Vorlesen
Thema

Corona-Hotspot Heinsberg: „Wir haben die Krise gut gemeistert“

26.08.2020 Seite 12
RAE Ausgabe 9/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2020

Seite 12

© Lukas Schulze/Getty Images News via Getty Images

Am 15. Februar feiern in Gangelt im Kreis Heinsberg gut 300 Karnevalisten bei der traditionellen Kappensitzung. Es ist eng, es wird geschunkelt, gesungen und gelacht. Frische Luft ist knapp, denn die Fenster müssen wegen des Lärms geschlossen bleiben. An dem Abend ahnt niemand, dass Feiernde mit SARS-CoV-2 infiziert sind, das Virus dort einen idealen Nährboden finden und sich in der Folge bis über die Kreisgrenzen hinaus weiterverbreiten wird.

„Bei der Kappensitzung hat sich damals fast die Hälfte der Teilnehmer mit SARS-CoV-2 infiziert“, sagt Professor Dr. Hendrik Streeck dem Rheinischen Ärzteblatt. Der Direktor des Instituts für Virologie der Universitätsklink Bonn hat im März und April mit einem Forschungsteam das Ausbruchsgeschehen in Gangelt untersucht. Die sogenannte Heinsberg-Studie, die zunächst auf einem Preprint-Server veröffentlicht wurde (https://doi.org/10.1101/2020.05.04.20090076), durchläuft zurzeit ein Peer-Review-Verfahren. Anfangs seien nur sieben Teilnehmer der Veranstaltung positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden, erklärt Streeck. Erst im Laufe des März seien Abstrichzentren eingerichtet und die Testkapazitäten hochgefahren worden. Damit sei auch die Zahl der nachweislich Infizierten gestiegen. Am 18. März, kurz bevor in ganz Deutschland Schulen, Geschäfte, Kultur- und Gaststätten geschlossen werden, zählt man im Kreis Heinsberg mit seinen gut 250.000 Einwohnern 811 Corona-Infizierte. Bis heute (Stand: 11. August) gibt es dort 2.004 bestätigte Corona-Fälle, 44 Menschen gelten als noch nicht genesen, 87 sind verstorben.
 

Die Sterblichkeit der Corona-Infizierten liegt bei 0,37 Prozent

Ein Ziel von Streecks Studie war herauszufinden, wie viele und welche Patienten an der durch das Virus verursachten Lungenerkrankung COVID-19 sterben. „Für mich gibt es drei wichtige Ergebnisse“, sagt der Virologe. Zunächst einmal habe die Befragung von mehr als 900 Einwohnern der Gemeinde Gangelt ergeben, dass es dort fünfmal mehr Infektionen gab als zuvor bekannt. Vor dem Hintergrund dieser Dunkelziffer von rund 15 Prozent, lag die Sterblichkeit derjenigen, die sich mit SARS-CoV-2 infizierten, bei 0,37 Prozent. „Diese Erkenntnis ist deshalb so wichtig, weil es sich hierbei um eine Eigenschaft des Virus handelt“, betont Streeck. Je nach Qualität des Gesundheitswesens und der Bevölkerungsschicht, in der das neuartige Coronavirus auftrete, werde sich die Sterblichkeitsrate immer um diesen Wert herumbewegen. „Die Rate liegt also nicht bei vier oder fünf Prozent, wie die offiziellen Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) das nahelegen, sondern deutlich darunter“, sagt Streeck. Er betont aber zugleich, dass die Sterblichkeitsrate deutlich höher liege als bei einer saisonalen Grippe. „Man darf hier weder bagatellisieren noch dramatisieren“, meint er.

Der Studie zufolge hat zudem jeder fünfte Corona-Infizierte in Gangelt keine Krankheitssymptome gezeigt. Überraschend gering sei mit rund 15 Prozent das Risiko einer Ansteckung mit SARS-CoV-2 innerhalb der Familie oder des Haushalts ausgefallen. Das sei eine ähnliche Infektionsrate wie bei anderen respiratorischen Viren, beispielsweise den Influenzaviren, SARS oder MERS und sie stehe im Gegensatz zur Infektionsrate bei Rota- oder Noroviren, durch die sich in der Regel der ganze Haushalt anstecke. Wichtig ist dem Virologen zudem die Erkenntnis, dass die Rate von asymptomatischen Infektionen bei älteren oder vorerkrankten Menschen ebenso hoch ist wie bei jungen. Auch die Infektionswahrscheinlichkeit sei die gleiche. „Ich finde diesen Aspekt wichtig, um alten Menschen ein wenig die Angst zu nehmen“, sagt Streeck. Zwar sei das Risiko schwerer oder tödlicher Verläufe bei Älteren und Vorerkrankten höher. Eine Infektion mit SARS-CoV-2 bedeute aber auch für diese Patienten nicht automatisch ein Todesurteil.

