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Ethische Beratung bei einem Patienten mit ausgeprägtem Todeswunsch: Ein Fallbeispiel

10.12.2020 Seite 25
RAE Ausgabe 1/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 1/2021

Seite 25

Ärztinnen und Ärzte erleben immer wieder Patienten, die den Wunsch haben zu sterben. Im vorliegenden Fallbeispiel leidet der betroffene Patient an einer schweren chronischen Depression. Er wünscht sich eine palliative Begleitung beim freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken. Aus juristischer und berufsethischer Sicht ist eine palliative Begleitung des Sterbefastens möglich. Liegt eine psychiatrische Erkrankung dem Todeswunsch zugrunde, kommt einer medizinethischen Bewertung eine besondere Rolle in der Entscheidungsfindung zu.

von Barbara Kertz

Herr K. ist 80 Jahre alt und leidet seit vielen Jahren an einer schweren depressiven Störung. Seiner Hausärztin gegenüber äußerte er mehrfach, dass er sein Leben nicht mehr ertragen könne und keine Perspektive mehr sehe. Er suche daher nach einem Weg, aus dem Leben zu scheiden und wünsche sich Unterstützung und Hilfe von ärztlicher Seite.

Medizinische Epikrise

Bei Herrn K. trat erstmals im Jahr 2002 eine depressive Symptomatik auf. In den folgenden Jahren durchlitt er mehrere schwere depressive Episoden. Diese konnten anfangs immer wieder medikamentös gut eingestellt werden. Nach dem Tod seiner Ehefrau im Jahr 2011 verschlimmerten sich die depressiven Zustände, sodass mehrere stationäre Aufenthalte in der Psychiatrie notwendig wurden. Ende 2018 sowie im April 2019 unternahm Herr K. zwei Suizidversuche, welche zu mehrmonatigen stationären psychiatrischen Aufenthalten führten.
Darüber hinaus entwickelte sich ein Parkinson-Syndrom, das zu einer deutlichen Einschränkung der Mobilität und Aktivität beitrug. Nennenswerte internistische Vorerkrankungen bestanden nicht.

Soziale Vorgeschichte

Herr K. hatte eine leitende Position als Oberverwaltungsrat inne, bevor er mit 60 Jahren in den Vorruhestand versetzt wurde. Er ist seit 2011 verwitwet und hat einen Sohn. Diesem erteilte er eine umfassende Vorsorgevollmacht. Eine schriftliche Patientenverfügung existiert nicht. Er lebt seit einigen Jahren in einer großen Seniorenresidenz in einem eigenen Appartement und wird von einem ambulanten Pflegedienst versorgt. Es besteht der Pflegegrad drei. 

Anfrage an die Hausärztin

In seiner Funktion als Bevollmächtigter tritt der Sohn des Patienten zunächst an die palliativmedizinisch qualifizierte Hausärztin mit der Frage heran, welche konkreten Möglichkeiten es gebe, den großen Wunsch seines Vaters zu verwirklichen, bald sterben zu dürfen. Der Vater lehne alle lebensverlängernden Maßnahmen und auch einen erneuten Krankenhausaufenthalt kategorisch ab.

Es folgen mehrere eingehende Gespräche zwischen Herrn K. und seiner Hausärztin, bei denen teilweise auch der Sohn anwesend ist. In diesen Gesprächen äußert Herr K. eindringlich, dass er sein Leben so nicht mehr aushalte. Es mache alles keinen Sinn mehr. Er wolle so schnell wie möglich erlöst werden, am liebsten durch eine „Todesspritze“, so seine Worte. 

Die Hausärztin respektiert, dass der Patient einen  erneuten psychiatrischen Krankenhausaufenthalt ablehnt. Auch der Sohn unterstützt einen Verbleib des Vaters in seiner gewohnten Umgebung. Von einer akuten Suizidalität kann sich der Patient in den Gesprächen deutlich distanzieren.

Die Hausärztin bespricht mit Herrn K. und seinem Sohn offen die verschiedenen Möglichkeiten, sein Leben vorzeitig zu beenden. Sie macht dabei deutlich, dass sie aus berufsrechtlichen ebenso wie aus persönlichen, moralisch-ethischen Gründen nicht für eine aktive Sterbehilfe oder einen assistierten Suizid zur Verfügung stehe. Nach einer mehrwöchigen Bedenkzeit entscheidet sich der Patient für den freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (FVET) – er spricht von „Sterbefasten“ – und bittet die Hausärztin darum, diesen Prozess palliativ zu begleiten.

Daraufhin erfolgt die Anfrage an das Team der Spezialisierten Ambulanten Palliativ Versorgung (SAPV) Köln rechtsrheinisch mit der Bitte, Herrn K. beim Sterbefasten zu begleiten.

