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Schönheitsoperationen – wenn Retusche zur Realität werden soll

18.10.2019 Seite 21
RAE Ausgabe 11/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 11/2019

Seite 21

Der aktuelle Selfietrend sorgt dafür, dass sich gerade bei (jungen) Frauen Lippen- und Faltenunterspritzungen weltweit immer größerer Beliebtheit erfreuen. Verbunden mit der gestiegenen Nachfrage wächst auch das Angebot. Da seriöse Arztpraxen eine Behandlung von Minderjährigen ablehnen, suchen sich gerade jüngere und weniger finanzstarke Kundinnen günstigere Anbieter und Settings zur Behandlung  – und setzen dabei ihre Gesundheit aufs Spiel.

von Sabine Schindler-Marlow

Ob Duckface oder Fishgape – für das perfekte Selfie auf Instagram und Facebook, so scheint es, braucht  „Frau“ volle Lippen, glatte und faltenlose Haut, verlängerte Wimpern und das möglichst in jedem Alter. Wer das perfekte Gesicht nicht hat, bedient sich sogenannter Retusche-Apps. Die liefern in Sekunden eine optimierte Version des Ichs. Ein „Klick“ und die Falten sind geglättet, die Pickel verschwunden. Ein „Wisch“ und die Lippen sind voller, die Nase kleiner, die Augen strahlender. Mit ein paar weiteren Klicks kann auch das Kinn spitzer, schlaffe Augenlider straffer, Wangenknochen angehoben werden – die App ist die Schönheits-OP per Klick, schmerzfrei und kostengünstig. 2017 war eine Retusche-App mit über 50 Millionen Downloads sogar die beliebteste Bezahl-App im Apple-Store. Nicht weniger als eine Million User zahlen bis zu sechs Euro pro Monat, um alle Features der App nutzen zu können. Für 2019 rechnet der App-Hersteller mit einer Verdoppelung seines Umsatzes.

Digitale Scheinwelt und ihre Folgen

Soziale Medien und App-Hersteller haben ihre Benutzer darin geschult, jene Werkzeuge zur Bildbearbeitung zu benutzen, die in Vor-Social-Media-Zeiten ausschließlich Bildredakteuren von Modemagazinen vorbehalten waren.

Heute steht die Fotooptimierung jedem offen. Durch vorgegebene „Kunstgriffe“ via App wird unser Prototyp eines schönen Menschen zunehmend mit Merkmalen gefüttert, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. So geben Apps und Filterprogramme vor, wie Körper in der Gesellschaft dargestellt und wahrgenommen werden. Es entsteht eine perfekte, digitale Parallelgesellschaft und eine Realität voll wandelnder Täuschungen.

Für die meisten Nutzer sind solche Apps eine harmlose Spielerei. Doch Experten vermuten, dass immer mehr und vor allem junge Menschen auch in der Realität so aussehen wollen wie ihr Online-Alter-Ego. Das legt auch eine 2017 vom amerikanischen Verband für Plastische Chirurgie weltweit durchgeführte Befragung von Schönheitschirurgen nahe: Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, dass Patienten Eingriffe vornehmen lassen wollten, um auf Selfies besser auszusehen. Ob diese Aussage für Deutschland so gültig ist, lässt sich aufgrund fehlender Studien nicht verifizieren. Aber auch Fachärzte der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie haben in diesem Jahr bei ihrer Frühjahrsakademie davon berichtet, dass junge Frauen immer häufiger retuschierte Selfies zum Beratungsgespräch mitbringen.

Wurden vor zwanzig Jahren ästhetische Eingriffe noch verschwiegen, gelten sie heute als etwas Selbstverständliches. Fast täglich zeigen Influencer über die sozialen Medien, welche ästhetisch-plastischen Eingriffe sie gerade vornehmen. Livevideos  von Schönheitsoperationen und minimalinvasiven Eingriffen aus Praxen und Kliniken lassen sich jederzeit und weltweit verfolgen und suggerieren Normalität. Auch deshalb sind Schönheitseingriffe für viele Menschen mittlerweile so alltäglich geworden wie der Gang zum Friseur oder ins Fitnessstudio. Während Ärztinnen und Ärzten die Werbung vor allem mit Vorher-nachher-Bildern und Rabatten verboten ist, steht dieser Weg Influencern und gewerblichen Einrichtungen offen. „Unser Freundinnenrabatt – spart bis zu 50 Prozent“:  Faltenbehandlungen mit Hyaluronsäure werden auf Internetportalen oder über Couponscheine in Einkaufsstraßen mittlerweile genauso selbstverständlich angeboten wie Töpfe oder eine Autowäsche.