 Anfangs fehlt es an Schutzausrüstung

Die Angst vor dem unbekannten Virus trieb am Anfang der Pandemie viele im Kreis Heinsberg um. „Keiner wusste, wie man mit einer solchen Situation umgehen sollte“, erinnert sich Dr. Ernst Lennartz an die Zeit direkt nach Karneval. Er ist Allgemeinarzt in Heinsberg und Vorsitzender der dortigen Kreisstelle der Ärztekammer Nordrhein. Viele Kranke seien damals mit ihren Beschwerden direkt in die Praxen gekommen – immer mit der Gefahr, dass sich andere Patienten und Praxismitarbeiter anstecken. Denn kaum eine Praxis habe in der Anfangszeit der Pandemie über ausreichend Schutzkleidung und Atemmasken verfügt. Damit stand zu befürchten, dass mitten in der ersten Erkrankungswelle reihenweise Arztpraxen schließen müssen, weil Mitarbeiter mit SARS-CoV-2 infiziert sind. 
 

„Wir waren anfangs für den Umgang mit potenziell coronainfizierten Patienten weder ausgerüstet noch geschult“, sagt Lennartz. Um Infektionen in den Praxen zu verhindern, errichteten der Kreis und das örtliche Gesundheitsamt zwei Corona-Abstrichzentren. Dort werden bis heute sämtliche Verdachtsfälle getestet. Rückblickend sei das genau die richtige Strategie gewesen: Verdachtsfälle nicht in den Praxen zu testen und Erkrankte in separaten Sprechstunden oder zu Hause zu behandeln, meint Lennartz.

„Dass die Corona-Pandemie bislang recht glimpflich für uns verlaufen ist, liegt auch an einem wirklich guten Krisenmanagement beim Kreis“, sagt der Hausarzt. Zum einen habe es stets einen guten Austausch zwischen der Verwaltung, dem Gesundheitsamt, den niedergelassenen Ärzten und den Krankenhäusern gegeben. Zum anderen sei es auch im Nachhinein eine kluge Entscheidung von Gesundheitsamt und Kreisverwaltung gewesen, direkt am Aschermittwoch sämtliche öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Kindertagesstätten zu schließen. „Da hat der Rest der Republik ja noch drei, vier Wochen gebraucht“, sagt Lennartz. So habe am 7. März trotz mancher Warnung sogar noch das Lokalderby zwischen Borussia Mönchengladbach und Borussia Dortmund stattgefunden, im Borussia Park – 30 Kilometer von Heinsberg entfernt.

Alle hätten im Umgang mit der Pandemie viel lernen müssen. Die Arztpraxen seien anfangs mit Informationen regelrecht überflutet worden. Um der Lage Herr zu werden, habe man zuweilen auch Linien überschreiten und Kompromisse eingehen müssen. „Ich konnte mir außerdem vor Corona nicht vorstellen, Patienten am Telefon krankzuschreiben oder Kreisstellensitzungen per Videokonferenz durchzuführen“, erklärt Lennartz. 

Die Erfahrungen rüsten für eine mögliche zweite Welle

Fühlt er sich jetzt besser gerüstet, falls es zu einer zweiten Erkrankungswelle kommt? Lennartz denkt nach: „Den Verlauf einer Pandemie kann man nicht planen“, meint er. „Unser Vorteil ist jetzt, dass wir das Ganze am eigenen Leib erfahren haben. Wir sind ganz anders sensibilisiert.“ Das bedeute, dass man schneller und auch konsequenter reagieren könne. Auch wenn ein Lockdown für die Menschen in Städten oder ganzen Kreisen unbequem sei. „Deshalb glaube ich, dass es nicht noch einmal so schlimm kommen wird“, sagt der Hausarzt.
 

