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Interview

Ein „gesundes“ langes Leben trotz HIV ist möglich

22.07.2021 Seite 26
RAE Ausgabe 8/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 8/2021

Seite 26

Dr. Stefan Scholten ist Allgemeinmediziner und seit 2005 als HIV-Schwerpunktarzt in der Kölner Innenstadt niedergelassen. Sein Praxisteam besteht aus 18 Mitarbeitern, darunter fünf Ärztinnen und Ärzte. Angegliedert ist eine eigene Abteilung für die Beteiligung an Medikamenten- und Therapiestudien. © privat
Vor 40 Jahren wurde das Krankheitsbild Aids erstmals wissenschaftlich erwähnt. Seither hat sich die HIV-Therapie soweit verbessert, dass die Vermehrung des Virus im Körper gestoppt werden kann, was den Betroffenen unter Behandlung ein fast normales Leben ermöglicht. Trotz dieser Fortschritte erkranken in Deutschland jährlich rund 1.000 Menschen an Aids. HIV-Schwerpunktarzt Dr. Stefan Scholten über die zum Teil schwerwiegenden Folgen für die Patienten, noch immer bestehende Vorurteile und den verkrampften Umgang mit Sexualität auch in deutschen Arztpraxen

RÄ: Herr Dr. Scholten, Sie betreiben eine Schwerpunktpraxis für die Versorgung HIV-Infizierter in Köln. Wie sieht Ihr Praxisalltag aus?
Scholten: Im letzten Jahr haben wir in unserer Praxis 4.800 Menschen behandelt, darunter waren knapp 800 HIV-Patienten. Dazu kommen noch 650 Patienten, die eine Präexpositionsprophylaxe (PrEP) in Anspruch nehmen. 
Unsere Patienten sind zu einem großen Teil schwule Männer, bei denen in den westlichen Industrienationen die HIV-Prävalenz ja auch am höchsten ist. Unser Angebot – hausärztliche Versorgung mit Schwerpunkt HIV – hat sich in der Community herumgesprochen. Unsere Patienten finden es hier weniger problematisch über Sexualität, HIV oder auch andere sexuell übertragbare Krankheiten zu sprechen. Das ist in anderen Praxen nicht selbstverständlich, nicht einmal in einer als liberal geltenden Großstadt wie Köln. 

RÄ: Vor 40 Jahren wurde HIV/Aids erstmals wissenschaftlich beschrieben. Was hat sich seither in Diagnostik und Therapie verändert? 
Scholten: Anfangs war das Wissen über die Erkrankung mehr als dürftig. Was da für ein Unsinn verbreitet wurde – auch von Wissenschaftlern, die eine HIV-Infektion in erster Linie auf den „unnatürlichen“ Sexualverkehr zurückführten. 
Bevor in den 1980er- und 1990er-Jahren die ersten Therapien auf den Markt kamen, war eine HIV-Diagnose assoziiert mit Leid und Tod. Der wirkliche Durchbruch in der Behandlung kam dann 1996 mit der Kombinationstherapie, bei der man mehrere Medikamente gleichzeitig gibt. Ich habe eine ganze Reihe von Patienten, die vor 26 Jahre ihre erste Kombinationstherapie erhalten und bis heute keine nachweisbare Viruslast haben. Die Patienten sind allerdings nicht geheilt. Das ist leider mit den derzeitigen Therapien nicht möglich. Bricht man die Therapie ab, steigt mit einer kurzen Verzögerung auch die Viruslast wieder an und der Schaden für das Immunsystem ist immens. 

RÄ: Wie ist die Lebensqualität der Patienten unter der Therapie?
Scholten: Die Mehrheit der HIV-Therapien sind inzwischen coformuliert, das heißt, die Patienten nehmen einmal am Tag eine Tablette ein. Stärkere Nebenwirkungen treten extrem selten auf. Was den Einnahmekomfort und die Teilnahme am Alltagsleben angeht, sind die Therapiefortschritte enorm. Die Chance, trotz HIV ein „gesundes“, langes Leben zu führen, hat sich erheblich verbessert. 
Man darf die HIV-Infektion aber auch nicht bagatellisieren. Der Aufwand, den wir betreiben, ist sehr hoch, weil wir die Patienten sehr engmaschig screenen müssen. Zum Beispiel kommt das Analkarzinom bei Menschen mit einer HIV-Infektion 200-mal häufiger vor als in der übrigen Bevölkerung. Ähnliches gilt für das Cervixkarzinom. Ganz allgemein ist das Risiko für Krebs- und kardiovaskuläre Erkrankungen sehr viel höher als im Rest der Bevölkerung.

