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Praxis

Ethische Beratung bei Therapiezieländerung im Fall eines Frühgeborenen mit Hirnschädigung

25.06.2021 Seite 21
RAE Ausgabe 7/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2021

Seite 21

Bei einem Neugeborenen wird eine Hirnblutung festgestellt. Der Arzt bereitet die Eltern auf die möglichen Folgen für die geistige und körperliche Entwicklung des Kindes vor. Die traumatisierten Eltern wünschen einen Therapieabbruch, was im Behandlungsteam zu erheblichen Diskussionen führt. In der medizinethischen Beratung spielen die Freiheit des Kindes von Schmerzen und Leiden sowie die familiäre Situation die entscheidende Rolle. 

von Angela Kribs

Jede nicht notfallmäßig lebenserhaltend notwendige Therapie erfordert die Einwilligung des Patienten beziehungsweise die der gesetzlichen Vertreter. Bei Kindern sind dies in der Regel die Eltern. Bei Früh- und Neugeborenen müssen Eltern Therapieentscheidungen treffen, bevor sie in die Elternrolle hineingewachsen sind. Das Behandlungsteam hat in solchen Situationen einen deutlichen Erfahrungsvorsprung. Dies kann dazu führen, dass die Eltern und das Behandlungsteam die Situation unterschiedlich einschätzen und Konflikte auftreten. Eine moderierte ethische Fallbesprechung kann in solchen Fällen hilfreich sein, um zu einer gemeinsam getragenen Entscheidung über das weitere Vorgehen zu kommen.

Medizinische Ausgangssituation

Die Erstgebärende stellt sich in der rechnerisch 30. Schwangerschaftswoche in einer Geburtsklinik mit regelmäßigen Wehen und beginnender Muttermundseröffnung vor. Die kindlichen Herztöne sind unauffällig. Aufgrund dieser Befunde erfolgt eine Verlegung in das nahe gelegene Perinatalzentrum. Bei Aufnahme dort zeigt sich in der Herztonkurve eine fetale Bradykardie, sodass eine Notsectio veranlasst wird. Es wird ein deutlich deprimierter eutropher Junge geboren. Nach primärer Intubation lässt sich die kardiorespiratorische Situation des Kindes innerhalb der ersten Lebensminuten stabilisieren. Da die Mutter noch in Narkose ist, wird das Kind ohne initialen Mutter-Kind-Kontakt auf die neonatologische Intensivstation übernommen. Unter Intensivtherapie weist das Kind einen vital stabilen Zustand auf, sodass im Laufe der ersten 48 Stunden eine Therapiedeeskalation möglich ist und eine Extubation innerhalb der nächsten Tage realistisch erscheint. Nach 72 Stunden kommt es jedoch zu einem Abfall der Hämoglobinkonzentration. Als Ursache dafür wird schädelsonographisch eine ausgedehnte linksseitige Hirnblutung gesehen, die den Ventrikel ausfüllt und das Parenchym fast der gesamten Hemisphäre betrifft. Im Laufe der folgenden Tage entwickelt sich eine Liquorzirkulationsstörung mit posthämorrhagischem Hydrocephalus. Trotz dieses gravierenden Befundes stabilisiert sich der Allgemeinzustand weiter. Das Kind verträgt die Nahrung und reagiert bei pflegerischen Maßnahmen adäquat. Eine Extubation erscheint ab dem siebten Lebenstag erneut möglich. Die Situation des Kindes und mögliche Therapieoptionen werden den Eltern erläutert. 

Soziale Situation und Situation der Eltern im Verlauf

Die Eltern sind erst vor wenigen Monaten an ihren gegenwärtigen Wohnort gezogen. Beide Herkunftsfamilien wohnen weit entfernt, sodass das junge Paar keine schnell verfügbare soziale Unterstützung hat. Bei Aufnahme der Mutter in die Klinik war der Vater bei der Arbeit. Die Mutter hat sich in der Geburtssituation, die sie alleine bewältigte, sehr ausgeliefert gefühlt. Ihr Kind, das sie nach zwölf Stunden erstmals sehen konnte, empfindet sie als fremd. Auch der Vater hat große Probleme, das Frühgeborene als sein Kind zu empfinden. Dennoch verbringen die Eltern viel Zeit bei ihrem Sohn und nehmen die anfängliche Stabilisierung hoffnungsvoll auf.
 
Nach Diagnose der Hirnblutung drei Tage nach der Geburt  führt der Oberarzt gemeinsam mit der betreuenden Pflegekraft ein Gespräch mit den Eltern. Er berichtet ihnen von der Diagnose und bespricht die möglichen Konsequenzen für die weitere Entwicklung des Kindes, die die Möglichkeit einer schweren geistigen und körperlichen Behinderung einschließt. Der Arzt betont zugleich, dass eine exakte Prognose nicht möglich ist. Die Eltern reagieren schockiert und erklären, die Situation nicht fassen und keine weiteren Informationen aufnehmen zu können. In den folgenden Tagen wirken sie verschlossen und wehren niederschwellige Gesprächsangebote der Pflegenden ab.
 
