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Interview

Widerstände zur Gesundheitsunion können überwunden werden

22.01.2021 Seite 22
RAE Ausgabe 2/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 2/2021

Seite 22

Die EU müsse auch unabhängig von der WHO den Gesundheitsnotstand ausrufen können, meint Dr. Peter Liese. © Europabüro für Südwestfalen
Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass Gesundheit keine rein nationale Angelegenheit ist, findet Dr. Peter Liese, gesundheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. Im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt erläutert der Christdemokrat aus Meschede, was eine Gesundheitsunion für die Bürgerinnen und Bürger in Europa bedeutet und warum die Mitgliedsstaaten bereit sein sollten für mehr europäische Lösungen.  

RÄ: Herr Dr. Liese, das Europäische Parlament hat schon im Sommer 2020 eine „echte Europäische Gesundheitsunion“ gefordert. Was bedeutet das?
Liese: Eine echte Gesundheitsunion wäre eine Europäische Union, die immer dort engagiert und mit den erforderlichen Mitteln eingreift, wo die Mitgliedstaaten ein Problem alleine nicht lösen können. Wir wollen das Subsidiaritätsprinzip achten. Das heißt, dass etwa die Organisation des Krankenhauswesens oder die Frage, welche Leistungen vom nationalen Gesundheitswesen finanziert werden, auch weiterhin vor Ort entschieden werden muss. Aber viele Probleme lassen sich besser lösen, wenn wir es gemeinsam angehen. Das hat die Pandemie gezeigt. Das gilt aber auch für andere Bereiche. 

RÄ: Ende 2020 hat die Europäische Kommission Vorschläge gemacht, wie eine koordinierte Reaktion auf Gesundheitskrisen künftig aussehen könnte. Dazu gehört eine Stärkung des Europäischen Zentrums für Seuchenbekämpfung ECDC sowie der Europäischen Arzneimittelagentur EMA. Wie weit ist die EU noch von einer Gesundheitsunion entfernt? 
Liese: Die Vorschläge der Europäischen Kommission zur Stärkung des ECDC sind ein wichtiger Schritt. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat zu Recht schon im vergangenen März gefordert, dass das ECDC deutlich besser mit Geld, Personal und auch mit Kompetenzen ausgestattet werden muss. Das Robert Koch-Institut hat aus meiner Sicht zwar nicht alles perfekt gemacht, war aber ein wichtiger Ratgeber in der Pandemie. Es ist allein für Deutschland zuständig und hat etwa dreimal so viele Mitarbeiter wie das ECDC. Deshalb muss das ECDC gestärkt werden, damit auch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit besser funktioniert. Das Gleiche gilt für die EMA. Der wichtigste Vorschlag im Paket der Europäischen Kommission ist aber eine Änderung der Gesetzgebung mit Blick auf grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen. Hier ist zum Beispiel vorgesehen, dass die EU auch unabhängig von der Weltgesundheitsorganisation WHO den Gesundheitsnotstand ausrufen kann. 

RÄ: Die Europäische Union hat im November 2020 das Finanzierungsprogramm EU4Health verabschiedet. Der Ministerrat hat einem Budget von 5,1 Milliarden Euro zugestimmt, die Europäische Kommission und das Parlament hatten 9,4 Milliarden gefordert. Wie zufrieden sind Sie mit dem Ergebnis? 
Liese: Die 5,1 Milliarden Euro sind ein großer Fortschritt. Wenn man sie mit der jetzigen Finanzperiode vergleicht, ist es zehnmal so viel Geld, aber mit 4,3 Milliarden mehr hätte man auch noch sehr viel mehr erreichen können. Vor allem werden wir jetzt aus dem Programm nicht die notwendige Beschaffung und Lagerhaltung von Material für zukünftige Pandemien finanzieren können. Da müssen wir jetzt andere Töpfe anzapfen. Mit den bewilligten 5,1 Milliarden Euro kann man aber sehr viel erreichen, weit über den Austausch von Erfahrungen hinaus, zum Beispiel durch gemeinsame Ausschreibungen, wie sie zurzeit bei den Impfstoffen passieren, aber auch in anderen Bereichen, etwa bei Technologien zur Früherkennung von Krebs denkbar sind. 

RÄ: Der EU-Vertrag räumt der Europäischen Union mehr Spielraum im Bereich Gesundheit ein als aktuell genutzt wird. Vorstöße, Zuständigkeiten auszuweiten, haben bislang die Mitgliedsstaaten verhindert. Warum sollten  die Widerstände jetzt brechen? 
Liese: Leider gibt es bei vielen Mitgliedstaaten – nicht bei Deutschland – immer noch Vorbehalte. Man ist sehr schnell dabei, Vorschläge abzulehnen mit Verweis auf nationale Kompetenzen. Das entspricht aber weder der Notwendigkeit des bestmöglichen Schutzes der Menschen, noch der Rechtslage. Durch den Binnenmarktartikel 114, der ein hohes Gesundheitsschutzniveau verlangt, und den Gesundheitsartikel 168 gibt es sehr viel mehr Möglichkeiten, als bisher genutzt werden. Die Gesundheitspolitik wird niemals komplett auf EU-Ebene stattfinden. Aber da, wo es zum Schutz und zur Hilfe für die Menschen notwendig ist, müssen wir mehr tun. Ich glaube auch, dass wir viele Widerstände jetzt überwinden können.
 
RÄ: Was bedeutet eine europäische Gesundheitsunion für die Bürgerinnen und Bürger der EU – auch abseits von Gesundheitskrisen wie der Corona-Pandemie?
Liese: Wir müssen uns nicht nur auf zukünftige Pandemien besser vorbereiten, damit wir schneller und koordinierter handeln können. Wir sollten auch bei der Krebsbekämpfung besser zusammenarbeiten. Experten sagen, dass es möglich ist, dass in 20 Jahren niemand mehr an Krebs stirbt. Dazu ist aber neben Engagement auf mitgliedstaatlicher Ebene auch europäische Zusammenarbeit erforderlich, zum Beispiel bei der Erforschung von Krebs bei Kindern oder seltenen Krebsarten. Auch die Digitalisierung der Medizin muss stärker europäisch ausgerichtet sein. Die Bürger werden es nicht verstehen, wenn sie durch elektronische Gesundheitskarte oder App in Deutschland jederzeit in Notlagen das medizinische Personal über Allergien oder sonstige Vorerkrankungen informieren können, aber sobald sie dienstlich in den Niederlanden sind oder im Urlaub in Österreich, nichts mehr funktioniert. Deswegen brauchen wir hier sehr viel Engagement für kooperative Systeme. 


 

Das Interview führte Jocelyne Naujoks.