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Wissenschaft und Fortbildung - Aus der Arbeit der Gutachterkommission - Folge 123

Verkennen eines Basalzellkarzinoms am Augenlid

10.12.2020 Seite 27
RAE Ausgabe 1/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 1/2021

Seite 27

Wenn als Differenzialdiagnose einer unspezifischen entzündlichen Hauterkrankung eine ernste Erkrankung wie zum Beispiel ein Karzinom in Betracht kommt, ist spätestens beim Versagen einer zunächst begonnenen Lokaltherapie die Verdachtsdiagnose zu überdenken und eine feingewebliche Untersuchung indiziert.

von Günter Krieglstein, Ernst Jürgen Kratz und Beate Weber

Eine Patientin im Alter von Mitte 40 beanstandet die Behandlung durch ihren Augenarzt. Dieser habe trotz langjähriger Therapie eine bösartige Veränderung an ihrem Augenlid nicht erkannt. Noch im Dezember 2017 habe er die Lidveränderung als kosmetische Unebenheit abgetan. Erst im Juli 2018 sei dann ein Basalzellkarzinom festgestellt und eine ausgedehnte Operation erforderlich geworden, die bei fachgerechter Behandlung hätte vermieden werden können.
Nach den Behandlungsunterlagen des belasteten Augenarztes stellte sich die Patientin im September 2013 und dann Anfang Dezember 2017 vor. Zum letztgenannten Zeitpunkt wurde – ohne eine Fotodokumentation anzufertigen, die die Patientin den Unterlagen zufolge ablehnte – erstmals eine Unterlidveränderung mit der Diagnose „Zustand nach Hordeolum“ niedergelegt. Zur Anamnese hieß es, die Patientin habe „einen Knubbel am linken Auge, gerötet, sehr störend und mit geringem Sekretaustritt“. Der Arzt verordnete eine Antibiotikum-Kortison-Augensalbe zur Anwendung für zehn Tage.  Auch am 25. Januar 2018 wurde ein Hordeolum dokumentiert; die Augensalbe wurde auf ein anderes Präparat mit entsprechendem Wirkprinzip umgestellt. Bei der folgenden Vorstellung am 13. Februar 2018 dokumentierte der Augenarzt bei erneuter Umstellung der Augensalbe ohne weitere Befundbeschreibung wieder ein Hordeolum. Er legte eine Exzision für zwei Wochen später fest, ein Hinweis, den er am 2. März wiederholte.

Am 12. März 2018 untersuchte ein augenärztlicher Kollege des belasteten Augenarztes die Patientin in den gemeinschaftlichen Praxisräumen. Er stellte am linken Unterlid „eine kleine, zentrale Narbe mit Gefäßen, gelbliche Ablagerungen und eine Zyste der Bindehaut“ fest. Am 9. April dokumentierte derselbe Arzt: „Vernarbung am temporalen Unterliddrittel, Z.n. Chalazion, Bindehautzyste“. Die Behandlung mit einer Salbe sollte fortgesetzt werden und es wurde eine Wiedervorstellung nach drei Wochen sowie eine Fotodokumentation vorgesehen. Derselbe Eintrag findet sich unter dem Register „WV“ drei Wochen später. Die Salbenbehandlung wurde wie zuvor fortgeführt und es wurde erneut eine Wiedervorstellung nach drei Wochen zur Fotodokumentation vereinbart. Zu einem weiteren Termin am 29. Juni ist kein Befund dokumentiert, jedoch die Anordnung, die Salbentherapie fortzusetzen.

Vier Tage später wurde die Patientin wieder vom belasteten Augenarzt untersucht. Sie berichtete, sie habe die Augensalbe nicht mehr verwendet, da das Auge beim Blinzeln schmerze und es geblutet habe. Mit der Diagnose „Basaliom/Karzinogen“ wird eine operative Entfernung bei einem augenärztlichen Kollegen vorgeschlagen.
Die Patientin suchte aber sechs Tage später einen anderen Augenarzt auf, der sie umgehend mit der Verdachtsdiagnose eines Basalioms am Unterlid links zur operativen Behandlung in eine Augenklinik einwies. Zur Tumorkeilexzision kam es allerdings erst vier Wochen später. Die histologische Diagnose ergab ein Basalzellkarzinom mit notwendiger Nachresektion. Bei tumorfreien Rändern kam es nachfolgend zu einer Deckung mittels tarsokonjunktivaler Transplantation nach Hugh und Verschiebeplastik. Acht Monate später wurde eine Lidspalteneröffnung nötig.

Die Patientin reichte bei der Gutachterkommission private Fotos ein, die dem Jahr 2017 zugeschrieben werden. Sie zeigen eine zum Teil schmierig belegte Ulzeration der linken Unterlidkante mit Wimpernverlust, leicht aufgeworfenem Rand  und pathologischer Vaskularisation. Die Patientin erklärte, auch der belastete Augenarzt habe eine Fotodokumentation angefertigt. Von der nachbehandelnden Augenarztpraxis wurde eine Fotodokumentation zum Zeitpunkt der dortigen Erstkonsultation Anfang Juli 2018 eingereicht. Diese Fotoaufnahmen entsprechen dem Befund, der auf den privaten Fotos ersichtlich ist.

