Vorlesen
Spezial

Scheiden tut weh

25.03.2020 Seite 16
RAE Ausgabe 4/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 4/2020

Seite 16

  • Ob und wie ein Kind Schaden nimmt, wenn die Eltern sich trennen, ist abhängig von Alter, Entwicklungsstand und Resilienz des Kindes. Entscheidend ist vor allem, wie Eltern mit ihren Konflikten umgehen. © nadezha1906/stock-adobe.com
  • Die gesundheitlichen Folgen einer Trennung diskutierten: (v.l.n.r.) Dr. Thomas Fischbach, Dr. Petra Walger, Universitätsprofessor Dr. Matthias Franz, Christa Bartels und Universitätsprofessor Dr. Peter Zimmermann. © Jochen Rolfes
Mutter, Vater, Kind: Immer seltener entsprechen Familien diesem Ideal, ein Drittel der Ehen in Deutschland scheitert. Eltern und Kinder leiden unter der Trennung – nicht nur seelisch, auch körperlich. Die gesundheitlichen Folgen einer elterliche Trennung diskutierten Experten auf einem Kammersymposium der Ärztekammer Nordrhein unter dem Titel „Familiäre Trennung als Gesundheitsrisiko“ Ende Februar in Düsseldorf.      

von Jocelyne Naujoks

„Und dabei liebe ich euch beide“, sang die damals zehnjährige Andrea Jürgens am Silvesterabend 1977. „Denn ich bin doch euer Kind“, heißt es in dem Lied aus der Perspektive eines Kindes über die Trennung seiner Eltern. Der Text beschreibe das Dilemma eines Kindes, das sich beiden Eltern zugehörig fühlt, aber im Rosenkrieg zwischen den Ex-Partnern zum Zankapfel wird, erinnerte sich Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Ob und wie ein Kind durch die Trennung der Eltern Schaden nehme, hänge ab von Alter, Entwicklungsstand und der seelischen Verfassung sowie Resilienzfaktoren des Kindes, sagte der Solinger Kinder- und Jugendarzt beim Kammersymposium „Familiäre Trennung als Gesundheitsrisiko“. 

„Alleinerziehende und ihre Kinder sind eine hochvulnerable Gruppe. Sie sind deutlich erhöhten psychosozialen und gesundheitlichen Risiken ausgesetzt“, begrüßte Christa Bartels, Ärztliche Psychotherapeutin, die rund 200 Teilnehmer im Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft. Mehr als 140.000 Kinder erlebten jährlich die Trennung ihrer Eltern, so Bartels, die Mitglied des Vorstands der Ärztekammer Nordrhein ist. In Deutschland seien 1,5 Millionen Eltern alleinerziehend, 88 Prozent von ihnen seien Mütter. 

„Das Problem ist die Qualität der Elternkonflikte“

„Nicht die elterliche Trennung per se ist das Problem, sondern die Qualität der Elternkonflikte“, sagte Universitätsprofessor Dr. Peter Zimmermann vom Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Elternkonflikte führten zu einer verringerten Feinfühligkeit. Damit seien Eltern für ihr Kind emotional weniger verfügbar, so Zimmermann. Zusätzlich zu ihrer schwierigen Lebenssituation seien Alleinerziehende häufiger von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen. Dazu komme, so Zimmermann: „Nach dem Verlust der Partnerschaft birgt diese auch weiterhin häufig Konfliktpotenzial.“ Alleinerziehende zeigen laut dem Entwicklungspsychologen eine deutlich reduzierte Feinfühligkeit. Eltern in dauerhaften und feindseligen Konflikten reagierten dem Kind gegenüber häufiger emotional über, kritisierten unangemessen und seien weniger konsequent. In der Folge verlieren Kinder das Gefühl emotionaler Sicherheit gegenüber den Eltern, so Zimmermann. Insbesondere Kinder, die die Trennung ihrer Eltern vor dem fünften Lebensjahr erlebt hätten, zeigten bis ins Erwachsenenalter unsichere Bindungsmuster. Psychische Probleme offenbarten sich häufig im Abfall der Schulleistungen, Konflikten in Geschwisterbeziehungen und in Beziehungen zu Gleichaltrigen.

