im Alltag eingeschränkt sind – da brauchen wir Multiprofessionalität in Reichweite der Patienten.“ 1999 startete das Modellprojekt „AGR Senioren-Rehakomplex“, in dem Patienten eine bis zu 20 Tage dauernde geriatrische Komplexbehandlung erhalten. „Wir wollen die Alltagskompetenz stärken. Die Menschen sollen weiter zuhause leben und in ihrem sozialen Umfeld bleiben können. Dazu müssen sie mobil bleiben.“ Weitere Ziele seien die Reduzierung  der Pflegebedürftigkeit, der Zahl der Krankenhausaufenthalte und der Medikamente. „Das braucht Teamarbeit“, betonte John – eine für viele Ärztinnen und Ärzte „neue Situation“. John rechnete vor, dass es 1.200 solcher Einrichtungen in Deutschland bräuchte. Auf Basis der Kosten im Modellprojekt wären zur Finanzierung 600 Millionen Euro im Jahr nötig. „Ein relativ kleiner Betrag, der viel bewirken könnte.“

Hausarzt Thomas Hermens aus Wesel traf eine ebenso einfache wie wichtige Feststellung: „Ich brauche Zeit, um meine Patienten zu behandeln.“ Eine wichtige Rolle spielt für Hermens das geriatrische Assessment inklusive einer Selbsteinschätzung der Patienten, bei der auch die soziale Situation und Medikamente eine wichtige Rolle spielen.“

Die in den vergangenen Jahren eingeführten geriatrischen EBM-Ziffern hätten zumindest dafür gesorgt, dass das Thema bei allen Haus- und Fachärzten angekommen ist. „Geriatrie ist mehr als die Betreuung von Menschen in Pflegeheimen.“ Hermens Wunsch: ein systematischer „Gesundheitscheck 75plus“.

Dr. Viola Lenz, Gründerin des ersten geriatrischen Qualitätszirkels in Düsseldorf, berichtete über das Thema Sturzprävention beziehungsweise die Folgen von Stürzen, die häufig unterschätzt würden, gerade im psychosozialen Bereich. „Es gibt eine hohe Dunkelziffer und ein enormes Risiko für den Verlust an Selbstständigkeit“, sagte Lenz. Die oft im häuslichen Umfeld gestürzten Patienten hätten ein 70-prozentiges Risiko, binnen eines Jahres erneut zu fallen.

Neurologe Dr. Uwe Meier plädierte für Interdisziplinarität – es sei nicht die Frage, wem der Patient „gehöre“. Da die Hälfte bis zwei Drittel der älteren Patienten jedoch neurologische Diagnosen wie Demenz aufwiesen, seien jedoch Kooperation gefragt. Die bundesweit rund 7.000 Neurologen könnten den Behandlungsbedarf nicht decken. „Ein Demenz-Patient sollte aber zumindest einmal den Neurologen gesehen haben“, sagte Meier. Er warb dafür, einen Teil der Mittel für die stationäre Versorgung in die ambulante Versorgung zu stecken. „Mit einer Pauschale von 50 Euro pro Quartal wird es immer Grenzen der Betreuung geben, die gerade älteren Patienten nicht gerecht werden.“

Wie sich mit begrenzten Ressourcen Fortschritte erzielen lassen, zeigte der Verweis auf das NPPV-Projekt der KV Nordrhein zur strukturierten neurologisch-psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung von akut erkrankten Patienten. Der Schlüssel für eine bessere Versorgung sind Netzwerke, Bezugsärzte- und therapeuten sowie zusätzliche Mittel für die intensivere Betreuung.

* Dr. Heiko Schmitz leitet den Bereich Presse und Medien der KV Nordrhein.