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Das Gehirn im digitalen Wandel

23.01.2020 Seite 16
RAE Ausgabe 2/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 2/2020

Seite 16

Ist der Mensch ständig von „unsortierten“ Informationen umgeben, so überfordert dies sein Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis, das Informationen temporär speichern und manipulieren kann, aber nur eine verhältnismäßig kleine Rechenkapazität hat. Die Folge: die Produktivität sinkt, die Fehleranfälligkeit nimmt zu. Diese Ansicht vertrat auf dem 21. Euskirchener Gespräch der Hirnforscher Professor Dr. Martin Korte. Der sogenannte Information Overkill hat eine weitere Konsequenz: „Wir ignorieren alle Informationen, die nicht dem entsprechen, was wir sowieso schon glauben, und fangen an, in Stereotypen zu denken.“ © metamorworks/istockphoto.com
Warum sind „Fake News“ und Lügen so mächtig in der digitalen Welt? Wieso faszinieren uns kuriose Geschichten mehr als seriöse Reportagen und worin liegt der Trend zum Hype begründet? Antworten lieferte das 21. Euskirchener Gespräch.

von Ulrike Schaeben

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, stellte in seinem Vortrag über die Macht der Desinformation im digitalen Zeitalter zentrale Diagnosen zum modernen Medienwandel: Innovationen und Publikationen haben seiner Beobachtung nach eine neue Geschwindigkeit erreicht. „Schnelligkeit vor Genauigkeit“ als Grundkonflikt allen Publizierens habe sich unter den aktuellen Medienbedingungen nochmals verschärft. Mehr Wissen steigere jedoch die Wahrscheinlichkeit von Desinformation und die Unsicherheit des modernen Menschen – dessen evolutiv begründete Gewissheitssehnsucht und seine Orientierungslosigkeit in der Überfülle der Informationen prallten in der modernen Medienwelt schonungslos aufeinander.

„Wir lieben die Anregung und Aufregung, dies ist das Muster sozialer Netzwerke.“

Doch warum interessieren wir uns eher für die Story des Riesentintenfisches, der sich in ein japanisches Hafenbecken verirrt hat, als für seriöse Nachrichten? Und warum gehen so viele solcher Kuriositäten im Netz viral? Warum verschiebt sich die Aufmerksamkeit der Nutzer so diametral? Eine Erklärung des Medienwissenschaftlers: „Wir lieben die Anregung und Aufregung, dies ist das Muster sozialer Netzwerke.“ Pörksen nannte auch die starken ökonomischen Anreize zum medialen Hype, die das Geschäft mit der Faszination vorantreiben. Je reißerischer die Headline, je suggestiver der Teaser, umso mehr Aufmerksamkeit erhalten Storys zu Banalitäten des menschlichen Lebens, in deren Umfeld hohe Werbeerlöse zu erzielen sind. Ihre Klickraten stellen jede Leserreichweite traditioneller Medien weit in den Schatten. Anreizsysteme werden so programmiert, dass es möglichst lange Verweilzeiten gibt, um sie an Werbetreibende zu verkaufen.

Macht der Desinformation

Auch diagnostizierte der Medienwissenschaftler eine zunehmende Deregulierung des Wahrheitsmarktes und zeigte an eindrucksvollen Beispielen aus der Welt der Lügen und „Fake News“, in welcher Weise Wirklichkeits- und Weltbezüge unter den Bedingungen der Digitalisierung neu geordnet werden. Für Pörksen sind Fake News jedoch nur Oberflächenphänomene, sozusagen „Schaumkronen in der vernetzten Welt“. Zusätzlich zu der Neuordnung der Informationswirklichkeit durch neue Techniken beobachtet er einen tiefgreifenden Wandel der Kommunikation, auf den die Menschen nur unzureichend vorbereitet seien: Zum einen erfolge durch soziale Medien und die Interaktionsmöglichkeiten im Internet eine gigantische Öffnung des kommunikativen Raums. Zwar könne im Internet jeder zum Sender werden. In der Regel seien diese Personen aber nicht journalistisch geschult in Recherchetechniken und im Umgang mit Quellen. Gleichzeitig komme es zu einer Konzentration auf wenige kommerzielle Plattformen und erodiere die Funktion des Journalisten als „Gatekeeper“ und Hüter der redaktionellen Qualität publizierter Inhalte.