Die emotionale Konflikthaftigkeit und die vielfältigen Belastungen der familiären Situation erhöhen das Risiko bei alleinerziehenden Müttern und Vätern für Depressionen, psychosomatische Beschwerden und das Risiko zu rauchen um das Zwei- bis Dreifache, sagte Universitätsprofessor Dr. Matthias Franz, Kommissarischer Direktor des Klinischen Instituts für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Die Schuldgefühle angesichts des Scheiterns der eigenen Liebesbeziehung und die eigenen kindlichen Bindungserfahrungen haben laut Franz dabei entscheidenden Einfluss auf das Depressionsrisiko. Das Ausmaß der mütterlichen Depressivität korreliere hoch mit dem Ausmaß des kindlichen Problemverhaltens, so der Facharzt für Psychosomatische Medizin. Eine anhaltend depressive Mutter sei selbst bedürftig und in ihrer elterlichen Feinfühligkeit beeinträchtigt. Damit werde die emotionale Abstimmung zwischen Mutter und Kind dysfunktional und die Entwicklung einer sicheren Bindung in Frage gestellt. „Nicht die Alleinerziehenden sind das Problem“, betonte Franz. „Das Problem ist die immer noch weithin fehlende materielle und emotionale Unterstützung.“ 

Erhöhtes Depressionsrisiko

In Deutschland lebten etwa 2,2 Millionen Kinder bei einem alleinerziehenden Elternteil, so Franz. In Nordrhein-Westfalen sei die Zahl der Alleinerziehenden in den vergangenen 20 Jahren von 12 auf 18 Prozent gestiegen. Die Scheidungsquote im bevölkerungsreichsten Bundesland liege bei 38 Prozent. Studien zufolge gelingen etwa ein Fünftel der Trennungen, so Franz. „Hier sind die Eltern in der Lage, auch nach dem Ende der Liebesbeziehung die Elternverantwortung in gegenseitiger Wertschätzung zu übernehmen“, sagte Franz. Insbesondere hochstrittige Trennungen gingen mit einem gravierenden Entwicklungsrisiko für Kinder einher. Statistisch betrachtet erkranke jeder Fünfte einmal im Leben an Depressionen. Bei Kindern hochzerstrittener Eltern erhöhe sich das Risiko, einmal im Leben an einer Depression zu erkranken, auf knapp 60 Prozent. Haben sich die getrennten Eltern nicht gestritten, sei das Risiko dagegen kaum höher als bei Kindern ohne Trennungshistorie, sagte Franz.

Kinder aus Trennungsfamilien weisen Franz zufolge ein erhöhtes Risiko auf für emotionales und soziales Problemverhalten und haben eine schlechtere Gesundheit. Belastende Kindheitserfahrungen senken die Lebenserwartung zudem deutlich, so Franz. Eine eigens durchgeführte Untersuchung unter Schulneulingen aus dem Rhein-Kreis Neuss habe ergeben, dass Kinder aus Trennungsfamilien seltener an U-Untersuchungen teilnehmen und schon früh deutlich häufiger Problemverhalten zeigen. Auch ihr Impfschutz sei öfter fraglich.

Prävention müsse überforderten getrennt lebenden Eltern helfen, ihre Konflikte in gegenseitiger Wertschätzung zu lösen und ihre Kinder im Blick zu behalten, sagte Franz. Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach wünschten sich 64 Prozent der Alleinerziehenden mehr Unterstützung, bei den nicht berufstätigen alleinerziehenden Müttern seien es sogar 73 Prozent. Es gebe jedoch nur wenige Programme, sagte Franz. Mit den angebotenen Hilfesystemen kämen die Betroffenen häufig nicht in Kontakt. „Wir müssen mit neuen Hilfsangeboten proaktiv auf die alleinerziehenden Mütter und Väter zugehen“, so Franz. Ziel müsse sein, die Eltern aus ihrer Depression zu holen und ihre Feinfühligkeit zu stärken. Die emotionale Bindung zum Kind könne wieder gestärkt werden und Mutter oder Vater erlebten sich selber wieder als „kompetente Eltern“, sagte Franz, der als wissenschaftlicher Leiter das „wir2“ und das „wir2Reha“ Elterntraining für den Bereich der psychosomatischen Rehabilitation entwickelt und evaluiert hat.  

