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Finde den roten Patienten

20.11.2019 Seite 12
RAE Ausgabe 12/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 12/2019

Seite 12

Massenanfälle von Verletzten stellen Rettungskräfte und (Not-)Ärzte sowohl mit Blick auf die Kapazitäten als auch auf die mentale Belastung häufig vor große Herausforderungen. „Taktische Medizin“ kann dazu beitragen, im Fall eines Unglücks oder eines Anschlages möglichst viele Leben zu retten und Ordnung und Struktur so früh wie möglich wiederherzustellen, wie auf einer Veranstaltung in Remscheid deutlich wurde.

von Bülent Erdogan

Donnerstag, 8. Dezember 1988: Vom Fliegerhorst Nörvenich westlich von Köln machen sich zwei Kampfflugzeuge der US Air Force zu einem Übungsflug gen Osten auf. Sie überqueren den Rhein und nähern sich mit einer Geschwindigkeit von circa 500 Stundenkilometern kurz darauf Remscheid­Hasten. Dort geraten die Flieger in dichten Nebel. Einem Piloten gelingt die sichere Passage, doch der andere stürzt mit seinem Erdkampfflugzeug A-10 Thunderbolt in eine Häuserzeile und löst ein Inferno aus. Mit ihm sterben weitere sechs Menschen, 50 Menschen werden teils schwer verletzt. Den eintreffenden Rettungskräften und Ärzten bietet sich ein Bild der Verwüstung.

Dirk Wagemann ist damals 30 Jahre jung und studiert in Köln Humanmedizin. Zehn Jahre nach dem Unglück macht er seinen Facharzt als Anästhesist und versorgt als Notarzt im Bergischen Menschen in lebensbedrohlichen Lagen. Heute ist Wagemann Leitender Oberarzt am Sana­Klinikum Remscheid. Viel habe sich seitdem in der ärztlichen Analyse sogenannter Massenanfälle von Verletzten (MANV, siehe auch die DIN-Norm 13050) getan, sagt er Ende Oktober bei einer Fortbildungsveranstaltung in der Klosterkirche Remscheid­Lennep. So sei die „Triage“ als aus der Militärmedizin stammendes Konzept zur Priorisierung begrenzter medizinischer Kapazitäten noch Ende der 1980er-Jahre durchaus kritisch gesehen worden, weil mit ihr durch ärztliches Handeln letztlich die Führung von Kriegen unterstützt würde, erinnert sich Wagemann an Debatten aus seiner Studienzeit.

Zu der Veranstaltung im Minoritensaal der Klosterkirche eingeladen hatten die Kreisstellen Remscheid, Solingen, Wuppertal, Mettmann und Oberbergischer Kreis der Ärztekammer Nordrhein.  Etwa 60 Ärztinnen und Ärzte informieren sich über aktuelle Versorgungskonzepte bei Unfällen, Katastrophen,  Terroranschlägen oder Amokläufen mit Verletzten in höherer zweistelliger oder gar dreistelliger Zahl, die richtige Einsatztaktik von Rettungskräften und Notärzten und die Einbeziehung ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzten zum Beispiel zur Entlastung von Krankenhäusern.

„Als Ärzte sind wir es gewöhnt, uns um den einen Patienten zu kümmern“, sagt Wagemann. Doch bereits bei einer Not-Sectio gehe es darum, die Bedürfnisse von Mutter und Kind miteinander in Einklang zu bringen. Komme es zu einem MANV, beschritten Mediziner einen „schmalen Grat“ und müssten entscheiden, wem sie welche Hilfe zuerst leisten. Dazu komme, so Wagemann: „Der erste Arzt am Einsatzort muss bis zum Eintreffen des Leitenden Notarztes die medizinische Organisation übernehmen.“

 

Nicht am ersten Opfer halt zu machen und die eigenen Kapazitäten damit sofort zu binden, sondern sich zunächst einen provisorischen Überblick über die Gesamtlage zu verschaffen – das gehört auch für Malte Pütz zu den bedeutendsten Eigenschaften, die ein als erstes eintreffender (Not-)Arzt idealerweise mitbringt. Pütz ist Rettungsingenieur und Dozent der Landesschule Nordrhein des Deutschen Roten Kreuzes. Ziel des Rettungseinsatzes sollte mit Blick auf die Versorgung der Verletzten sein, zuerst die „roten Patienten zu finden“ – also jene Verletzten, die ohne ärztliche oder rettungsdienstliche Hilfe zu versterben drohen, erstversorgt aber realistische Chancen auf ein Überleben haben.

In der Tat hat sich für den ersten Kontakt von Rettungskräften mit Großschadenlagen als eine orientierende Leitidee etabliert, die Erstversorgung erst nach einer initialen Sichtung (Vorsichtung durch Rettungskräfte, Sichtung durch Ärzte) vorzunehmen. Allerdings gab es an dieser taktischen Einsatzorientierung immer wieder auch Kritik von Rettungskräften, wie Pütz in Remscheid berichtet: „Da liegen an einem Ort also viele Verletzte. Und das erste, was ich tun soll, ist, noch nicht zu helfen? Also der Taktik den Vorrang vor individueller Hilfe zu geben?“ Daher verständigten sich Experten auf einer sogenannten Konsensuskonferenz (KK) beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe auf drei lebensrettende Sofortmaßnahmen, die Rettungskräfte nach der allerersten Einschätzung auch in der Phase der Vorsichtung bei Bedarf nach eigenem Ermessen anwenden können sollen: Freihaltung der Atemwege, Stopp von Blutungen und eine stabile Lagerung.

