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Tödliche Verzögerung

22.04.2021 Seite 16
RAE Ausgabe 5/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 5/2021

Seite 16

  • Die offiziellen Zahlen der malawischen Regierung von zuletzt 30.000 Corona-Infizierten und 1.000 Toten zeigen nach Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen nicht einmal die Spitze des viralen Eisberges. Die meisten COVID-19-Patienten in dem südafrikanischen Land leiden und sterben unerkannt zu Hause. Selbst das beste Krankenhaus Malawis schafft es nicht, die Schwerkranken angemessen zu versorgen. Seit Januar unterstützt ein Team von Ärzte ohne Grenzen das einheimische Gesundheitspersonal bei der Pandemiebekämpfung. In den Zelten der Hilfsorganisation auf dem Gelände des Queen Elizabeth Central Hospital in Blantyre werden Patienten getestet und triagiert. © Tankred Stöbe
  • Dr. Tankred Stöbe (rechts) schulte zudem Gesundheitspersonal in der Anwendung von Corona-Schnelltests. © Tankred Stöbe
Die politischen Versprechen klangen kühn: „Gemeinsam werden wir Geschichte schreiben“, verkündete die Europäische Union im April 2020. Auch die deutsche Bundesregierung versprach, sich im Kampf gegen die Corona-Pandemie für eine global gerechte Verteilung von Impfstoff einzusetzen. Doch je näher dessen Verfügbarkeit rückte, desto leiser wurden die Versprechen, bis schließlich der Impfnationalismus siegte – mit tödlichen Folgen für arme Länder wie Malawi. 

von Tankred Stöbe

Ankunft in Blantyre, im Süden Malawis. Auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt fallen die vielen Särge auf, die frisch gezimmert am Wegesrand angeboten werden. Auf der COVID-Intensivstation im Queen Elizabeth Central Hospital (QECH), dem größten und modernsten Krankenhaus des Landes, sind alle verfügbaren Betten belegt. Vier der sechs schwerstkranken COVID-Patienten ringen nach Luft. Die Sauerstoffsättigung des Bluts ist auf Werte abgesunken, die normalerweise längst eine künstliche Beatmung erfordern würden. Das aber gibt es hier nicht. Kein künstliches Koma, keine Druckmaskenbeatmung, keine High-Flow-Unterstützung. Selbst die Sauerstoffgabe ist auf 15 Liter je Minute begrenzt, das entspricht 45 Prozent der überlebenswichtigen O2-Zufuhr und reicht bei den schwerkranken Patienten nicht aus. So schafft es das beste Krankenhaus Malawis nicht, über die erste Stufe einer modernen Beatmungstherapie hinauszukommen. Es fällt schwer, das zu ertragen.

In den wohlhabenden Ländern sind wir es gewohnt, dass beatmete COVID-Patienten gut sediert und subjektiv beschwerdefrei behandelt werden. Auf diese Weise wird das Leiden und Sterben abstrakter, aber auch erträglicher. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass die Prognose der Schwerstkranken überall schlecht ist. Hier in Malawi aber starren die wachen Menschen mit vor Angst weit aufgerissenen Augen ihrem Erstickungstod entgegen. Diese Bilder zeigen mir eine neue Dimension der Pandemie.