RÄ: Trotz aller Fortschritte wird jedes Jahr bei rund 1.000 Menschen in Deutschland eine HIV-Infektion so spät erkannt, dass diese an Aids erkranken. Warum?
Scholten: Es gibt zu wenige Ärztinnen und Ärzte, die ihren Patienten einfach und unkompliziert einen HIV-Test anbieten. Vielleicht ist HIV zu sehr aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass wir in Deutschland ein verkrampftes Verhältnis zur Sexualität haben – gerade auch unter Ärztinnen und Ärzten. Ein Bronchialkarzinom vom Rauchen zu haben, gilt als weniger anrüchig, als wenn sich jemand beim Sex mit HIV infiziert hat. Viele Patienten haben einen monate- oder sogar jahrelangen Diagnose-Marathon hinter sich, bevor endlich ein HIV-Test gemacht wird. 

RÄ: Was müsste sich ändern? 
Scholten: Wir brauchen eine Normalisierung im Umgang mit HIV und HIV-Diagnostik – dasselbe gilt im Übrigen für andere sexuell übertragbare Krankheiten. Doch wir erleben es immer noch, dass Patienten nach einem positiven Test in der Praxis ihre Akte in die Hand gedrückt bekommen mit der Aufforderung, sich einen anderen Arzt zu suchen. In einem solchen Fall trug die Arzthelferin dabei Handschuhe und einen Mundschutz. 
Stigmatisiert werden HIV-Patienten aber auch auf andere Weise, wenn sie zum Beispiel vor einer Röntgenuntersuchung ihre Diagnose im Anamnesebogen angeben müssen. Dabei ist das in dem Fall völlig irrelevant. 

RÄ: Welche Folgen tragen die Patienten davon, wenn die HIV-Diagnose erst sehr spät gestellt wird?
Scholten: Manche Patienten entwickeln schwere Folgeerkrankungen. Es gibt eine ganze Reihe von typischen, zum Teil lebensbedrohlichen Erkrankungen, die auf einen Mangel an Helferzellen zurückgehen. Dazu gehören das Kaposi-Sarkom, die Pneumozystis jirovecii Pneumonie oder Infektionen mit dem Cytomegalie-Virus, die zur Erblindung oder zu Hirnentzündungen führen können. Auch seltene Krebserkrankungen wie das Burkitt Lymphom sind assoziiert mit einer sehr niedrigen Zahl von Helferzellen. Und natürlich kann ein sehr schlechter Immunstatus auch akut tödliche Infektionsereignisse auslösen.
Das alles könnte man vermeiden, wenn durch rechtzeitige Tests eine HIV-Infektion früher nachgewiesen würde. 

RÄ: Als wirksamer Schutz vor einer HIV-Infektion gilt die PrEP, die seit September 2019 von den Krankenkassen bezahlt wird. Wer profitiert davon am meisten?
Scholten: Die Patienten mit dem höchsten Risiko: Männer, die kondomlosen Sex mit Männern haben, alle Personen, die kondomlosen Sex mit Personen haben, bei denen eine unbehandelte HIV-Infektion bestehen könnte, sowie i.v. Drogengebraucher. Im Falle eines einmaligen ungeschützten Kontakts sollte die Möglichkeit einer PrEP innerhalb von bis zu 48 Stunden nicht vergessen werden.  
Die PrEP ist aus meiner Sicht im doppelten Sinne eine wirksame Präventionsmaßnahme. Sie bringt Menschen in die Praxen, die sich ansonsten nicht regelmäßig testen lassen würden. Tatsächlich gingen von den 20 HIV-Neudiagnosen, die wir im letzten Jahr gestellt haben, zehn auf Patienten zurück, die wegen einer PrEP in der Praxis waren. 

RÄ: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die HIV- Versorgung ausgewirkt?
Scholten: Um Kontakte zu reduzieren, haben manche Praxen bei gut eingestellten Patienten Laborkontrollen ausgesetzt oder nach hinten verschoben. Zum Teil haben Patienten ihre Medikamente gestreckt, weil sie sich aus Angst vor Ansteckung nicht in die Praxen getraut haben. Die Folge ist, dass wir wieder mehr Menschen sehen, bei denen eine Viruslast nachweisbar ist.
Meiner Ansicht nach fördert man die Adhärenz besser, wenn man die Viruslast regelmäßig misst und dem Patienten zeigt, dass sich die Mühe lohnt, weil das Virus noch immer unter der Nachweisbarkeitsgrenze liegt. Deshalb haben wir während der Pandemie unsere Praxisabläufe umorganisiert und Kontrolluntersuchungen fortgeführt. 


Das Interview führte Heike Korzilius