Das Geschäft mit der Schönheit

Eine kritische Haltung zu den künstlich erzeugten Schönheitsidealen nehmen weder die Kundinnen noch die meisten Influencer ein, denn für die Posts werden sie nicht nur mit Likes und Followern, sondern auch mit lukrativen Werbeverträgen oder kostenfreien Eingriffen belohnt. Laut einer amerikanischen Studie zahlen Marketingabteilungen Top-Influencern mit mehr als 500.000 Followern bis zu 39.000 US-Dollar pro Post. Aber auch sogenannte Mikro-Influencer (mit weniger als 30.000 Followern) können mit einer Kampagne noch bis zu 32.000 US-Dollar verdienen. Im Auftrag von Rakuten Marketing hat das Marktforschungsinstitut Viga zwischen Dezember und Januar 2019 weltweit rund 700 Marketingentscheider und rund 3.500 Verbraucher befragt. Die Befragung macht deutlich, warum Unternehmen auf Influencer-Marketing setzen: Sechs von zehn Verbrauchern gaben an, dass sie mindestens einmal täglich mit Influencern agieren, mehr als ein Drittel sogar mehrfach am Tag. Über 80 Prozent der Verbraucher bestätigten zudem, schon mal ein Produkt gekauft zu haben, das sie bei einem Influencer gesehen hatten; rund 88 Prozent fühlten sich von den beworbenen Produkten immerhin zum Kauf inspiriert.

Die Influencer nehmen aber nicht nur Einfluss auf das Kauf- und Kundenverhalten, sondern eben auch auf das Schönheitsideal und das Körperbild einer ganzen Generation. Die perfektionierte Scheinwelt schürt Unsicherheit und bringt gerade junge Menschen, die noch in der Selbstfindung sind, dazu, sich unters Messer legen zu wollen. Mittlerweile wurde im angloamerikanischem Raum für das Phänomen, die eigene Erscheinung für Selfies optimieren zu wollen, der Ausdruck „Snapchat Dysmorphobie“ geprägt.

Im Jahr 2017 zählte die International Society of Aesthetic Plastic Surgery (ISAPS) weltweit rund 23,4 Millionen Schönheitsoperationen – knapp die Hälfte davon chirurgische Eingriffe. Die weltweite Zahl von Schönheitsoperationen und -prozeduren hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt: Mit rund 1,56 Millionen ästhetisch-plastischen Eingriffen wurde dem Äußeren am häufigsten in den USA operativ nachgeholfen – dicht gefolgt von Brasilien mit rund 1,46 Millionen Schönheitsoperationen.  Deutschland belegt in dieser Statistik mit 704.880 chirurgischen und nichtchirurgischen Eingriffen Platz sechs. Ein zentrales deutsches Register für „Schönheitsoperationen“ sowie repräsentative Zahlen, wie viele Eingriffe tatsächlich jährlich in Deutschland und bei welchen Berufsgruppen durchgeführt werden, gibt es jedoch nicht.

Höhere Nachfrage nach Lippen- und Faltenunterspritzung

Aus einer Mitgliederbefragung der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie geht allgemein hervor, dass die Nachfrage nach Injektionstherapien mit Fillern und Botulinumtoxin auch im Jahr 2018 sowohl bei Frauen als auch bei Männern weiter gestiegen ist. Waren 2017 die nicht- und minimalinvasiven Behandlungen noch mit 30,8 Prozent vertreten, nahmen sie 2018 schon einen Wert von 44,4 Prozent ein. Mit der steigenden Nachfrage wächst auch das Angebot und immer häufiger bieten eben nicht nur Arztpraxen und Kliniken die Eingriffe an, sondern auch Kosmetikstudios oder Heilpraktiker.

Wie viele dieser Injektionstherapien mittlerweile von Heilpraktikern oder Kosmetikern oder weiteren Berufsgruppen vorgenommen werden, lässt sich nicht ermitteln. Aufgrund fehlender Daten ist auch nicht bekannt, wie viele Eingriffe an Kundinnen und Kunden unter 18 Jahren durchgeführt werden. Ebenfalls gibt es keine Statistik, die Risiken und Nebenwirkungen der Eingriffe und notwendige Nachbehandlungen listet.

In Bochum sind in diesem Jahr zwei Frauen festgenommen worden, die mutmaßlich Lippenunterspritzungen sowohl in einem Bochumer Beautysalon als auch in Diskotheken vorgenommen haben und damit gegen das Heilpraktikergesetz verstießen. Die Polizei geht von 250 betroffenen Frauen aus, die von den beiden Frauen behandelt wurden. Einige der Betroffenen klagten nach der Behandlung über Schwellungen oder Entzündungen und mussten in Kliniken nachbehandelt werden.

