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Praxis

Ethische Beratung im Fall einer Therapielimitierung während der COVID-19-Pandemie: Ein Fallbeispiel

26.08.2020 Seite 23
RAE Ausgabe 9/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2020

Seite 23

Der Umgang mit schwerstkranken Patienten und die damit oft verbundene Frage nach einer Therapiebegrenzung stellt Ärztinnen und Ärzte vor schwere ethische Fragestellungen. Eine medizinethische Beratung stellt den Patienten ins Zentrum der Diskussion und unterstützt Angehörige und Behandlungsteam, die jeweiligen Anliegen zu kommunizieren und zu einem Konsens zu kommen. Das folgende Fallbeispiel zeigt, dass die Corona-Pandemie zusätzliche Ängste und Sorgen bei den Angehörigen hervorrufen kann, die in der Beratung beachtet werden müssen. 

von Dagmar Schmitz und Dominik Groß

Bei Frau H. handelt es sich um eine 63-jährige Patientin mit komplikationsreichem Verlauf nach einer Nierentransplantation im Jahr 2019. Sie wird seit sieben Wochen auf der internistischen Intensivstation einer deutschen Klinik der Maximalversorgung behandelt. Zu diesem Zeitpunkt (Stand: Anfang April 2020) wird ein beträchtlicher Teil der Intensivbetten des Krankenhauses für COVID-19-Patienten vorgehalten – die Corona-Pandemie hat gerade einen (vorläufigen) Höhepunkt erreicht.

Medizinische Vorgeschichte

Frau H. erhielt bei terminaler Niereninsuffizienz im Dezember 2019 eine allogene Nierentransplantation (Lebendspende des Ehemanns). Nach initial komplikationslosem postoperativem Verlauf und guter Funktion des Transplantates entwickelte Frau H. eine pneumogene Sepsis, in deren Folge sie langzeitbeatmet werden musste. Mitte Januar 2020 konnte die Patientin nach abgeschlossenem Weaning in eine Reha-Einrichtung verlegt werden. Drei Wochen später erfolgte jedoch die Rückverlegung in die intensivstationäre Betreuung aufgrund einer erneuten pneumogenen Sepsis. Die Patientin bot im Verlauf rezidivierende pneumogene Septitiden und das Weaning gestaltete sich bei chronischer Besiedlung der Lunge mit einem multiresistenten Keim schwierig. Bei progredientem Transplantatversagen wurde eine Wiederaufnahme der Dialyse – zunächst intermittierend, dann kontinuierlich – notwendig.

Als das Ethikkomitee die Beratungsanfrage erhält, ist die Patientin über eine Trachealkanüle beatmet und nur eingeschränkt kontaktfähig. Im Rahmen der Septitiden ist es zu kleinen Hirnblutungen gekommen, wobei noch unklar ist, wie diese sich auf die neurologische Prognose der Patientin auswirken. Eine Einwilligungsfähigkeit besteht nicht. 

Soziale Vorgeschichte

Frau H. ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Der Ehemann sowie die älteste Tochter sind gleichberechtigt vorsorgebevollmächtigt. Es existiert eine Patientenverfügung aus dem Jahr 2019, in der die Patientin festgehalten hat, dass sie im Falle einer zu erwartenden dauerhaften schweren Pflegebedürftigkeit (beispielsweise aufgrund einer Hirnfunktionsstörung) keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünscht und auch nicht dauerhaft auf Geräte, wie  eine Nierendialyse, angewiesen sein möchte. 

Anfrage an die Ethikberatung

Das intensivstationäre Behandlungsteam stellt sich zunehmend die Frage, ob die aktuelle Maximaltherapie noch im Sinne der Patientin ist beziehungsweise, ob es nicht geboten ist, über eine Therapielimitierung nachzudenken. Im Moment erscheint es höchstwahrscheinlich, dass die Patientin dauerhaft auf Beatmung, Dialyse und Intensivpflege angewiesen sein wird. Wie sich die neurologische Prognose der Patientin entwickeln wird, ist unklar.