Es scheinen sich in der modernen Medienwelt also die systemischen Grenzen eines exponentiell wachsenden Kommunikationssystems abzuzeichnen, das immer mehr Stimmungen, Gefühle und Meinungen vermischt, ohne hierfür neue Kulturtechniken zu entwickeln. Eine Schlüsselfrage der Kommunikationszukunft lautet für Pörksen demnach, wie wir gegen Hass, Hetze und Desinformation im Netz kämpfen und Ideale von Mündigkeit bewahren können, die der Demokratie erst ihre Würde geben.

Der Medienwissenschaftler hielt in Euskirchen ein Plädoyer für seine Utopie der redaktionellen Gesellschaft, in der die Prinzipien des guten Journalismus zum Ideal der Allgemeinbildung werden. Notwendig seien in diesem Zusammenhang die Ausbildung neuer Kulturtechniken und die Erziehung zur Medienmündigkeit durch die Etablierung eines neuen Schulfaches als „Labor der redaktionellen Gesellschaft“. Auch der Journalismus müsse den Pakt mit dem medienmächtig gewordenen Publikum erneuern.

Martin Korte, Professor für zelluläre Neurobiologie an der TU Braunschweig, beleuchtete in seinem Vortrag die Auswirkung des digitalen Wandels auf das menschliche Gehirn. In unserer digitalen Welt sind wir permanent von Geräten umgeben, die uns scheinbar helfen, den Alltag besser zu bewältigen – die Smartwatch am Handgelenk, das Navigationssystem im Bordcomputer des Fahrzeugs oder die Chat-App auf unserem Mobilgerät. Warum haben wir dennoch häufig das Gefühl, überfordert, gestresst, am Limit zu sein? Kortes Erklärung: Am Ende ist schlichtweg unsere Willenskraft aufgebraucht, weil wir im Laufe des Tages so viele überflüssige Entscheidungen treffen müssen, beispielsweise welches Gerät wir bedienen oder welche Eingaben wir machen. Die digitale Transformation habe sich technisch gesehen schon viel weiter entwickelt, als unser Verstand und vor allem unsere sozialen Konventionen dieser folgen könnten, so Korte.

 

Für den Hirnforscher liegt das Problem auch in der Geschwindigkeit begründet, mit der sich der digitale Umbruch vollzieht: Die neuen Medien etablierten sich rasend schnell, aber wir Menschen hätten nicht gelernt, adäquat mit ihnen umzugehen. Im Gegenteil, wir hätten uns Gewohnheiten und Routinen im sozialen Miteinander, aber auch im Lernsystem angewöhnt, die weder dem Arbeiten noch dem Lernen förderlich seien.

Auch diagnostiziert Korte einen „Informations-Overload“, der das menschliche Denken störe. Seine Erklärung: Wenn wir ständig von „unsortierten“ Informationen umgeben sind, überfordert dies unser Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis, das Informationen temporär speichern und manipulieren kann, aber nur eine verhältnismäßig kleine Rechenkapazität hat. Die Folge: unsere Produktivität sinkt, die Fehleranfälligkeit nimmt zu.

Mythos Multitasking

Wie Korte zutreffend beobachtet, werden wir von digitalen Medien dauernd verführt, virtuell an mehreren Orten gleichzeitig zu sein und Aufgaben parallel zu bearbeiten. Dies sei nach neurowissenschaftlichen Erkenntnissen ein Trugschluss, denn zumindest im bewussten Bereich des Erlebens und Verarbeitens könnten wir kein Multitasking leisten, sondern nur – mehr oder weniger schnell – zwischen den Tätigkeiten wechseln. Zudem trainieren wir uns darauf, immer auch auf das zu achten, was gerade nicht im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht, um keine eingehende Nachricht zu verpassen, die etwas Wichtiges bedeuten könnte und gleichzeitig unserem Belohnungssystem einen kurzfristigen „Kick“ verschafft. Der Versuch, diese Prozesse zu überwachen und Aufgaben gleichzeitig zu bearbeiten, führe zu einem ständigen Alarmzustand im Gehirn und zu einer weiteren Überforderung des Arbeitsgedächtnisses.

Korte beobachtet weitere Kollateralschäden der Digitalisierung unseres Alltags- und Berufslebens: Strömten ungefiltert zu viele Informationen auf uns ein, gelinge unserem Gehirn deren Gewichtung nicht mehr und dementsprechend schwer falle es uns, Prioritäten zu setzen und uns auf das, was wir eigentlich tun oder lernen wollten, zu konzentrieren. Auch die Fehleranfälligkeit nehme zu, denn durch die reduzierte Rechenkapazität des Denkorgans seien wir weniger in der Lage, Fehler zu entdecken und die Folgen unseres Handelns zu reflektieren oder zu kontrollieren. Die entstehende Stressbelastung schränke als negatives Gefühl das Arbeitsgedächtnis noch weiter ein und die für die Abwehr dieser Gefühle notwendigen Nervenzellen stünden nicht mehr zur Verfügung.