Im Jahr 2012 einigte sich die KK auf folgende Kategorien (siehe auch Bild):

  • Rot (Vital bedroht/Sofort behandeln),
  • Gelb (Schwerverletzt oder erkrankt/Dringlich behandeln),
  • Grün (Leicht verletzt oder erkrankt/nicht-dringlicher Behandlungsfall) und
  • Blau (Palliative Versorgung).

Der Vermerk „TP“ auf einer roten Karte kennzeichnet eine „hohe Transportpriorität“. Ein „B“ auf einer weißen Karte bedeutet, dass der Patient nach Sichtung durch einen Arzt als unverletzt und ausschließlich als betroffen zu werten ist.

Pütz stellt anhand einer Reihe von Einsatzberichten eindrückliche Details zu terroristischen Angriffen wie jene in Paris im November 2015, in München im Juli und in Berlin im Dezember 2016 und zu Unglücken vor: So habe sich in Paris als dominierender Aspekt die dynamische Lage über einen langen Zeitraum und mit immer neuen Einsatzorten erwiesen, gepaart mit einer extremen Gefährdungs- und Überforderungssituation. Einer der Terroristen sei minutenlang reanimiert worden, erst dann habe man den Sprengstoffgürtel an ihm bemerkt. In München hätten Retter miterleben müssen, wie Eltern eines von einem Einzeltäter in einem Schnellrestaurant erschossenen jugendlichen Opfers auf dem Handy anriefen. In der Bundeshauptstadt seien die Retter, lange Zeit im Glauben, es mit einem normalen Verkehrsunfall zu tun zu haben, in gewisser Weise „zu früh“ am Adventsmarkt am Breitscheidplatz angekommen. Damit seien sie in der „Sterbephase“ jener Menschen eingetroffen, die wahrscheinlich auch bei sofort erfolgter ärztlicher Versorgung verstorben wären. Das Eröffnungsstichwort für den Absturz eines Schwebebahnzuges in Wuppertal im April 1999 habe „Chirurgisch 2“ gelautet, „weil es das Szenario ‚Absturz einer Schwebebahn‘ gar nicht gab“, so Pütz.

Auf der Fortbildung stellt Pütz verschiedene Algorithmen für die Kategorisierung der Behandlungsdringlichkeit vor. Sie können eine gute Orientierung geben und das mentale Rüstzeug, im Ernstfall als Retter mit einem „Plan“ in die zu erwartende belastende Situation einzutreten. Letztgültige Antworten auf Großschadensereignisse halten Konzepte hinter Akronymen wie PEST, PRIOR, MARCH, cABCDE oder STaRT aber nicht bereit.„Katastrophenmedizin bedeutet, mit so vielen Menschen wie möglich aus einer Katastrophe herauszugehen, nicht mit allen. Das muss uns bewusst sein“, sagt Pütz. Hierzu gehöre initial, zuerst zu behandeln, was als erstes tödlich wirkt, und im weiteren Verlauf die Patienten in die richtigen Kliniken zu transportieren, um weitere Verlegungen zu vermeiden. Dabei müsse auch vermieden werden, die in Anspruch genommenen Krankenhäuser zu überfordern.

„Wir werden sicher nicht auf alle Szenarien vorbereitet sein können“, sagt Dr. Björn Kentemich, in Remscheid niedergelassener Internist und seit 1999 Leitender Notarzt (LNA) im Oberbergischen Kreis. Es sei aber wichtig, sich ein Bild davon zu machen, welche Ressourcen man in der Region vorhalten könne, und das sowohl mit Blick auf die Prä-Klinik als auch die spätere stationäre Versorgung. Ereignisse, die in Metropolen oder metropolnahen Regionen eventuell noch beherrschbar seien, könnten auf dem Land zu einer Überforderung führen, so Kentemich. Einsatzszenarien wie Terroranschläge könnten auch dann zu einem Thema werden, wenn sie nicht die eigene Stadt treffen, sondern Nachbarkommunen wie Köln oder Düsseldorf. „Dann müssen wir damit rechnen, dass auch unsere Hilfe angefordert wird.“

Ein weißer Fleck, und das nicht nur im Oberbergischen, ist nach Ansicht von Kentemich die strukturierte Einbindung ambulant tätiger Kollegen zur Entlastung der Kliniken, insbesondere von Anästhesisten oder Orthopäden und Unfallchirurgen, als sogenannte Ärztliche Unterstützungsgruppen (ÄUG). Allerdings, so Kentemich, stelle sich bereits die Frage, wer die Telefonliste für die Alarmierung der Kollegen auf dem aktuellen Stand halten solle, wenn sich Handynummern mit jedem Anbieterwechsel ändern können.