In den wiederholt geführten Angehörigengesprächen der beiden vorausgegangenen Wochen, die aufgrund der Pandemiesituation und des bestehenden Besuchsverbots größtenteils telefonisch geführt wurden, haben sich der Ehemann sowie die Tochter auf die Frage nach dem mutmaßlichen Patientenwillen wortkarg und weitgehend unzugänglich gezeigt. Daher fasst der behandelnde Oberarzt den Entschluss, beide bevollmächtigten Angehörigen zum persönlichen Gespräch in die Klinik einzuladen. Hier verhalten sich die Angehörigen zunächst sehr still, äußern jedoch zwischen den Zeilen Unverständnis gegenüber den Bedenken des Teams: Frau H. habe bereits so viel überstanden und die Situation habe sich ja auch nicht grundlegend geändert, sodass doch eigentlich kein Grund bestehe, die Therapie zu limitieren. Auf weitere Erklärungsversuche des Oberarztes unterstellt der Ehemann plötzlich, dass man doch nur die Station „leerräumen“ wolle, um „Platz für die ganzen Corona-Patienten“ zu schaffen. Da sei seine Frau wohl im Weg. Er werde einer Therapielimitierung niemals zustimmen. Die Tochter der Patientin verhält sich weiterhin still, bricht dann schließlich in Tränen aus. Das Gespräch wird daraufhin beendet. Man verständigt sich auf einen neuerlichen Gesprächstermin, und der Oberarzt kündigt zugleich an, das zuständige Klinische Ethik-Komitee (KEK) um eine Fallberatung zu bitten.

Was kann die Ethikberatung tun?

Schritt 1: Klärung der Anliegen


Auch wenn in der Frage der Therapielimitierung offensichtlich ein Konflikt zwischen dem Ehemann der Patientin und dem Behandlungsteam entstanden ist, so haben doch ganz unterschiedliche Anliegen der Parteien zu der beschriebenen Konfliktsituation geführt. Erste Aufgabe der Ethikberatung ist es daher, die Anliegen – und etwaige Missverständnisse und Fehlannahmen – der Konfliktparteien zu klären und für alle Beteiligten transparent und nachvollziehbar zu machen. Dies kann beispielsweise in Form von Einzelgesprächen sowohl mit dem Behandlungsteam (gegebenenfalls auch separat mit den jeweiligen Fachvertretern) als auch mit der Patientin beziehungsweise ihrer Bevollmächtigten (auch hier sind gegebenenfalls Einzelgespräche hilfreich) geschehen.

In der vorliegenden Fallkonstellation kommt der Klärung der Anliegen eine besondere Bedeutung zu, da die Möglichkeiten der Kommunikation mit den Angehörigen aufgrund der Kontaktbeschränkungen und des Krankenhausbesuchsverbotes in der Pandemiesituation stark eingeschränkt waren. Die dadurch hervorgerufenen Kommunikationsdefizite auf beiden Seiten erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Missverständnisse, falsche Vorannahmen und (in der Konsequenz) für Konflikte – gerade in ethisch komplexen Situationen.
 
Es zeigt sich auf der Seite des Behandlungsteams die grundlegende Sorge, der Patientin durch Übertherapie zu schaden, da immer deutlicher wird, dass die von der Patientin gewünschten Therapieziele kaum noch erreichbar sind. Die Perspektive des vorsorgebevollmächtigten Ehemanns ist vor allem geprägt von der Sorge um eine Benachteiligung seiner Frau als Patientin angesichts der aktuellen Corona-Pandemie. Er verfolgt täglich in den Medien, dass ganze Stationen – gerade im intensivmedizinischen Bereich – für die befürchtete Welle an COVID-19-Patienten freigehalten beziehungsweise „umgewidmet“ werden. Der Ehemann befürchtet, dass seine Frau in dieser Ausnahmesituation nachgeordnet versorgt wird. Im Einzelgespräch mit der ebenfalls vorsorgebevollmächtigten Tochter zeigt sich, dass diese die Sorge ihres Vaters nicht teilt. Sie hat vielmehr den Eindruck, dass der Vater das Wohl seiner Ehefrau aus den Augen verliert, weil er selbst erkennbar mit der Bewältigung ihrer schwerwiegenden Erkrankung befasst ist. Sie weiß aber nicht, wie sie diese Sorge gegenüber dem offenkundig stark belasteten Vater thematisieren soll.