Bewertung


Der der Gutachterkommission angehörende Erstgutachter stellte einen Behandlungsfehler für den Zeitraum von Januar bis Anfang Juli 2018 fest.  Er führte aus, dass die Lidveränderung im Dezember 2017 fälschlicherweise unter der Diagnose des Zustands nach Hordeolum behandelt wurde, was als Diagnosefehler zu bewerten sei. Bei fehlendem Ansprechen der Lidveränderung auf eine Antibiotika-Kortison-Salbentherapie hätte spätestens im Januar 2018 die Diagnose überprüft werden müssen. Im weiteren Verlauf sei es versäumt worden, die Befunde näher darzustellen, so dass nicht gesagt werden könne, ob und wann ein reaktionspflichtiger Befund zwingend eine Probeexzision erfordert hätte. Eine Fotodokumentation zum Befund habe der belastete Augenarzt nicht beigebracht. Die Anfangsdiagnose nicht rechtzeitig zu überprüfen und eine Probeexzision zu unterlassen – letzteres stelle einen Befunderhebungsfehler dar –, hätten einem gewissenhaften Arzt nach Ansicht des Gutachters nicht unterlaufen dürfen. Allerdings wäre selbst bei korrekter Diagnose der Lidkantenveränderung Anfang Dezember 2017 vermutlich eine operative Therapie im Umfang der späteren Behandlung nötig geworden, so dass dem Augenarzt als Gesundheitsschaden nur die Therapieverzögerung um fünf bis sieben Monate samt der psychischen Belastung der Patientin anzulasten sei.

Die Patientin stellte daraufhin einen Antrag auf abschließende Begutachtung durch die Gutachterkommission. Sie führte darin aus, die Ereignisse reichten weiter zurück, als dies in der Karteikarte niedergelegt sei. Der belastete Augenarzt bestritt dies. 

Die Gutachterkommission ist nach ihrem Statut nicht berechtigt, wie ein Gericht Sachverhalte durch Partei- oder Zeugenvernehmungen zu ermitteln. Grundlage der Beurteilung ist allein der unstreitige Parteivortrag und die ärztliche Dokumentation. Damit beginnt der Sachverhalt wie im Erstgutachten beschrieben mit der Konsultation Anfang Dezember 2017. 

Fehldiagnose


Unstreitig ist nach den vorgelegten Unterlagen, dass der Lidbefund „Hordeolum“ ex post am linken Auge im Dezember 2017 eine Fehldiagnose darstellte. Die präoperative Fotodokumentation des Lidbefunds von Juli 2018 zeigt eine typische Befundkonstellation für ein Basalzellkarzinom: Einziehung der Lidkante, zentrale Ulzeration, Blutungsneigung, Substanzverlust der Lidkante, knotige Umgebung. Das Ausmaß des Befundes lässt nicht den Schluss zu, dass diese Veränderungen innerhalb weniger Wochen entstanden sein können. Dazu bedarf es größerer Zeiträume, sodass relevante differenzialdiagnostische Kriterien bereits im Krankheitsverlauf gegeben waren, die der belastete Augenarzt nicht erkannt hat.

Ob als Verdachtsdiagnose bei der Erstkonsultation aufgrund der Befundkonstellation tatsächlich eine entzündliche Veränderung der Maibom-Drüse in Frage kam, kann die Gutachterkommission in Ermangelung einer Fotodokumentation nicht entscheiden. 

Diagnosefindung durch Therapieversuch 


Halte man dem Augenarzt zugute, dass der Befund im Dezember 2017 tatsächlich am ehesten einer unspezifischen entzündlichen Veränderung entsprach, was in einer Augenarztpraxis häufiger vorkommt als die Differentialdiagnose eines Basalzellkarzinoms, dann hätte die Anwendung einer antientzündlichen und antiinfektiösen Lokaltherapie zunächst aus praktischen Erwägungen heraus dem Alltag entsprochen. Für solche Fälle ist die Vereinbarung eines Wiedervorstellungstermins zur Befundkontrolle geboten, denn es hätte sich schlagartig eine Besserung zeigen müssen. In seiner Stellungnahme gibt der Augenarzt an, dass die Patientin den vereinbarten Kontrolltermin im Januar erst eine Woche später wahrgenommen habe. Darauf kommt es aber nach Ansicht der Gutachterkommission bei der Beurteilung des Sachverhalts nicht an. Selbst wenn der Augenarzt weiterhin vorbringt, dass er eine Probeexzision vorgesehen habe, so hat er diese nachweislich erst Anfang Juli mittels Überweisung veranlasst.

Spätestens bei der Wiedervorstellung im Januar 2018, aber auch bei den fünf weiteren Konsultationen in seiner Praxis, wäre es erforderlich gewesen, die nicht abgeheilte Lidveränderung genauer in Augenschein zu nehmen und eine feingewebliche Untersuchung zu veranlassen. Das hat der Augenarzt fehlerhaft unterlassen, was ihm als Befunderhebungsfehler anzulasten ist. Stattdessen wurde die konservative Therapie fehlerhaft über fünf Monate fortgeführt. Eine Fotodokumentation des Augenlidbefunds, die der belastete Augenarzt selbst auch angedacht hatte und die heutzutage auch zeitgemäß ist, kann zwar nach Ansicht der Gutachterkommission nicht eingefordert werden. Diese hätte dem Augenarzt aber die fortschreitende Dynamik gezielt vor Augen führen können, insbesondere vor dem Hintergrund, dass in der Praxis auch andere Augenärzte in Vertretung tätig wurden.

Gesundheitsschaden


Für die Patientin verzögerte sich durch den Fehler des Arztes die operative Therapie um etwa sechs Monate mit der Konsequenz einer Progredienz. Diese bringt einen größeren und risikoreicheren Eingriff mit sich und birgt die Gefahr eines entsprechend großen kosmetischen Defizits.  

Professor Dr. med. Günter Krieglstein ist Stellvertretendes Geschäftsführendes Kommissionsmitglied, Ernst Jürgen Kratz war bis zum Ende der 11. Amtsperiode am 30.11.2020 Stellvertretender Vorsitzender und Dr. med. Beate Weber ist die für die Dokumentation und Auswertung zuständige Referentin in der Geschäftsstelle der Gutachterkommission.