Eine positive Zwischenbilanz zieht auch Dr. Harry Elsbernd, Ärztlicher Direktor und Chefarzt für Gastroenterologie, Stoffwechselerkrankungen und Onkologie am Hermann-Josef-Krankenhaus in Erkelenz. Mit 400 Betten ist es das größte der insgesamt drei Krankenhäuser im Kreis. „Wir haben gleich zu Beginn der Pandemie, als die ersten Patienten eintrafen, unsere Palliativstation zur Isolierstation umgerüstet“, erläutert Elsbernd. Die Station liege im Erdgeschoss und sei von außen gut zugänglich, sodass mit Corona infizierte Patienten nicht erst durch das ganze Krankenhaus transportiert werden mussten. Bei steigenden Patientenzahlen habe man zusätzliche Kapazitäten in der angrenzenden Geriatriestation schaffen können. Zur Behandlung der COVID-19-Patienten sei eine feste Gruppe von Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften abgestellt worden. Für besonders schwer Erkrankte standen – ebenfalls isoliert – auf der Intensivstation neun Beatmungsplätze zur Verfügung. „Mit dieser Struktur sind wir bisher gut durch die Pandemie gekommen“, betont der Ärztliche Direktor. 

Die Zusammenarbeit mit den Unikliniken verläuft reibungslos

Im Hermann-Josef-Krankenhaus wird Ende Februar der erste intensivpflichtige COVID-19-Patient in Deutschland behandelt. Der Mann muss nach drei Tagen in die Uniklinik Düsseldorf verlegt werden. „Wir hatten schon früh Kontakte zu den umliegenden Maximalversorgern geknüpft für den Fall, dass wir Patienten nicht weiterbehandeln können“, sagt Elsbernd. „Die Zusammenarbeit war durchweg sehr kollegial und unproblematisch.“ Die Folge für Erkelenz: „Wir hatten zu jedem Zeitpunkt ausreichend viele Betten“, sagt Elsbernd. Allerdings hätten die kleineren Häuser in Geilenkirchen und Heinsberg deutlich mehr unter Druck gestanden, schon allein deswegen, weil deren Patientenzahlen aufgrund der Nähe zu Gangelt höher gewesen seien.

Ein großes Problem zu Beginn der Pandemie war Elsbernd zufolge der Mangel an Schutzkleidung und Atemschutzmasken. Bei der Suche nach pragmatischen Lösungen habe sich die jahrelange gute Zusammenarbeit der drei Krankenhäuser im Kreis ausgezahlt. „Es war extrem schwierig, Quellen aufzutun, die noch Schutzausrüstung liefern konnten“, sagt Elsbernd. „Wenn ein Krankenhaus es geschafft hatte, eine größere Menge an Schutzkitteln zu beschaffen, haben wir die untereinander aufgeteilt. So hat es am Ende zum Glück immer gereicht.“ Das sei sicherlich auch ein Grund dafür, dass sich nur sehr wenige Mitarbeiter am Hermann-Josef-Krankenhaus mit SARS-CoV-2 infiziert hätten.

Neben dem Mangel an Schutzausrüstung sei auch die Sorge vor Ansteckung sehr belastend für die Ärzte und Pflegekräfte auf der Isolierstation gewesen, blickt Esbernd zurück. Insbesondere die Angst davor, die Infektion womöglich in die eigene Familie zu tragen, habe vielen zu schaffen gemacht. „Hier dennoch couragiert weiterzumachen, ist aus meiner Sicht eine hoch anerkennenswerte Leistung“, sagt der Ärztliche Direktor. 
 

Die wichtigste Lehre: Pandemien sind nur gemeinsam zu meistern

Können andere vom Umgang mit COVID-19 im Kreis Heinsberg lernen? „Die für mich wichtigste Lehre ist, dass man Pandemien nur gemeinsam meistern kann“, sagt Elsbernd. Die Kooperation der Kliniken untereinander müsse ebenso reibungslos verlaufen wie die mit den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Zudem benötige man ein gutes und effektives Gesundheitsamt sowie auf Kreisebene einen guten Krisenstab mit engagierten Leuten. „Das haben wir hier gehabt“, sagt Elsbernd. Auch die Bevölkerung habe die zum Teil erheblichen Einschränkungen, wie zum Beispiel das Besuchsverbot im Krankenhaus, gut mitgetragen. 