Schritt 2: Ethische Diskussion


Im nächsten Schritt werden die erarbeiteten Anliegen in einem geeigneten Gesprächsformat mit allen Beteiligten erörtert. Erklären sich die Konfliktparteien hierzu bereit, so bietet sich ein gemeinsames, von einer Ethikberaterin oder einem Ethikberater moderiertes Gespräch an. Gegebenenfalls können zusätzliche Gesprächspartner (etwa der konsiliarisch tätige Neurologe) hinzugezogen werden. Folgende Themen sind hierbei zu diskutieren:

a)    Patientenwohl

Das übergeordnete, intrinsische Ziel jeder medizinischen Behandlung ist das Wohl des individuellen Patienten. Regelmäßig ist insbesondere bei Langzeit-Patienten zu evaluieren, ob die initiierten Maßnahmen noch geeignet, also „medizinisch indiziert“ sind, um die Therapieziele zu erreichen. Letztere müssen stets am Wohl des Patienten orientiert sein. Dementsprechend muss der mögliche Nutzen einer Behandlungsmaßnahme gegen potenziellen Schaden abgewogen werden. In der vorliegenden Fallkonstellation ist interdisziplinär und multiprofessionell abzuschätzen, welche Therapieziele (zum Beispiel Respiratorfreiheit) gegebenenfalls noch erreicht werden können und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies der Fall ist. Wenn kein sinnvolles Therapieziel mehr definiert beziehungsweise erreicht werden kann – man spricht in derartigen Fällen von „Futility“, auf deutsch Sinnlosigkeit –, ist die Therapie einzustellen.

b)    Patientenwillen

Indizierte medizinische Maßnahmen dürfen nur dann durchgeführt werden, wenn sie von dem betroffenen Patienten autorisiert wurden. Darum ist zu diskutieren, ob die verbliebenen, maximal erreichbaren Therapieziele für die Patientin noch erstrebenswert sind und ob diese sich mutmaßlich bereitfände, die daraus erwachsenden Belastungen in Kauf zu nehmen. Verschiedene Quellen können über den Patientenwillen Aufschluss geben. Neben der Patientenverfügung, die eine schriftliche Willensbekundung darstellt, ist hierbei auch der mutmaßliche Patientenwille, der von den beiden bevollmächtigten Stellvertretern der Patientin (Ehemann und Tochter) geschildert wird, einzubeziehen. 

c)    Gerechtigkeit

Ein weiteres grundlegendes ethisches Prinzip ist das der Gerechtigkeit. Der Ehemann der Patientin äußert Bedenken, die genau dieses Kriterium betreffen: Er beschuldigt den Oberarzt, seiner Ehefrau die weitere intensivmedizinische Behandlung zugunsten von COVID-19-Patienten vorenthalten zu wollen. Damit spricht er die Frage der Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit an. In der Tat wäre es ungerecht, einer bedürftigen Patientin den Zugang zu einer Intensivtherapie zu verwehren, weil man die Behandlung von COVID-19-Patienten priorisiert. In den vorangegangenen Wochen wurde in den Medien viel über „Triage im Angesicht der Corona-Pandemie“ berichtet und damit wurden gerade bei medizinischen Laien auch Ängste geschürt [1]. Im Kern geht es bei der besagten Triage um die Festlegung von Kriterien für den Fall, dass die benötigten Behandlungskapazitäten nicht für alle Patienten ausreichen (Überlastungssituation). In diesem Fall wäre (neben dem Patientenwillen) die kurzfristige Prognose entscheidend: Demnach hätten Patienten, die von der Intensivbehandlung mutmaßlich am meisten profitieren, Vorrang gegenüber Kranken, denen kaum (Überlebens-)Chancen eingeräumt werden.

Grundsätzlich ist ein Triage-System mit festgeschriebenen Kriterien und Handlungsanweisungen in Pandemiesituationen wichtig und sinnvoll – auch weil es die Behandler aus der persönlichen Entscheidungsverantwortung nimmt. Zudem gilt: Nicht die Art der Erkrankung (COVID-19 oder nicht), sondern die individuelle Prognose eines Patienten in Kombination mit dem (mutmaßlichen) Patientenwillen sind für eine Triage-Entscheidung leitend. Dennoch ist ausdrücklich zu betonen, dass die Triage keine wünschenswerte Situation darstellt. Sie ist vielmehr als ultima ratio anzusehen in Fällen, in denen die Behandlungsplätze beziehungsweise -ressourcen nicht reichen, um so die bestmögliche Versorgung möglichst vieler Patienten sicherzustellen.