Pandemie mit beängstigender Dynamik

Die sieben Mitglieder des Notfallteams von Ärzte ohne Grenzen treffen Ende Januar dieses Jahres fast zeitgleich in Malawi ein. Nach kurzer Quarantäne und negativem PCR-Abstrich legen wir los. Die Zeit drängt. Gerade erreicht die Pandemie eine beängstigende Dynamik. Unsere Logistiker haben bereits zehn riesige Zelte auf dem Gelände des QECH errichtet. Jetzt geht es darum, sie für die Pandemiebekämpfung einzurichten. Gleichzeitig trainieren wir 50 neu eingestellte medizinische Helfer, organisieren Test- und Behandlungsalgorithmen, erstellen Schichtpläne und treffen uns immer wieder mit verschiedenen Abteilungen des QECH, um Abläufe und Verantwortlichkeiten zu klären. Eine der größten Herausforderungen ist es, das Virus nicht in andere Abteilungen des Krankenhauses einzuschleppen. Dafür müssen sämtliche Patienten und Besucher beim Betreten des Klinikgeländes getestet werden. Und da beginnen die Probleme. Nach der Temperaturmessung sollen jedem drei Fragen gestellt und die Antworten auf einem kleinen Zettel notiert werden, meist aber bekomme ich diesen schon vorausgefüllt ausgehändigt. 

Corona trifft auf HIV/Aids

Der erste Corona-Patient in Malawi wurde am 2. April 2020 diagnostiziert. Die erste Welle der Pandemie verlief jedoch harmlos. Erst Ende 2020 stiegen die Infektionszahlen abrupt an, mit täglich über 1.000 neuen Fällen. Dreiviertel aller Neuinfektionen ereigneten sich im Januar 2021. Diese zweite Welle ist mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die neue und viel kontagiösere Virus-Mutante aus Südafrika ausgelöst worden.
Malawi zählt mit seinen 18 Millionen Einwohnern zu den ärmsten Ländern der Welt. Der Weltbank zufolge liegt der Anteil der Menschen, die über weniger als 1,90 US-Dollar am Tag verfügen, bei 70 Prozent. Mit Blick auf die Gesundheitsversorgung rangiert Malawi 

Verlässliche Zahlen fehlen

Nach dem ersten Screening erfolgt die Triage. Dabei befragen unsere Teams alle als COVID-Verdachtsfall eingestuften Personen individuell und wir führen auch die SARS-CoV-2 Schnelltests ein, die eine unmittelbare Risikoabschätzung erlauben. Wichtig ist: Diese sind nur bei einer Positivtestung verlässlich, also „Rule-in-Tests“, und sie gelten nur für den Augenblick. Ist das Ergebnis negativ, sind die Symptome aber trotzdem COVID-verdächtig, veranlassen wir einen PCR-Test und bis das Resultat nach 24 Stunden vorliegt, nehmen wir die Patienten im Observationszelt auf und können sie dort auch behandeln. An allen diesen Stationen sind noch Qualitätsverbesserungen notwendig und immer wieder Aufklärung und freundliche Ermunterungen. Beispielsweise beklagen Klinikangestellte, mehr als ein Abstrich sei den Patienten nicht zuzumuten und wir sollten die Schnelltests lieber lassen. Oder sie bitten mich, Schnelltests bei Patienten vorzunehmen, die bei der Ankunft schon verstorben waren. Sie wollen wissen, ob die Toten in das COVID-Leichenzelt oder in die reguläre Aufbewahrung gebracht werden sollen.

Die Referenzklinik Malawis schafft es in diesen Wochen nicht, die COVID-Toten verlässlich zu zählen, trotzdem liegt die offizielle Mortalitätsrate dort bei 34 Prozent. Aber auch die staatlichen Zahlen von zuletzt 30.000 Infizierten und 1.000 Corona-Toten geben die Wirklichkeit nicht wieder, sie zeigen nicht einmal die Spitze des viralen Eisberges. Die allermeisten Malawier leiden und sterben unerkannt zu Hause. Einen entsprechenden Hinweis liefert die Positivitätsrate, also die Angabe, bei wie vielen Getesteten das Ergebnis positiv ausfällt. Laut Weltgesundheitsorganisation sollte dieser Wert nicht über fünf Prozent steigen, in Malawi erreicht er im Januar fast 50 Prozent, ein klares Indiz für fehlende Testkapazitäten und eine entsprechend hohe Dunkelziffer.