Am achten Lebenstag des Kindes führt der Oberarzt erneut ein ausführliches Gespräch mit den Eltern. Er berichtet, dass sich der Allgemeinzustand des Kindes stabilisiert habe, aber durch den sich entwickelnden Hydrocephalus eine weitere Schädigung des Gehirns droht. Er stellt mögliche Therapieoptionen vor und schlägt vor, vor der anstehenden Extubation ein Rickham-Reservoir zur Entlastung anzulegen. Die Eltern erklären, dass sie sich für ihr Kind ein derart beeinträchtigtes Leben nicht vorstellen können. Sie lehnen einen operativen Eingriff ab und wünschen die Beendigung der Therapie, insbesondere der maschinellen Beatmung, damit das Kind sterben kann.

Der Wunsch der Eltern löst im Behandlungsteam erhebliche Diskussionen aus, da nach einer Beendigung der Beatmung nicht mit einem Versterben des Kindes zu rechnen ist. Zur Klärung der Situation wird eine moderierte ethische Fallbesprechung veranlasst.

Schritt 1: Klärung der verschiedenen Aspekte der Situation


Prognose

Alle Beteiligten stimmen in der Beurteilung der Hirnschädigung überein. Es muss mit einer schweren Behinderung gerechnet werden, die das Leben des Kindes bestimmen wird. Eine exakte Vorhersage der Art und des Ausmaßes der Behinderung ist jedoch nicht möglich. Durch den Hydrocephalus kann es nicht nur zu einer zusätzlichen Schädigung des Gehirns kommen, sondern auch zu Stress und Schmerzen, die eine gute Symptomkontrolle erfordern. Diese ist jedoch möglich. Bei einer Ableitung des Hydrocephalus durch das Reservoir kann akut eine Entlastung geschaffen werden, es werden jedoch im weiteren Verlauf Folgeoperationen nötig werden.
 
Die Vitalfunktionen sind derzeit stabil. Das Behandlungsteam schätzt die eingesetzten medizinischen Maßnahmen als nicht sehr belastend ein. Ein Überleben des Kindes ist möglich, wenn weiterhin ein kuratives Therapieziel verfolgt wird. Dies kann allerdings auch mit Belastungen einhergehen.

Anliegen des Behandlungsteams

Aus Sicht der Pflegenden besteht eine Diskrepanz zwischen dem medizinischen Befund und den Lebensäußerungen des Kindes. Die Reaktionen des Kindes auf pflegerische Maßnahmen sind vergleichbar mit denen „gesunder“ Frühgeborener. Aus ärztlicher Sicht ist die Beendigung der Beatmung ohnehin möglich und geplant. Sie stellt keine Therapiebeendigung dar. Kein Rickham-Reservoir anzulegen, wird hingegen als problematisch empfunden, da dies mit einer weiteren Hirnschädigung einhergehen und zu einer Schmerz- und Stressbelastung für das Kind führen könnte. Letzteres wäre jedoch durch Medikamente behandelbar. 

Anliegen der Eltern

Die Eltern befinden sich bereits aufgrund der traumatisierenden Geburt in einer extremen Ausnahmesituation, die ihnen den Beziehungsaufbau zum Kind erschwert. Die Diagnose der Hirnblutung hat zu einer weiteren tiefen emotionalen Erschütterung geführt. Die Prognose für ihr Kind zerstört nicht nur ihre eigene Lebensplanung. Sie können auch für ihr Kind keine Lebensperspektive erkennen, da sowohl sein Leben als auch das der gesamten Familie sehr durch Einschränkungen bestimmt sein wird. Aktuell nehmen sie primär die Belastungen wahr, vor allem durch die Beatmung. Auch für die Zukunft antizipieren sie hauptsächlich die leidvollen Aspekte. Die Durchführung eines operativen Eingriffs empfinden sie als zusätzliches Leid und damit als unzumutbar. 

Rechtliche Situation

Die Intensivtherapie eines Früh- und Neugeborenen erfordert die Einwilligung der Eltern als rechtliche Vertreter. Sie darf und muss in einer Notfallsituation auch ohne elterliches Einverständnis begonnen werden, wenn dieses nicht unmittelbar einzuholen ist und davon ausgegangen werden kann, dass die Therapie im Interesse des Kindes ist. Auf dieser Grundlage wurde nach der Geburt die Therapie begonnen. Im Verlauf haben sich jedoch neue Aspekte ergeben, die berücksichtigt werden müssen. Ein operativer Eingriff darf ohne das Einverständnis der Eltern nicht stattfinden. Dies wäre nur dann möglich, wenn das Unterlassen ganz offensichtlich dem kindlichen Interesse widerspricht. In diesem Fall müsste eine gerichtliche Entscheidung herbeigeführt werden. 
 