Im vorliegenden Fall sind die Bedenken des Ehemanns vollkommen unbegründet: Das Behandlungsteam hatte weder die Absicht noch die akute Notwendigkeit zu triagieren, sondern orientierte sich allein am verfügten beziehungsweise mutmaßlichen Patientenwillen. Die Position des Ehemanns sollte dennoch nicht als Vorwurf aufgefasst werden, sondern als eine Sorge, der man sachlich und professionell begegnet.

Schritt 3: Vereinbarung


Nachdem die unterschiedlichen Anliegen der Beteiligten transparent gemacht wurden und das wechselseitige Verständnis für die Sichtweisen der Parteien durch die gemeinsame Diskussion und die Erörterung der vorgenannten Prinzipien gewachsen ist, gilt es, einen Konsens zu finden. Begrenzende Bezugspunkte einer solchen Konsensfindung sind die genannten ethischen Prinzipien. Ein „Agreement“ der Konfliktparteien, das nicht an den relevanten ethischen Prinzipien orientiert ist, wäre demnach aus beraterischer Sicht kein akzeptables Gesprächsergebnis.

In einigen Fällen bietet sich ein prozedurales Vorgehen an. Dies bedeutet, dass ein weiterer Gesprächstermin (oder gegebenenfalls mehrere Termine in festgelegten Abständen) vereinbart wird. Hier kann die Zwischenzeit genutzt werden, um den weiteren Krankheitsverlauf zu beobachten, die Prognose (zuverlässiger) einschätzen zu können und um die im Gespräch angeführten Argumente und Sichtweisen der jeweils anderen Partei in Ruhe zu durchdenken. Nicht selten brauchen beispielsweise Angehörige Zeit, sich mit dem Gedanken an das nahende Ende des geliebten Menschen vertraut zu machen und zwischen dem eigenen Wunsch, den Patienten nicht zu verlieren, und dem mutmaßlichen Patientenwillen zu differenzieren. Aufgabe der Ethikberatung ist hierbei, die Konfliktparteien im Prozess der Interessens- und Konsensfindung zu unterstützen und die Ausgangsbedingungen im Diskurs anzugleichen, zum Beispiel Informationsdefizite auszugleichen und allen die aktive Teilnahme am Diskurs zu ermöglichen.

Im vorliegenden Fall müsste der Fokus zunächst darauf liegen, die Bedenken des Ehemannes aus der Welt zu räumen und das Benachteiligungsverbot sicherzustellen. Das Behandlungsteam sollte ausdrücklich sicherstellen und wahrheitsgemäß zusagen, dass etwaige Triageaspekte bei der Entscheidungsfindung keine Rolle spiel(t)en. In einem zweiten Schritt sollte es dann allen Beteiligten besser möglich sein, den mutmaßlichen Patientenwillen in den Blick zu nehmen. Sollte es zu einer Vereinbarung in Richtung Therapielimitierung kommen, ist es wichtig, dass die verantwortliche ärztliche Vertreterin des Behandlungsteams deutlich macht, dass sie schlussendlich die medizinische Entscheidung trifft, die Therapie zu limitieren – gerade um den Angehörigen nicht den Eindruck zu vermitteln, dass sie den Tod des geliebten Menschen beschließen und moralisch verantworten müssen. 


Privatdozentin Dr. Dagmar Schmitz ist Geschäftsführerin des Klinischen Ethik-Komitees (KEK) der Uniklinik RWTH Aachen. Universitätsprofessor Dr. Dominik Groß ist Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen und Vorsitzender des KEK an der Uniklinik RWTH Aachen. Er ist außerdem Mitglied des Gründungsausschusses für das Komitee für medizinethische Beratung der Ärztekammer Nordrhein. 


Hinweis


[1]    Besondere Irritationen und Ängste erzeugte in der medialen Diskussion die Frage, ob betagte Patienten in einer Triage-Situation allein aufgrund eines hohen kalendarischen Alters ausgeschlossen werden sollten. Bei diesem Diskussionspunkt waren und sind weitere ethisch relevante Aspekte berührt: die Frage der intergenerationellen Gerechtigkeit und die Frage der Altersdiskriminierung (agism).