wir2Reha im Überblick 

wir2Reha ist ein innovatives, bindungsorientiertes Elterntraining für alleinerziehende Mütter und Väter mit Kindern im Alter von drei bis zehn Jahren in der stationären psychosomatischen Rehabilitation. Das Programm basiert auf dem ambulanten wir2-Bindungstraining, das in 20 Gruppensitzungen mütterliches oder väterliches Selbstvertrauen, elterliche Feinfühligkeit sowie die Eltern-Kind-Bindung stärkt und so auch das Wohlbefinden der Kinder fördert. wir2Reha wird jetzt zusätzlich für sechs Wochen parallel zur Psychosomatischen Rehabilitation inklusive Kinderbetreuung in zwei Psychosomatischen Rehabilitationskliniken angeboten, der Celenus Klinik Schömberg und der Dekimed Klinik Bad Elster.

Aktuell fördern das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die Deutsche Rentenversicherung (DRV) das Projekt wir2Reha der Universität Düsseldorf, um herauszufinden, was Alleinerziehende für eine erfolgreiche Psychosomatische Rehabilitation brauchen. In diesem Rahmen können Alleinerziehende gemeinsam mit ihren Kindern an einer speziell für sie zusammengestellten sechswöchigen psychosomatischen Rehabilitation teilnehmen.

Wer kann mitmachen?

  • Sie sind alleinerziehend?
  • Sie haben Kinder im Alter von 3 bis 10   Jahren?
  • Sie beherrschen die deutsche Sprache?
  • Sie sind psychisch belastet?

Mehr Informationen finden Sie unter www.reha-alleinerziehende.de sowie auf den Seiten der Kliniken www.klinik-schoemberg.de und www.dekimed.de
Bei Fragen wenden Sie sich an Dirk Rampoldt unter d.rampoldt(at)wir2-bindungstraining.de

Dirk Rampoldt
 

„Kinder psychisch kranker Eltern sind Risikokinder“, sagte Dr. Petra Walger, Chefärztin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des LVR-Klinikums Düsseldorf. Das Risiko, selber an einer psychischen Störung zu erkranken, sei für diese Kinder deutlich höher. Wie hoch, hänge von der Art der psychischen Erkrankung des Elternteils ab und in welchem Lebensalter des Kindes diese aufgetreten sei. Schätzungen zufolge gebe es in Deutschland etwa drei Millionen Kinder mit einem Elternteil, das an einer psychischen Störung leidet, so Walger. 

Jedes fünfte Kind unter 18 Jahren zeige psychische Auffälligkeiten, so die Kinder- und Jugendpsychiaterin. Sie wies auf zahlreiche Hilfsangebote für Eltern psychisch kranker Kinder hin. Der Kinder- oder Hausarzt stelle die Auffälligkeit häufig zuerst fest, auch Jugendämter, Schulen und Beratungsstellen seien oft die ersten Anlaufstellen. Etwa sechs Prozent der Kinder bekommen laut Walger eine Diagnose. Festgestellt würden insbesondere Entwicklungsstörungen. Darunter fielen sowohl autistische Störungen als auch Lese- und Rechtschreibstörungen. Sowohl die Hilfsangebote für Kinder psychisch kranker Eltern als auch für Eltern psychisch kranker Kinder müssen Walger zufolge besser ineinandergreifen. „Wir müssen ein Netz spannen, um diese Gruppen aufzufangen und dem Kind eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen.“