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Gesundheits- und Sozialpolitik

Versorgung muss sich an Patienten orientieren, nicht an Rendite

25.11.2021 Seite 23
RAE Ausgabe 12/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 12/2021

Seite 23

  • Zum ersten Mal seit Beginn der Coronapandemie kam der Deutsche Ärztetag am 1. und 2. November wieder in Präsenz zusammen. © Jürgen Gebhardt
  • Gesundheitspolitische Runde: In Berlin diskutierten Ursula Nonnemacher (Grüne) und BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt (v.r.). Per Video zugeschaltet waren Karl-Josef Laumann (CDU) und Claudia Bernhard (Linke). Moderator war Jürgen Zurheide (l.) vom Deutschlandfunk. © Jürgen Gebhardt
Vor einer zunehmenden Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung hat der 125. Deutsche Ärztetag gewarnt. Angesichts der dringend notwendigen Reformen müsse die Gesundheitspolitik das zentrale Handlungsfeld der künftigen Regierungskoalition werden, erklärte der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, am 1. November in Berlin. Im Vorfeld des Ärztetages hatte die Bundesärztekammer ein Zwölf-Punkte-Programm mit ihren Forderungen veröffentlicht.

von Heike Korzilius

Zum ersten Mal seit Beginn der Coronapandemie kam der Deutsche Ärztetag wieder in Präsenz zusammen. Nur 50 der insgesamt 250 Abgeordneten nahmen per Videoschalte an der Versammlung teil. Denjenigen, die vor Ort in Berlin waren, war die Freude über den lange vermissten, persönlichen Austausch deutlich anzusehen. Während der erste Sitzungstag am 1. November ganz im Zeichen der Gesundheitspolitik stand, beschäftigten sich die Delegierten am folgenden Tag mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit (siehe Seite 20). 

„Wir werden prioritäre Handlungsfelder und konkrete Forderungen an ein gesundheitspolitisches Sofortprogramm der neuen Bundesregierung diskutieren“, kündigte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. Klaus Reinhardt, zur Eröffnung des Ärztetages an. Gesundheitspolitik müsse ein zentrales Handlungsfeld der nächsten Regierungskoalition werden. Grundlage für die Beratungen des Ärzteparlaments war ein zwölf Punkte umfassender Katalog, in dem die BÄK ihre drängendsten gesundheitspolitischen Forderungen zusammengefasst hatte. 

Mit Nachdruck warnte der Ärztetag vor einer zunehmenden Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung und forderte die Politik auf, den wachsenden Einfluss von nicht ärztlichen Investoren, insbesondere von sogenannten Private-Equity-Gesellschaften, in der ambulanten Versorgung zu begrenzen. Diese bauten ihren Einfluss immer weiter aus. Die Strategie: Häufig kauften die Investoren kleinere Krankenhäuser auf und nutzen diese zur Gründung von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) an lukrativen Standorten in ganz Deutschland. Vor diesem Hintergrund forderte der Ärztetag, dass MVZ, die von Krankenhäusern gegründet werden, einen fachlichen und räumlichen Bezug zu deren Versorgungsauftrag haben müssen. Zur Wahrung der Trägerpluralität und der freien Arztwahl dürften sie darüber hinaus keine marktbeherrschende Stellung in einer Region erlangen. Außerdem dürfe sich das Leistungsangebot der MVZ nicht nur auf einzelne, renditeträchtige Prozeduren konzentrieren, sondern müsse das gesamte Leistungsspektrum eines Fachgebietes abdecken. 
 

