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Diskussion

Menschen mit Behinderung angemessen medizinisch versorgen

26.11.2020 Seite 29
RAE Ausgabe 12/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 12/2020

Seite 29

Seit die Zahl schwerer Covid-19-Erkrankungsfälle im Frühjahr rapide anstieg, wird öffentlich darüber diskutiert, wer eine intensivmedizinische Behandlung erhalten soll, wenn die Ressourcen nicht mehr für alle ausreichen. Insbesondere Menschen mit schwerer und komplexer Behinderung befürchten seither, ihnen könne eine angemessene Versorgung vorenthalten werden. 

von Michael Seidel und Maria del Pilar Andrino

Menschen mit Behinderungen und deren Selbstvertretungsorganisationen haben sich in der Diskussion um die Ressourcenallokation unter den Bedingungen der Corona-Pandemie vernehmlich zu Wort gemeldet. Sie bezweifeln unter anderem Rechtmäßigkeit und Eignung der in der Fachwelt diskutierten Kriterien für eine sogenannte Triage. Einige Menschen mit Behinderung haben sich an das Bundesverfassungsgericht gewendet, weil sie der Überzeugung sind, dass die Entscheidung über diese Kriterien nicht allein den Fachgesellschaften überlassen werden darf, sondern der Gesetzgeber hier tätig werden muss.

Die kritische Positionierung vieler Menschen mit Behinderung spiegelt tatsächlich erlebte Marginalisierung, Benachteiligung und Ausgrenzung in der Gesundheitsversorgung wider. Solche Erfahrungen, obwohl nicht statistisch erfasst, finden sich in vielen eindrucksvollen Einzelfallberichten wieder. Sie können also weder als bloße subjektive Wahrnehmungen noch als bedauerliche Einzelfälle abgetan werden. Gerade in den letzten Monaten häufen sich Berichte von Menschen mit Behinderung sowie deren An- und Zugehörigen über Fälle von Benachteiligung (siehe Kasten).

Für Benachteiligungen in der Gesundheitsversorgung spielen unterschiedliche Gründe eine Rolle.  Manchmal handelt es sich um individuelle fachliche Fehleinschätzungen. Manche Menschen mit Behinderung werden wegen Bagatellen an Krankenhäuser verwiesen, andere werden dort nicht aufgenommen, weil die Klinikärztinnen und -ärzte oft davon ausgehen, dass sie in Einrichtungen der Behindertenhilfe gut versorgt und gepflegt werden.

Vor allem tragen strukturelle Faktoren dazu bei, dass Menschen mit Behinderung nicht angemessen behandelt werden. Denn deren Behandlung ist häufig überdurchschnittlich aufwendig und wird nur unzulänglich vergütet. Ähnliches gilt für die Leistungsvergütung spezialisierter Angebote wie die der Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) und der Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung (MZEB). Diese Angebote haben infolge der Coronakrise und den damit einhergehenden strengen Hygieneregeln und Kontaktbeschränkungen mit zusätzlichen organisatorischen und logistischen Problemen sowie mit Honorareinbußen zu kämpfen. 

Dabei war mit dem Zweiten COVID-19-Bevölkerungsschutz-Gesetz im Mai 2020 festgelegt worden, dass auch SPZ und MZEB unter den staatlichen Rettungsschirm fallen und deren Vergütungsvereinbarungen entsprechend anzupassen sind. Dass diese vom Gesetzgeber ermöglichte finanzielle Kompensation von den Krankenkassen nicht angemessen umgesetzt wird, ist nachdrücklich zu kritisieren.

Die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung in der Gesundheitsversorgung spitzt sich in der Corona-Pandemie erkennbar zu. Dabei verbietet neben dem ärztlichen Berufsethos eine Reihe gesetzlicher Bestimmungen eine solche Benachteiligung, darunter das Grundgesetz und die UN-Behindertenrechtskonvention. Artikel 25 der Konvention fordert, Menschen mit Behinderungen in der Gesundheitsversorgung mit anderen Menschen gleichzustellen. 

Gerade weil eine Reihe gesundheitssystemimmanenter Faktoren als Barrieren einer bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderung wirken, sind Ärztinnen und Ärzte gefordert, ihre Aufmerksamkeit für Menschen mit Behinderung und andere besonders verletzliche Patientengruppen zu schärfen. Dafür setzen sich auch die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern in ihrer „Düsseldorfer Erklärung“ ein (http://www.lbb.nrw.de/pdf-downloads/duesseldorfer_erklaerung.pdf). 

Professor Dr. Michael Seidel war von 1991 bis 2015 Leitender Arzt, Geschäftsführer und Ärztlicher Direktor in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Dr. Maria del Pilar Andrino ist Leiterin des Gesundheitszentrums Franz Sales Haus, einer Einrichtung der Eingliederungshilfe in Essen. Beide haben sich in einem Appell an die Ärztinnen und Ärzte in NRW gewendet, Menschen mit Behinderung besondere Fürsorge zukommen zu lassen (https://www.aekno.de/fileadmin/user_upload/aekno/downloads/2020/corona-appell-prof-seidel-dr-andrino.pdf)

Ärzte schlagen Verzicht auf Behandlung bei Krebspatientin vor

Bei einer 30-jährigen Frau mit einer schweren Intelligenzminderung besteht nach dem Tastbefund ihres Gynäkologen der Verdacht auf ein Mammakarzinom. Während des Lockdowns ist jedoch wegen der schweren Behinderung der Patientin kein Termin im Krankenhaus zur weiteren Abklärung zu arrangieren. Denn diese ist darauf angewiesen, dass eine Begleitperson mitaufgenommen wird. Nach der Lockdown-Phase wird der palpatorische Verdacht auf ein Mammakarzinom bestätigt. Den Eltern als gesetzliche Betreuer wird nach Bestätigung der Diagnose vorgeschlagen, keine medizinischen Maßnahmen anzustreben, da ihre Tochter die Behandlung nicht verstehen und nicht im notwendigen Maße mitwirken könne. Auch stehe ein möglicher Bedarf an intensivmedizinischen Kapazitäten für Corona-Patienten ihrer vielleicht notwendigen Intensivehandlung entgegen. Man habe überdies keine hinreichende Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Mehrfachbehinderung. Man traue sich deshalb keine prognostische Aussage zu. Die Eltern wenden sich danach an einen Arzt ihres Vertrauens, der die Patientin in eine alternative Klinik vermittelt.

Michael Seidel, Maria del Pilar Andrino