Ethische Fragestellung für das SAPV-Team

Der FVET ist nach jüngster Rechtsauffassung kein Suizid im Sinne der Selbsttötung nach Paragraf 217 Strafgesetzbuch (StGB), sondern wird als „Aufgabe des Lebens“ durch zum Tode führendes Unterlassen verstanden. Insofern besteht juristisch und berufsrechtlich kein Hinderungsgrund, Menschen in dieser Phase mit einer palliativen Symptomkontrolle zu begleiten. Die Bedeutung und der Einfluss der seit Langem bekannten depressiven Störung auf den Todeswunsch ist jedoch noch nicht hinreichend geklärt. 
Es stellte sich somit die Frage, ob es statthaft ist, dem Patientenwunsch zu entsprechen, oder ob eine erneute Einweisung in die Psychiatrie gegen den erklärten Willen des Patienten erzwungen werden muss. Eine Orientierung hierzu gibt das Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin zum freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken. Hier heißt es: „Die Entscheidung zum FVET treffen die entscheidungsfähigen Patientinnen und Patienten. Essen und Trinken ist keine medizinische Behandlung, deshalb kann weder für die Weiterführung noch für den Verzicht auf Essen und Trinken eine medizinische Indikation gestellt werden. Die Entscheidung über FVET liegt deshalb allein bei den Patientinnen und Patienten. Eine Aufklärung oder partizipative Entscheidungsfindung ist nicht notwendig und auch nicht sinnvoll. 
Bei relevanten psychiatrischen Grunderkrankungen kann die Entscheidung zum Verzicht auf Essen und Trinken auf krankheitsbedingten Einschränkungen der Urteilsfähigkeit beruhen und ist dann eben keine freie Entscheidung der Patientinnen und Patientennen. […] Vom Behandlungsteam sollte geprüft werden, ob der Entschluss zum Verzicht auf Essen und Trinken mit dem Ziel erfolgt, aufgrund unerträglichen anhaltenden Leidens den Tod frühzeitig herbeizuführen oder ob er in Appetitmangel oder anderen gastrointestinalen Symptomen als Folge der Grunderkrankung begründet ist.“

Weiteres Vorgehen

1.    Klärung der psychiatrischen Behandlungsoptionen


Mit Einwilligung des Patienten nehmen die zuständigen Ärztinnen und Ärzte des SAPV-Teams im Vorfeld Kontakt zu dem behandelnden Psychiater auf. Dieser kennt Herrn K. bereits seit einigen Jahren. Er berichtet, dass dieser schon seit Jahren unter ständiger gedrückter Stimmung, mangelndem Selbstvertrauen und Grübelzwang leide. In der langjährigen Anamnese seien verschiedenste medikamentöse Therapiekonzepte versucht worden. Diese hätten bisher keine durchgreifende Besserung erbracht. Ende 2018 und im Frühjahr 2019 habe der Patient zweimal versucht, sich zu suizidieren. Auch nach jeweils mehrmonatigen Aufenthalten in der Psychiatrie sei es dem Patienten emotional kaum besser gegangen. Es liege eine schwere chronifizierte depressive Erkrankung vor. Weitere Therapieoptionen gebe es seines Erachtens nicht. Auch einen erneuten stationären Aufenthalthalte er nicht für erfolgversprechend.

2.    Klärung der Einwilligungsfähigkeit des Patienten


Herr K. ist voll umfänglich orientiert. Zwar erscheint er im Rahmen der Depression etwas verlangsamt und gibt selber an, unter Konzentrationsstörungen zu leiden. Über die Tragweite seiner Entscheidung ist er sich aber in vollem Umfang bewusst. Diese Einschätzung wird von mehreren Ärzten und Palliativpflegefachkräften bestätigt.

3.    Interne Team-Absprache und ethische Bewertung


Nachdem alle Vorbefunde und die Einschätzungen der Vorbehandler (Hausärztin und Psychiater) eingeholt sowie persönliche Gespräche mit Herrn K. und seinem Sohn geführt wurden, erfolgt in einer ethischen Fallkonferenz eine Bewertung der Situation durch das zukünftige Behandlungsteam. Dieses setzt sich aus Ärzten, Pflegekräften und Seelsorgern zusammen. Es besteht Einigkeit in der Einschätzung, dass Herr K. an einer schweren chronischen Erkrankung leidet, die für ihn unerträgliches Leid mit sich bringt. Eine Aussicht auf Besserung besteht nicht.

4.    Weiterer Verlauf


Die Übernahme der palliativmedizinischen und -pflegerischen Versorgung kann erfolgen. Der Patient und sein Sohn sind sehr erleichtert über die Zusage. Herr K. folgt der Empfehlung des Palliativteams, eine schriftliche Patientenverfügung zu erstellen, die seine genauen Wünsche für das weitere Vorgehen festlegt. Herr K. verstirb 15 Tage nach Beginn des Sterbefastens gut symptomkontrolliert in seiner gewohnten Umgebung.

Abschließende Stellungnahme

Es werden immer wieder Anfragen an Palliativmediziner und/oder SAPV-Teams gestellt mit der Bitte, Menschen während des Sterbefasten zu begleiten. Dies ist bei einem einwilligungsfähigen Patienten aus juristischer und berufsethischer Sicht möglich. Wenn wie in diesem Fall eine schwerwiegende psychiatrische Erkrankung vorliegt, welche letztlich auch den Todeswunsch verursacht, kommt einer eingehenden Prüfung und ethischen Bewertung eine besonders wichtige Rolle zu. 


Barbara Kertzist Ärztin für Allgemein- und Palliativmedizin in einer Gemeinschaftspraxis in Köln und Mitglied des Gründungsausschusses für das Komitee für medizinethische Beratung der Ärztekammer Nordrhein.

 

Medizinethische Fallbeispiele im Rheinischen Ärzteblatt

Dieses sowie weitere Fallbeispiele der Mitglieder des Gründungsausschusses zu verschiedenen ethischen Fragestellungen sowie weitere Informationen finden sich auf der Homepage der Ärztekammer Nordrhein unter www.aekno.de/aerzte/medizinethische-beratung
Ärztinnen und Ärzten, die in ihrer täglichen Arbeit in Grenzsituationen geraten und sich mit Fragen beispielsweise zu den Themen Lebensanfang und Lebensende, mutmaßlicher und vorsorglicher Patientenwille oder Vorsorgevollmacht auseinandersetzen, können sich an den Gründungsausschuss für das Komitee für medizinethische Beratung der Ärztekammer Nordrhein wenden. 

Weitere Informationen erteilt Stefan Kleinstück, Referent für Psychiatrie, Substitution und Palliativmedizin der Ärztekammer Nordrhein, 0211 4302-2208 oder ethikberatung(at)aekno.de.