DRGs schaffen Fehlanreize

Aber auch Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern stehen dem Ärzteparlament zufolge unter einem erheblichen ökonomischen Druck. Verantwortlich dafür sei in erster Linie das auf Wettbewerb ausgerichtete Fallpauschalensystem. Das Vergütungssystem müsse grundlegend reformiert werden, um Ärztinnen und Ärzte vor rein wirtschaftlich motivierten Einflussnahmen der kaufmännischen Geschäftsführung der Kliniken zu schützen. „Wir erwarten konkrete gesetzgeberische Schritte, die sich auch im Koalitionsvertrag widerspiegeln“, erklärte BÄK-Präsident Reinhardt. Die Vergütung dürfe sich nicht länger ausschließlich an der wirtschaftlichen Effizienz der Krankenhäuser orientieren, sondern müsse neben dem Versorgungsbedarf der Patientinnen und Patienten auch Vorhaltekosten für Personal, Infrastruktur und Technik einbeziehen. Flankiert werden müsse das Ganze von einer Reform der Krankenhausplanung, die die Kooperation der Kliniken fördere statt deren Wettbewerb untereinander. Zur Vorbereitung einer großen Krankenhausreform schlug der Ärztetag die Einberufung eines nationalen Krankenhausgipfels vor, an dem Länder, Kommunen, die ärztliche Selbstverwaltung, Krankenkassen sowie die Pflege beteiligt sind. „Ärztinnen und Ärzte wollen keine Entscheidungen treffen und auch keine medizinischen Maßnahmen durchführen, die aufgrund wirtschaftlicher Zielvorgaben und Überlegungen erfolgen und dabei das Patientenwohl gefährden und den Patienten Schaden zufügen können“, stellte BÄK-Präsident Reinhardt klar. 

Mehr Patientenorientierung forderte der Ärztetag auch beim digitalen Ausbau des Gesundheitswesens. Digitalisierung sei kein Selbstzweck, sondern müsse die Versorgung verbessern, heißt es in einem Beschluss. BÄK-Präsident Reinhardt hatte in seiner Rede insbesondere das Tempo kritisiert, mit dem zurzeit neue digitale Anwendungen wie zum Beispiel die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in den Versorgungsalltag eingeführt werden sollen. Er machte dafür in erster Linie die neuen Mehrheitsverhältnisse in der gematik verantwortlich. Seit 2019 hält das Bundesgesundheitsministerium (BMG) dort mit 51 Prozent die Mehrheit. „Das sind zweieinhalb Jahre, in denen es dem BMG und der gematik fast ausschließlich um Tempo ging“, kritisierte Reinhardt. Digitale Anwendungen sollten um jeden Preis fristgerecht eingeführt werden – egal, ob sie störungsfrei im Praxisalltag funktionierten oder nicht. „Viele Kolleginnen und Kollegen sind frustriert“, sagte Reinhardt. Die möglichen Ampel-Koalitionäre forderte der Ärztetag in einem Beschluss auf, das Tempo herauszunehmen aus der „überhasteten Digitalisierung“ und für die gematik ein einjähriges Moratorium festzuschreiben. In dieser Zeit müsse sich die Gesellschaft auf eine versorgungsrelevante Strategie hin ausrichten und die Versorgungskompetenz der Gesellschafter stärker gewichten. 

GOÄ-Reform ist überfällig

Bei der Reform der Gebührenordnung für Ärztinnen und Ärzte (GOÄ) ist dagegen das mangelnde Tempo das Problem. Die geltende GOÄ stammt im Wesentlichen aus dem Jahr 1982 und wurde 1996 lediglich in Teilen novelliert. „Sie ist damit völlig veraltet und bildet weder die Dynamik des ärztlichen Leistungsspektrums noch die aktuelle Kosten- und Preisentwicklung ab“, sagte BÄK-Präsident Reinhardt. Die Kammer und der Verband der Privaten Krankenversicherung hätten eine GOÄ in den wesentlichen Bereichen konsentiert. Derzeit befänden sich die Abstimmungen in der finalen Phase und beträfen vor allem den erwarteten Preiseffekt. „Wir erwarten jetzt von der zukünftigen Bundesregierung, dass sie diesen Reformstau auflöst und auf unsere hochlegitime Forderung nach einer neuen GOÄ endlich eingeht“, forderte Reinhardt. 
Politische Konzepte brauche es auch, um den fortschreitenden Fachkräftemangel zu überwinden. Die Personalsituation in Kliniken und Pflegeeinrichtungen verschlechtere sich zusehends. Viele Krankenhäuser könnten ihren Betrieb nur aufrechterhalten, weil Ärztinnen und Ärzte in großem Stil aus dem Ausland rekrutiert würden. „Wenn hier nicht bald etwas passiert, droht der Kollaps“, warnte Reinhardt. Zur Lösung des Problems kann nach Ansicht des Ärztetages eine Erhöhung der Zahl der Studienplätze beitragen. Bundesweit 3.000 bis 5.000 Studienplätze mehr könnten die angespannte Personalsituation mittelfristig deutlich entschärfen. 