Eine der vordringlichsten Aufgaben ist die Bereitstellung von Sauerstoff. Für die Kranken ist er die wichtigste der wenigen verfügbaren Therapieoptionen. Überwiegend wird der medizinische Sauerstoff in 50-Liter-Zylindern geliefert, die nur wenige Stunden reichen und deren Wiederbefüllung rund 60 Euro kostet, eine extreme logistische und finanzielle Herausforderung, die Ärzte ohne Grenzen zur Hälfte übernimmt. Die Behandlung der COVID-Patienten erfolgt weiterhin innerhalb und in Verantwortung der Klinik, auch wenn wir bereit sind, in unseren mittlerweile gut ausgestatteten Zelten eine Beatmungstherapie anzubieten.

In den ersten drei Wochen triagieren wir in den COVID-Zelten 365 Patienten, 65 Prozent als verdächtige oder bestätigte Fälle, zehn Prozent müssen stationär aufgenommen werden. Das mittlere Alter beträgt 35 Jahre, 36 Prozent der Patienten berichten von Vorerkrankungen, am häufigsten HIV, gefolgt von kardiovaskulären Krankheiten inklusive Bluthochdruck.

Entgegen den allgemeinen Prognosen fallen die Infektionszahlen seit Anfang Februar wieder und auch fast so rasant, wie sie zuvor gestiegen waren. Das lässt mich selbstkritisch fragen: Brach diese zweite Pandemie-Welle viel schneller über das Land herein, als verlässliche Prognosen vorhersagten, oder kamen wir Helfer zu spät? Leider wohl beides. Anders als bei Naturkatastrophen, bei denen ein schnelles Eigreifen essenziell ist, erlauben Infektionskrankheiten meist ein moderateres Vorgehen. Corona beweist aber erneut, dass diese Pandemie ihre eigenen Gesetze hat.  In Ländern ohne staatliche Präventionsmaßnahmen und mit einem desolat ausgestatteten Gesundheitssystem ähnelt die Ausbreitung eher Wirbelstürmen oder Überschwemmungen. Das Infektionsgeschehen verläuft spitzwinkelig statt in einer elliptischen Kurve. Das war im Mai und Juni 2020 auch im Jemen so. Auch dort fehlten die Mittel, um die Infektionskurve abzuflachen und nach sechs bis acht Wochen ungezähltem Leid und Tod war das Pandemiegeschehen abgeflaut. Wiederholt sich dieses Muster gerade in Malawi? Aufgrund der unzuverlässigen Datenlage in beiden Ländern lässt sich das wissenschaftlich kaum belegen. Meine eigenen Beobachtungen, die Zahlen von Ärzte ohne Grenzen und viele Gespräche mit unterschiedlichen Gesundheitsexperten lassen das aber zumindest vermuten. 

Massenimpfungen nicht vor 2023

Und wie steht es mit dem Impfen? Eine düstere Prognose des Beratungsdienstes Economist Intelligence Unit schätzt, dass für mehr als 85 Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen, darunter viele in Afrika, wahrscheinlich nicht vor 2023 mit einer Massenimpfung gegen COVID-19 zu rechnen ist. Dabei profitieren Länder wie Malawi eventuell von Impfstoffen, die anderswo aus der Gunst gefallen sind. Die eine Million Dosen der AstraZeneca-Vakzine, die Südafrika direkt beim Hersteller bestellt hatte und jetzt wegen der Mutation nicht mehr verwenden will, werden über die Afrikanische Union an andere Länder auf dem Kontinent weiterverkauft. Wann die ersten Malawier gegen das Virus geimpft werden können, ist offen. Die Experten im Land haben wenig Illusionen, denn die Vakzine kann sich hier niemand leisten, das Land ist auf Spenden angewiesen. Wann auch immer Impfstoffe eintreffen werden, für die so tödliche zweite Welle kommen sie zu spät. 

Dr. Tankred Stöbe ist Internist und Notarzt in Berlin. Von 2007 bis 2015 war er Präsident der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen. Noch immer absolviert er regelmäßig Hilfseinsätze für die Organisation.