Nichts für die Disko

Der WDR hat in seiner Sendung Plusminus vom 17. Juli 2019 aufgezeigt, unter welch abenteuerlichen Versprechungen und rabattierten Angeboten Kosmetikstudios, Friseursalons und andere Gewerbe Kundinnen zu Lippen- und Faltenunterspritzungen locken.  Diese Beispiele zeigen, dass in der Bevölkerung kaum jemand weiß, dass in Deutschland nur Ärzte und Heilpraktiker Hyaluronsäureunterspritzungen vornehmen dürfen und dass Diskotheken oder Friseursalons aufgrund fehlender steriler Bedingungen keine geeigneten Orte für Eingriffe jeder Art sind.

Weil aber auch Lippen-und Faltenunterspritzungen mit Hyaluronsäure bei fehlerhafter Behandlung erhebliche Nebenwirkungen haben können, hat die Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC) einen Arztvorbehalt für Faltenunterspritzungen sowie eine Rezeptpflicht für Hyaluronsäurepräparate zur Injektion gefordert.

Hyaluronsäurepräparate  zur Injektion sind derzeit rezeptfrei im Internet erhältlich. Und auch wenn die Hersteller darauf hinweisen, dass die Präparate nur von Angehörigen der Heilberufe in den Körper eingebracht werden dürfen, ist das Missbrauchspotenzial groß. So existieren in den Sozialen Medien genug Anleitungsfilme zur Selbstinjektion, sodass zu befürchten ist, dass gerade Jugendliche Selbstversuche wagen, um Geld zu sparen. Gefahr droht auch, wenn die Jugendlichen mit den Präparaten in Kosmetikstudios oder Heilpraxen landen. Nebenwirkungen und Komplikationen werden aus kommerziellen Gründen in diesen Einrichtungen oft verharmlost, ernsthafte Folgen von Behandlungsfehlern maßlos unterschätzt – auf Kosten der hilfesuchenden Patienten, die nicht nur einen gesundheitlichen Schaden haben, sondern notwendige Nachbehandlungen auch selber bezahlen müssen.

Mehr Aufklärung tut Not

Einig  sind sich Experten darüber, dass über das Thema Schönheitsoperationen und den Trend zur Selbstoptimierung besser öffentlich aufgeklärt werden muss. Medienkompetenz  als Schulfach in den weiterführenden Schulen oder die Erörterung von Körperbildern im Biologieunterricht sind Schlagworte, die dabei immer wieder fallen. Aber ob schulische Aufklärung alleine gegen einen boomenden Selbstoptimierungsmarkt ankommt, ist fraglich. In Frankreich und Israel muss die Bearbeitung von Fotos in Magazinen oder Werbung seit rund einem Jahr ausgewiesen werden, um negative Effekte auf die Körperwahrnehmung von Kindern und Jugendlichen zu reduzieren. Schon jetzt zeigen die Gesetze Wirkung. Eine der größten Bilddatenbanken hat angekündigt, keine Bilder mehr zu akzeptieren, bei denen die Körperform nachträglich verändert wurde. Auch einige Kosmetikhersteller haben reagiert und zeigen nur noch unbearbeitete Models in ihren Kampagnen. Die österreichische Gesetzgebung hat 2013 verfügt, dass Schönheitsoperationen und ästhetische Behandlungen bei 16- bis 18-Jährigen nur durchgeführt werden dürfen, wenn vorher eine psychologische Beratung erfolgt. Dadurch sollen Eingriffe vermieden werden, die aus einem gestörten Selbstbild beziehungsweise Körperbild oder aus sonstigen unrealistischen Erwartungen heraus erfolgen.

Ob die einzelnen Gesetzgebungen die Probleme grundsätzlich beheben, die von retuschierten Körperfotos in der Werbung und den (sozialen Medien) ausgehen, ist fraglich. Auch lösen sie nicht, dass ästhetische Eingriffe derzeit auch missbräuchlich von anderen Berufsgruppen angeboten werden. Aber sie mögen ein erster Schritt sein, um die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren und die möglichen psychologischen Schäden zu mildern, die  diese Fotos bei jungen und beeinflussbaren Konsumenten anrichten.

Die Ärztekammer Nordrhein hat auf ihrer Internetseite unter www.aekno.de/Patientenberatung in der Rubrik „Themen“ unter dem Stichwort „Schönheitschirurgie“/„kosmetische Chirurgie“ Patienteninformationen zum Themenfeld zusammengestellt.