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Praxis

Große Last auf schmalen Schultern: Pflegende Kinder und Jugendliche

20.11.2019 Seite 19
RAE Ausgabe 12/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 12/2019

Seite 19

Gastgeber des 9. Oberhausener Ärztetages: Dr. Peter Kaup, Vorsitzender der Kreisstelle Oberhausen. © Andreas Köhring
Etwa 96.000 Minderjährige in Nordrhein-Westfalen pflegen Eltern mit einer chronischen körperlichen Erkrankung. Die Oberhausener Ärzteschaft widmete den inzwischen 9. Ärztetag dieser noch weitgehend unbekannten Thematik.

von Bülent Erdogan

„Große Last auf schmalen Schultern. Pflegende Kinder und Jugendliche“ – der Themenvorschlag für den Hauptvortrag des kürzlich veranstalteten 9. Oberhausener Ärztetages empfand Dr. Peter Kaup, Vorsitzender der Kreisstelle Oberhausen, erst einmal als harte Nuss. Dass die Mitgliederversammlung mit dieser Schlagzeile aufmachte, sei dann aber in gewisser Weise logisch gewesen, so Kaup. Doch der Reihe nach: Irgendwann 2019 hatte ein Mitglied im Vorstand der Oberhausener Ärztekammer vorgeschlagen, die mentale und körperliche Situation von Minderjährigen in den Fokus zu rücken, die sich um einen chronisch körperlich erkrankten Elternteil „kümmern“, wie viele dieser Kinder in Verkennung der (in vieler Hinsicht überfordernden) Dimension ihrer Leistungen selbst sagen.

„Das Thema hat uns sofort elektrisiert. Zuerst haben wir also bei Kinder- und Jugendpsychiatern und -psychologen nachgefragt. Doch dort waren solche Patienten unbekannt. Im ersten Moment haben wir dann im Vorstand gedacht: Dann lassen wir das Thema mal sein.“ Allerdings sei schnell der Gedanke gekommen: Würde ein Kind von sich aus zum Kinder- und Jugendpsychiater gehen? Würde der kranke Elternteil mit ihm dorthin gehen? Wahrscheinlich nicht. So einfach wollten die Oberhausener Ärzte also nicht aufgeben. Kaup und Co. fragten in der Erwachsenenversorgung nach. Sind dort Patienten bekannt, deren Leiden auf eine Biographie als pflegende Kinder und Jugendliche zurückgehen könnten? Doch auch dort: Fehlanzeige. Erneut kamen Zweifel auf. „Doch wir sind dann zum Schluss gekommen: Man kann als Arzt seine Patienten nur nach etwas fragen, was man als potenziellen Auslöser für körperliche oder seelische Belastungen überhaupt einmal wahrgenommen hat“, sagte Kaup.

Dass diese Entscheidung gut war, zeigte sich nicht nur an einem gut gefüllten Veranstaltungssaal oder am Medieninteresse oder dem Umstand, dass auch eine Vertreterin des Bundesfamilienministeriums aus Berlin angereist war. Schon die Anzahl der „Young Carers“, wie pflegende Kinder auch genannt werden, ist auch in Deutschland offenbar beträchtlich: Professor Dr. Sabine Metzing, Pflegewissenschaftlerin der Uni Witten/Herdecke, kommt für NRW in einer nach eigenen Angaben repräsentativen Studie für das Bundesfamilienministerium auf etwa 96.000 Kinder und Jugendliche. 

Prävalenz von sechs Prozent

Für die Studie befragte sie mit einem Team mehr als 6.000 Schülerinnen und Schüler im Alter von zehn bis 22 Jahren an 44 teilnehmenden Schulen. Im Schnitt waren die Schülerinnen und Schüler, die Pflegeverantwortung übernahmen, 13,7 Jahre alt. In Nordrhein dürfte sich die Zahl bei etwa 50.000 Kindern und Jugendlichen bewegen. Die Prävalenz liegt laut Metzing bei 6,1 Prozent.

Der Einsatz dieser jungen Menschen „reiche von gelegentlichen Hilfestellungen bis hin zur allein verantwortlichen Rund-um-die-Uhr-Betreuung“, schilderte Metzing in Oberhausen. In der Studie wurde die Situation jener Kinder besonders betrachtet, die sogenannte körperbezogene Hilfe leisten. „Die Kinder helfen bei der Mobilisation, bei Körper- und Intimpflege, bei der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung, sie übernehmen medizinische Tätigkeiten, leisten emotionale Unterstützung und sorgen für die Sicherheit des pflegebedürftigen Angehörigen. Sie kümmern sich auch um den Haushalt und um jüngere Geschwister. Zudem sind sie immer in Bereitschaft, um schnell auf unvorhersehbare Krisen reagieren zu können.“

Dominiere die Pflege den Alltag der Kinder, so Metzing, drohten nachteilige emotionale, soziale, schulische und körperliche Auswirkungen für ihre gesamte Entwicklung. Schlafmangel als Folge von Sorgen und nächtlicher Bereitschaft führe zu Konzentrationsschwächen und nachlassenden Schulleistungen. Manche Kinder hätten kaum Zeit zu lernen. In Extremsituationen komme es zu Fehlzeiten, die sich über Wochen hinziehen können. Einige seien so stark in die Betreuung ihrer Angehörigen eingebunden, dass sie keine Zeit für sich selbst hätten, so Metzing. Kaum ein pflegendes Kind rede über die teils vielfältigen Tätigkeiten zu Hause; die meisten fürchteten sich vor Ausgrenzung und Stigmatisierung.  

In der Diskussionsrunde zog eine Kinder-  und Jugendpsychiaterin Parallelen zur Situation von Kindern und Jugendlichen mit suchtkranken Eltern. Auch in diesen Familien seien die Belastungen der Kinder und Jugendlichen hoch. Ein wesentlicher Unterschied: Der Kontakt zwischen Hilfestrukturen wie den Sozialpädiatrischen Zentren und den kleinen Patienten wird insbesondere von der Schulsozialarbeit angebahnt. Susanne Weller, vom Verein „Nummer gegen Kummer – 116 111“, berichtete vom Projekt „Pausentaste“, das sich seit Anfang 2018 an betroffene Minderjährige wendet. Bisher habe man etwa 3.000 Gespräche geführt, sagte Weller. Im Vordergrund habe oft das Bedürfnis der Kinder gestanden, mit jemandem einmal über die Situation in der Familie zu sprechen.