Doch wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen? Korte hat für die Zuhörer ein scheinbar einfaches Rezept parat: Menschen seien bis zu 50 Prozent effektiver, wenn sie Aufgaben seriell erledigten und nicht parallel.

Die Omnipräsenz medialer Gleichzeitigkeit, die schon Pörksen in seinem Vortrag diagnostiziert hatte, bedeutet für Korte außerdem einen enormen „Zeitfresser“. Untersuchungen hätten gezeigt, dass Handy-Nutzer sich durchschnittlich alle 18 Minuten am Tag durch Einschalten des Bildschirms unterbrechen ließen.

Wissen oder Googeln?

Nach jeder Unterbrechung benötige das Gehirn jedoch 10 bis 15 Minuten „Eindenkzeit“, um von einer komplexen kognitiven Tätigkeit zur anderen zu wechseln. Die Erklärung des Hirnforschers: „Wir haben keine Bibliothek im Kopf, sondern raum-zeitliche Muster von neuronalen Netzwerken, die Informationen abgespeichert haben, und wir brauchen bestimmte Algorithmen, um die zu einer Tätigkeit notwendigen Informationen auffinden zu können.“

Die Annahme, das Gehirn funktioniere wie eine Computer-Festplatte, ist aus seiner Sicht ein Irrtum, wie Korte eingängig erklärte: Beim Lernen ändern sich die neuronalen Verschaltungswege, sodass wir die Welt auch anders wahrnehmen, ebenso wie Vorwissen das zukünftige Wissen dahingehend beeinflusst, dass es uns leichter fällt Neues zu lernen und wir die Welt auch differenzierter wahrnehmen, wenn wir mehr über diese wissen. Daher könne ein geschulter Chirurg die Wunde seines Patienten in der Regel besser versorgen als der Famulant.

Was muss ich selbst überhaupt noch wissen, wenn ich alles im Internet suchen und finden kann? Diese oft gestellte Frage beantwortet der Hirnforscher ganz entschieden zugunsten des aktiven Wissens: Für ihn braucht der Mensch weiterhin erworbenes Wissen als Grundkompetenz. Das Gelernte gelte es zu hinterfragen oder miteinander zu kombinieren, damit aus Informationen Wissen werde und aus einem Beziehungsgefüge von Wissen Bildung. Nur dann seien wir in der Lage, die Welt zu strukturieren und mit der Fülle an Informationen, die uns zur Verfügung stehen, auch kritisch umzugehen.

„Die Reise in die Köpfe anderer Menschen ist eine der größten menschlichen Leistungen, zu der wir evolutiv in der Lage sind.“

Hier schloss sich der Kreis zum Vortrag seines Vorredners Pörksen. Wenn sich unser Gehirn einer gefühlten Informationsflut gegenübersieht und sich überfordert fühlt, macht es das Gegenteil von dem, was wir erhofft haben, führte Korte aus: „Wir ignorieren alle Informationen, die nicht dem entsprechen, was wir sowieso schon glauben, und fangen an, in Stereotypen zu denken.“

Doch neben dieser typischen Reaktion bei übergroßem Stress in Angstsituationen droht dem modernen Menschen eine viel größere Gefahr, der Verlust der Empathie: „Die Reise in die Köpfe anderer Menschen ist eine der größten menschlichen Leistungen, zu der wir evolutiv in der Lage sind. Unsere Gehirne sind dafür gemacht, aber diese Fähigkeit muss auch intensiv trainiert werden. Das funktioniert nur, wenn wir mit Menschen tatsächlich zusammen sind, beispielsweise im Klassenraum, nicht aber im Chatroom.“

Das Fazit des Hirnforschers lautete: Wir sollten als moderne Menschen digitale Medien nicht boykottieren, sondern reflektiert einsetzen, wo sie sinnvoll erscheinen, beispielsweise in der Aufklärung im Gesundheitsbereich oder als Künstliche Intelligenz zur Unterstützung der Diagnose des Arztes. Statt sich durch Automatisierung vom Akteur zum Beobachter degradieren zu lassen, sollten wir den Dialog und den Austausch suchen und uns beim Lernen weiter aktiv involvieren, um in einer sich verändernden Welt gebildet zu bleiben.

Dr. Ulrike Schaeben ist Referentin der Kreis- und Bezirksstellen der Ärztekammer Nordrhein.