Die möglichen Koalitionäre von SPD, Grünen und FDP hatten in ihrem Papier zu den Ergebnissen ihrer Sondierungsgespräche die Gesundheitspolitik nur am Rande erwähnt. Für Erleichterung dürfte in der Ärzteschaft das Bekenntnis zum System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung gesorgt haben. Vage blieb dagegen die Ankündigung, eine Reform des Fallpauschalensystems im Krankenhaus anzugehen und eine Offensive für mehr Pflegepersonal zu starten.  

Riesiger Mangel an Fachkräften 

Mehr war über die Pläne der möglichen Ampel-Koalitionäre auch in einer Diskussionsrunde von BÄK-Präsident Reinhardt mit den Gesundheitsministerinnen und -ministern aus Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Bremen nicht zu erfahren. Handlungsbedarf in Sachen Krankenhausreform betonten sowohl Ursula Nonnemacher (Grüne) aus Brandenburg als auch Karl-Josef Laumann (CDU) aus Nordrhein-Westfalen und Claudia Bernhardt (Linke) aus Bremen. Nonnemacher kritisierte unter anderem den zu großen Einfluss des Gemeinsamen Bundesausschusses auf die Krankenhausplanung. „Wir können keine Qualitätsvorgaben akzeptieren, die wir in der Fläche eines so dünn besiedelten Landes wie Brandenburg nicht mehr bedienen können“, erklärte die Ministerin. Es gelte, eine Balance zu finden zwischen Mindestmengen oder Vorgaben zur Personalausstattung und der Sicherstellung der Versorgung in der Fläche. Auch Laumann kritisierte, dass es den Ländern mehr und mehr an Handlungsspielraum fehle. Strukturfragen dürften aber nicht von der Selbstverwaltung geklärt werden. Dazu bedürfe es einer demokratischen Legitimation. 

Den Fachkräftemangel bezeichneten die Gesundheitspolitiker aller Parteien als eine der größten Herausforderungen der kommenden Jahre. „Hier müssen wir auch über andere Strukturen nachdenken, beispielsweise über Gesundheitszentren, in denen Ärzte mit anderen Gesundheits- und Sozialberufen zusammenarbeiten“, sagte Bremens Gesundheitssenatorin Bernhardt. Laumann betonte, dass flächendeckende Tarifverträge mit angemessener Bezahlung den Mangel an Pflegekräften entschärfen könnten. Der Fachkräftemangel sei aber nicht nur fehlenden Köpfen geschuldet, befand Grünen-Politikerin Nonnemacher. Auch deren Verteilung zwischen strukturstarken und -schwachen Regionen sei ein Problem. „Wir brauchen Ärzte auch in Neukölln, nicht nur am Starnberger See“, sagte sie.

Ärztetag fordert Ausbau der Suizidprävention

Der 125. Deutsche Ärztetag hat ein Suizidpräventionsgesetz gefordert. Ein entsprechender Antrag war von den Abgeordneten aus Nordrhein eingebracht worden. Allen Menschen in Lebenskrisen mit Suizidgedanken müsse regelhaft und flächendeckend fachgerechte Hilfe als Pflichtaufgabe der Daseinsvorsorge zur Verfügung gestellt werden, heißt es dort. Gleichzeitig sollten die Prävention und die Behandlung psychischer Erkrankungen verbessert und die palliative Versorgung weiter ausgebaut werden. Es müssten die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Ausbau der Versorgungsstrukturen, eine nachhaltige Finanzierung der Suizidprävention sowie die Einrichtung einer bundesweiten Hotline für Menschen in Lebenskrisen geschaffen werden.