Aktuell ist die Lage im Kreis nicht besorgniserregend

Ähnlich wie Hausarzt Lennartz fühlt sich auch Elsbernd besser gerüstet, für den Fall, dass die Infektionszahlen im Herbst wieder steigen. „Wir können jetzt auf wertvolle Erfahrungen zurückgreifen“, sagt er. Außerdem sei der Mangel an Schutzausrüstung inzwischen weitgehend behoben. Nicht gelöst sei hingegen das Problem, dass die Corona-Pandemie den Mangel an bestimmten Arzneimitteln wie Antibiotika und Sedativa verschärft habe. „Hier müssen ausreichende Reserven geschaffen werden“, fordert der Chefarzt. Ebenfalls wünschenswert sei es, die Erreichbarkeit von Ansprechpartnern in Behörden wie dem RKI oder in Ministerien zu verbessern. Er wolle das nicht als Kritik verstanden wissen, meint Elsbernd. Denn die Mitarbeiter dort hätten alle unter besonderen Bedingungen versucht, ihr Bestes zu geben. „Aber gerade, wenn man unter Zeitdruck steht, wäre es gut, wenn man einen direkten Ansprechpartner für die eigene Region hätte.“

Die gute Zusammenarbeit aller Beteiligten war auch für Stephan Pusch der Schlüssel zum Erfolg im Kampf gegen die Pandemie. Mit Entschlossenheit, Unaufgeregtheit, Teamgeist, Transparenz und einer großen Portion Solidarität „haben wir die Gesamtsituation gut gemeistert“, sagt der Landrat, der mit seinen regelmäßigen Videobotschaften zur Corona-Lage inzwischen weit über den Kreis Heinsberg hinaus bekannt ist. Aktuell sei die Lage vor Ort nicht besorgniserregend. „Wir haben immer wieder einzelne Infektionen zu verzeichnen, allerdings keine Hotspots und nur vereinzelt Erkrankte in den Krankenhäusern“, sagt Pusch.

Muss man dennoch im Herbst mit einer zweiten Infektionswelle rechnen? Virologe Streeck bemüht ein anderes Bild: „Wir befinden uns in einer Dauerwelle, weil die Infektionszahlen in Zukunft immer auf und ab wabern werden.“ Man müsse sich verabschieden von der Vorstellung, das Virus austreiben zu können. „SARS-CoV-2 ist Teil unseres Lebens geworden“, sagt Streeck. Wichtiger als ausschließlich auf die Zahl der Infektionen zu schauen sei es deshalb, sich die Schwere der Krankheitsverläufe anzuschauen. So sei zwar Ende Juli die Zahl der Infektionen wieder angestiegen. Dabei habe es sich aber – begünstigt durch den Sommer, in dem sich die Menschen viel draußen an der frischen Luft aufhalten – meist um asymptomatische oder niedrigsomatische Infektionen gehandelt. Man dürfe nicht vergessen, dass auch bei SARS-CoV-2 die Infektionsdosis entscheidend dafür sei, ob jemand erkranke und wenn ja, wie schwer. Mit Blick auf den Herbst, wenn sich die Menschen wieder vermehrt in geheizten Räumen aufhalten werden, sei es deshalb umso wichtiger, die AHA-Regeln einzuhalten: Abstand halten, Hände waschen und Mund-Nasen-Schutz tragen, wenn der Abstand nicht gewahrt werden könne.    
 

SARS-CoV-2-Folgestudie in Heinsberg

Ein Team aus Wissenschaftlern um den Bonner Virologen Professor Dr. Hendrik Streeck wird in den kommenden Monaten in einer Studie in Gangelt im Kreis Heinsberg der Frage nachgehen, welche Immunreaktion Menschen entwickeln, die sich mit SARS-CoV-2-infiziert haben. Das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium fördert die Langzeitstudie mit knapp 800.000 Euro.

Im März und April hatte ein Forschungsteam bereits die Verbreitung des Virus in der Bevölkerung in Gangelt mithilfe von Antikörper- und PCR-Tests untersucht. Bei 15 Prozent wurde eine Infektion nachgewiesen. Jetzt sollen alle bereits getesteten Personen im Abstand von mehreren Monaten erneut untersucht werden, um herauszufinden, ob die Personen, die Antikörper haben, auch wirklich immun sind, wie Streeck erklärt. Bislang sei unklar, ob Antikörper vor einer erneuten Infektion schützen und ob viele überwundene Infektionen innerhalb der Bevölkerung das Infektionsgeschehen bremsen können. Seine Hypothese sei, dass die mutmaßliche Teilimmunität in der Gemeinde das Infektionsgeschehen verlangsamen könnte, sagt Streeck. Als Vergleich dient den Wissenschaftlern die Gemeinde Eitorf in der Nähe von Bonn, in der es kaum SARS-CoV-2-Infektionen gab. Das Projekt läuft bis Mai 2021.