Schritt 2: Ethische Diskussion


Patientenwohl/ Patientenwille

Bei dem frühgeborenen Kind liegen natürlicherweise keine Willensäußerungen vor. Daher muss auf eine allgemeine Einschätzung zurückgegriffen werden, um herauszufinden, was im Interesse des neugeborenen Kindes ist. Neben der Freiheit von Schmerz und Leiden schließt dies auch die Perspektive auf Entwicklung, Beziehungsaufbau und liebevolle Fürsorge mit ein. Da die Entwicklungsperspektive durch die Hirnschädigung limitiert ist, kommen der Freiheit von Schmerz und Leid sowie menschlicher Nähe eine besondere Bedeutung zu. Das Behandlungsteam trägt eine besondere Verantwortung, das Leiden des Kindes so gering wie möglich zu halten, menschliche Nähe können und sollen vor allem die Eltern geben. Sie benötigen dafür allerdings entsprechende Rahmenbedingungen.

Nach Einschätzung des Teams leidet das Frühgeborene im Moment nicht nennenswert. Das könnte sich jedoch bei weiterer Ausdehnung des Hydrocephalus ändern und müsste dann behandelt werden.
 
Die Anlage eines Rickham-Reservoirs kann zwar zunächst für eine Druckentlastung sorgen, birgt aber ein Operationsrisiko. Außerdem mildert es möglicherweise den Verlauf, heilt aber nicht die Hirnschädigung. Diese Aspekte müssen gewertet werden.

Autonomie der Eltern

Aus Sicht der Eltern liegt ihr Wunsch nach Therapiebegrenzung im Interesse des Kindes, da sich für das Kind nur eine eingeschränkte Entwicklungsprognose ergibt und es wahrscheinlich nie in der Lage sein wird, eine eigenständige Lebensplanung zu entwickeln. Weitere invasive Maßnahmen verbieten sich daher nach ihrer Einschätzung.

Im Behandlungsteam besteht Unklarheit darüber, ob die Eltern über alle notwendigen Informationen verfügen, um eine verantwortete Entscheidung von derartiger Tragweite zu treffen. Es ist nicht klar, inwieweit sie verstanden haben, dass die Beendigung der Beatmung nicht zwangsläufig das Leben des Kindes beendet und bei einem Überleben weitere Schädigungen durch Unterlassen entstehen können.

Schritt 3: Vereinbarung


Die Beteiligten der ethischen Fallbesprechung einigen sich darauf, dass der Wunsch der Eltern akzeptiert werden muss, wenn sichergestellt ist, dass sie über alle notwendigen Informationen verfügen. Ein Wechsel des Therapieziels von einem kurativen Ansatz zu einer palliativen Begleitung kann von allen Beteiligten unter dieser Voraussetzung mitgetragen werden. Es wird folgendes Procedere vereinbart:

  • In weiteren Gesprächen von Ärzten und Pflegenden mit den Eltern muss sichergestellt werden, dass diese die Tragweite ihrer Entscheidung verstanden haben. 
  • Es muss nochmals überprüft werden, inwieweit die Rahmenbedingungen für einen ungestörten Eltern-Kind-Kontakt verbessert werden können. 
  • Wenn mit den Eltern eine Therapiezieländerung vereinbart wird, soll das Kind auf einem adäquaten Niveau extubiert werden. Zuvor sollen der Verzicht auf eine Reintubation und auf eine erneute Therapieeskalation festgelegt werden. 
  • Eine optimale Symptomkontrolle muss zu jedem Zeitpunkt gewährleistet werden.
  • Sollte das Kind weiterleben, müssen alle weiteren Maßnahmen kontinuierlich im Hinblick auf das Therapieziel und das kindliche Interesse evaluiert werden.
 
Weiterer Verlauf

Im Anschluss an die Fallbesprechung wird zeitnah das Gespräch mit den Eltern gesucht, in dem es gelingt, den Eltern die medizinische Problematik zu vermitteln. Sie stimmen der Therapiezieländerung zu und wollen das Kind intensiv begleiten. Das Kind wird daher in ein Einzelzimmer verlegt, in dem die Eltern unbegrenzt mit ihm zusammen sein können. Nach der Extubation bleiben die Vitalfunktionen des Kindes zunächst stabil. Nach drei Tagen kommt es zu einer Verschlechterung der respiratorischen Situation. Entsprechend der Vereinbarung wird auf eine Therapieeskalation verzichtet. Das Kind verstirbt unter adäquater Symptomkontrolle in den Armen seiner Eltern. 


Privatdozentin Dr. Angela Kribs ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln im Bereich Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin.