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Jemen: der vergessene Krieg

26.11.2020 Seite 22
RAE Ausgabe 12/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 12/2020

Seite 22

  • Die Arbeit im Trauma-Zentrum in Aden: Einheimische Mitarbeiter auf der Intensivstation trainieren Triage und Wiederbelebung. © MSF/Tankred Stöbe
  • Bei der Morgenvisite tauscht sich Dr. Tankred Stöbe mit einem chirurgischen Patienten aus. Neun von zehn Patienten im Zentrum sind Männer mit Schussverletzungen oder nach Straßenverkehrsunfällen. © MSF/Tankred Stöbe
Seit gut fünf Jahren tobt im Jemen ein Bürgerkrieg, der dort nach Angaben der Vereinten Nationen die größte humanitäre Krise weltweit ausgelöst hat. Drei Millionen Menschen sind innerhalb des Landes auf der Flucht, 20 Millionen sind ohne Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung und 24 Millionen Jemeniten sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Als sei all das nicht genug, trifft jetzt mit Wucht die Corona-Pandemie die Menschen im Süden der arabischen Halbinsel.

von Tankred Stöbe

Die Corona-Pandemie fegte über Aden hinweg wie ein tödlicher Wüstensturm. Am 10. April wurde der erste Patient mit SARS-CoV-2 im Jemen erkannt, im Mai erreichte der Ausbruch seinen Höhepunkt und tötete bis zu 30 Prozent der Infizierten. Das ist ein globaler Rekord. Dabei besagen die offiziellen Zahlen nichts. Danach gibt es bis heute landesweit nur etwa 2.000 Infizierte und 600 Tote. Aber noch immer wird kaum getestet und in den bevölkerungsreichen, von den Huthi-Rebellen kontrollierten Gebieten existiert – politisch verordnet – COVID-19 nicht. 

Die meisten Corona-Kranken starben unbemerkt zuhause, ohne je diagnostiziert oder behandelt zu werden. Es gab keine Aufklärung der Bevölkerung, keine Vorbereitung der Krankenhäuser oder Vorsorgemaßnahmen, kein „flatten the curve“: ungebremst, ungetestet und unbehandelt verbreitete sich das Virus in der Bevölkerung, mit verheerenden Folgen. Angst und Stigmatisierung griffen um sich, das fehlende Wissen führte zu obskuren Gerüchten und Anschuldigungen. 

Fast keiner der Beatmeten überlebte

Ärzte ohne Grenzen behandelte in Aden im Al-Amal-Krankenhaus mit 40 Betten im Mai und Juni 365 Patienten stationär. Die durchschnittliche Behandlungsdauer betrug 4,8 Tage, weil die meisten Patienten schnell verstarben. Die Mortalität lag bei 59 Prozent. Die Menschen kamen spät, oft schon mit Multiorganversagen, aber auch unsere Hilfe war nicht adäquat. Normalerweise arbeiten wir mit Sauerstoff-Geräten, die bis zu fünf Liter Sauerstoff aus der Raumluft konzentrieren können. Was aber, wenn die Patienten 15 bis 20 Liter benötigen? Die Kollegen behalfen sich mit Sauerstoff-Zylindern, die umständlich herangeschafft und fast im Stunden-Rhythmus ausgetauscht und befüllt werden mussten und durch eine logistische Verbindung über ein Schlauchsystem die zehn Beatmungsgeräte der Intensivstation speisten. Insgesamt wurden über 8.000 solcher Zylinder benötigt, das entspricht 50.000 Kubikmeter reinem Sauerstoff. Dennoch überlebte fast keiner der beatmeten Patienten. Das Leiden ist ein stilles. Sein Ausmaß zeigt sich an den vielen frischen Gräbern auf den übervollen Friedhöfen.

Als ich Mitte August Aden erreiche, ist der Ausbruch abgeklungen, die Angst vor dem Virus aber nicht, auch und gerade unter medizinischem Personal. Dass es in diesem Sommer mit einem Einsatz für Ärzte ohne Grenzen klappen würde, hielt ich lange für unrealistisch. Viele Grenzen waren geschlossen, die Flugzeuge weltweit am Boden und Quarantäne-Bestimmungen, welche die Aus- und Einreise verzögern, paralysierten auch die humanitäre Hilfe. Aber dann ging alles sehr schnell und unproblematisch. Mit der Zusage ging ich zunächst davon aus, im COVID-Zentrum von Ärzte ohne Grenzen eingesetzt zu werden; dass es dann das seit acht Jahren bestehende Trauma-Zentrum wurde, war eine Überraschung – und eine Herausforderung. 

Das Morgen-Meeting beginnt um acht Uhr. Dort werden die Ereignisse der Nacht besprochen, aktuelle Vorkommnisse und der OP-Plan diskutiert. Daran schließt sich die Morgenvisite, bis zu vier Stunden gehen wir von Bett zu Bett und bedenken jeden der etwa 100 Kranken. 
Die Röntgenbilder zeigen zerschossene Knochen, sie gleichen den Trümmerfeldern, wie sie überall im Land zu sehen sind. Mit unserem multidisziplinären Team aus Allgemein- und Unfallchirurgen, Anästhesisten, Intensivmedizinern, Physiotherapeuten, Pflegenden und Hygienefachkräften suchen wir nach den bestmöglichen individuellen Problemlösungen. Dieses gründliche und wiederkehrende Ritual sichert eine gute Patientenversorgung. Als medizinischer Direktor ist es meine Aufgabe, den Überblick zu wahren und alle Interessen zu bündeln und zu priorisieren. Da geht es weniger um meine ärztlichen Fähigkeiten als darum, das Krankenhaus gut zu managen. Vielleicht noch wichtiger: darauf zu achten, dass die vielfältigen und oft miteinander im Konflikt stehenden Bedürfnisse von Mitarbeitenden und Patienten sinnvoll berücksichtigt werden.

„In der Welt, aus der ich komme, werden Großschadensereignisse vor allem trainiert, treffen aber selten ein. Hier ist es umgekehrt."

Nach der Visite folgen weitere Meetings oder ich kümmere mich um Spezialfälle und Sicherheitsfragen. Denn wenn die Sicherheit und Ordnung derart erodieren wie im Jemen, wenn medizinischer Notdienst, Polizei, Sicherheitskräfte oder Armee nicht mehr funktionieren, dann greifen die Bürger in Not nicht zum Telefon, um Hilfe zu rufen, sondern zur Selbstverteidigung. Aber ein Messer oder eine Kalaschnikow haben begrenzte schlichtende Wirkung, der Gebrauch dieser Waffen zieht fast immer Racheakte nach sich. Und endet nicht selten im Krankenhaus.

Die Front verläuft nur 50 Kilometer nördlich von Aden

Politisch ist der Konflikt über die Jahre immer komplexer geworden (siehe Kasten Seite 25). In Aden sind die Kampfhandlungen gerade etwas abgeflaut, die Front liegt aber nur 50 Kilometer weiter nördlich. Das Trauma-Zentrum ist gut gefüllt, neun von zehn Patienten sind Männer mit Schussverletzungen oder nach Straßenverkehrsunfällen. Und doch zählen auch Frauen zu den Opfern. So wie Asma, die 33-jährige Landwirtin, die mit ihrer Familie nördlich von Aden lebt und dort wie jeden morgen früh um sieben Uhr auf ihr Feld ging, um Futter für die Tiere einzuholen und dabei auf eine Landmine trat, die ihr rechtes Bein zerfetzte. Uns blieb nur noch, den Unterschenkel zu amputieren. Problematisch war die verzögerte Wundheilung und eine schwere Depression, die dieses Explosionstrauma bei Asma auslöste.

Am 10. September führten wir eine Triage-Fortbildung durch, wobei ich gleich zu Beginn klarstellte, dass in der Welt, aus der ich komme, Großschadensereignisse vor allem trainiert werden, aber selten eintreffen, hier sei das ja eher umgekehrt. Zwei Tage später wurde ich in die Rettungsstelle gerufen: ein Verkehrsunfall mit zwei Toten und sechs Schwerverletzten. Als die Patienten stabilisiert und versorgt sind, frage ich den diensthabenden Unfallchirurgen, ob das jetzt ein größeres Ereignis war. Der winkt nur ab, das sei Routine. Wenn 30 bis 40 Verletzte auf einmal kämen, nach einer Bombenexplosion zum Beispiel, das sei dann schon etwas Arbeit. Tags darauf folgte eine Bombenexplosion mit einem Toten und 15 Verletzten, acht von ihnen wurden bei uns versorgt. Und immer wieder war ich beeindruckt, mit welcher ruhigen und professionellen Abgeklärtheit hier größere medizinische Dramen abgearbeitet werden.

Humanitäre Hilfe verlängert keine Konflikte

Zwei Verletzungsursachen dominieren im südlichen Jemen, die zusammen über 70 Prozent der Patienten ausmachen: GSW (Gun Shot Wounds) ist mit 40 Prozent der häufigste Grund für uns, tätig zu werden, gefolgt von RTA (Road Traffic Accidents). Als weitere Behandlungsursachen sehen wir Bombentraumata, Sturzverletzungen, Messerstiche, Gewaltopfer und Brandwunden. Beeindruckend sind die gut entwickelten Qualitätsstandards im Trauma-Zentrum. Die Klinik wies eine geringe Mortalität auf und wenige Krankenhausinfektionen. Zudem wurde ein ausgefeiltes „Antibiotic Stewardship“-Programm entwickelt, das eine gezielte Behandlung auch multiresistenter Keime ermöglichte. Noch im Aufbau ist ein „Mental Health“-Modul, bei der Fülle der psychischen Leiden wird das dringend benötigt.

Unsere Klinik verlasse ich aus Sicherheitsgründen nur selten. Einmal besuchen wir die beiden öffentlichen Krankenhäuser in Aden, um die Zusammenarbeit zu verbessern. Der Chef-Chirurg berichtet mir von einem neuen Phänomen in der Stadt: „Seit Ärzte ohne Grenzen hier ist, haben Kalaschnikows ihren Schrecken verloren.“ Das ist als Kompliment gemeint. Trotzdem darf hier einmal mit dem Klischee aufgeräumt werden, dass humanitäre Hilfe Konflikte verlängert. So verklärt kann niemand sein zu glauben, dass durch ein paar gerettete Kämpfer ein Krieg weitergeht. Wer schwerverletzt überlebt, fällt als Soldat lange aus und medizinische Helfer vollbringen keine Wunder, zumindest nicht hundertfach.

Ayas Prognose ist gut

Aber nicht alle Krankengeschichten in der Klinik haben mit Krieg und Gewalt zu tun. Stürze aus großer Höhe passieren fast täglich, denn Sicherheit spielt auf den vielen Baustellen in der Stadt überhaupt keine Rolle. Wunder schon. Zum Beispiel für einen jungen Handwerker, der neun Meter tief vom Gerüst stürzte und praktisch unverletzt überlebte. Wir überwachten ihn eine Nacht auf der Intensivstation, nur zur Sicherheit. 

Oder die vierjährige Aya, die von einem Auto überfahren wurde, sie rannte wohl einfach auf die Straße. Wie es im Jemen üblich ist, brachte der Fahrer das schwerverletzte Mädchen selbst ins Trauma-Zentrum. Aya wurde sofort in den OP gebracht, wo die Chirurgen versuchten, die schweren abdominellen Blutungen zu stillen. Außerdem diagnostizierten sie rechtsseitige Rippenserienbrüche und einen Pneumothorax. Wenn die noch weichen kindlichen Rippen brechen, so ist immer von einem schweren Trauma auszugehen. Und doch hat auch Aya Glück im Unglück: Sie überlebt. Und auf der Intensivstation kommt es zu einer stillen, aber großen menschlichen Geste: Ayas Vater vergibt dem Fahrer, andernfalls hätte das weitreichende, auch finanzielle Konsequenzen für ihn bedeutet. Auch fast ein Wunder: Ayas Darm, die Leber und Milz blieben bei dem Unfall intakt, kein Organ musste entfernt werden. Ein paar Tage nach der OP kann Aya auf der Intensivstation extubiert werden, seither atmet sie wieder selbst. Ihre Prognose ist gut. Für ihr Land ist die Aussicht weniger positiv. 

Dr. Tankred Stöbe ist Internist und Notarzt in Berlin. Von 2007 bis 2015 war er Präsident der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen. Noch immer absolviert er regelmäßig Hilfseinsätze für die Organisation.

Hilfe für Opfer des Bürgerkriegs: MSF-Teams arbeiten in 30 Kliniken

Aden liegt malerisch in einem Vulkankrater. Die uralte Hafenstadt erlebte über die Jahrhunderte als verkehrsstrategisch wichtige Metropole immer wieder andere Machthaber. Wie im Rest des Landes spiegelt sich auch hier die Weltpolitik: zuerst war der Süden eine britische Kolonie, dann geriet er unter sowjetische Dominanz. Im Jahr 1990 folgte die Wiedervereinigung mit dem Norden und 2011 fand der arabische Frühling auch hier mit Protesten sein Echo. Aber statt Erneuerung und Freiheit entwickelte sich ab 2015 ein zermürbender Bürgerkrieg. Der Norden des Landes steht unter dem Einfluss der Huthi-Rebellen. Im Süden des Landes versucht die international anerkannte Regierung unter Präsident Abd Rabbu Mansur Hadi, der sich seit 2015 im saudiarabischen Exil aufhält, die politische Macht wiederzuerlangen.

Ärzte ohne Grenzen (Medecins sans Frontieres, MSF) ist mit Unterbrechungen seit 1986 im Jemen aktiv. Zurzeit arbeiten die Teams der Hilfsorganisation in zwölf Krankenhäusern und Kliniken und unterstützen mehr als 20 Gesundheitseinrichtungen. Im Trauma-Zentrum in Aden konnte MSF die Arbeit im April 2019 wieder aufnehmen. In den meisten Provinzen leistet die Organisation medizinische Hilfe für Mütter und Kinder und behandelt Patienten mit Infektionskrankheiten wie Cholera, Masern, Diphterie oder Dengue-Fieber. MSF zufolge wurden seit Beginn des Krieges im Jemen bei Luftangriffen bereits sechs Mal eigene Einrichtungen getroffen.

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