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Diskussion

Klimawandel ganz nah

15.10.2021 Seite 25
RAE Ausgabe 11/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 11/2021

Seite 25

Die Jahrhundertflut ließ Frühwarnsysteme, Sirenen und Schutzmaßnahmen versagen. © ferkelraggae/stock.adobe.com
Will man der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz neben der überwältigenden Hilfsbereitschaft einen positiven Aspekt abgewinnen, dann ist es die Tatsache, dass sie uns allen die reale Bedrohung durch den menscheninduzierten Klimawandel ins Bewusstsein gerufen hat.

von Ivo Grebe

Eigentlich sollten an dieser Stelle ein paar kluge Sätze zum Thema „Klimawandel und Gesundheit“ stehen. Ein Thema, das bisher zu wenig Beachtung gefunden hat und jetzt im zweiten Anlauf auf dem 125. Deutschen Ärztetag im Rahmen eines Zusatztermins Anfang November in Berlin behandelt werden soll. Endlich, möchte man sagen. 
Doch die Natur war schneller und hat uns allen vor Augen geführt, dass sie stärker ist als wir Menschen, stärker als unsere abstrakte Diskussion über die Existenz des Klimawandels. Die „Jahrhundertkatastrophe“ schlug mit derartiger Wucht zu, dass Frühwarnsysteme, Sirenen und präventive Maßnahmen völlig versagten. Niemand hatte mit einem so raschen Anstieg von Flusspegeln, brechenden Dämmen und einer Überflutung ganzer Innenstädte gerechnet. Wer Zeuge dieser unbändigen Zerstörungswut von Wasser, Schlamm und Strömungen war, den lassen diese Bilder nicht so schnell wieder los. Binnen weniger Tage hatte das Hochwasser über 200 Menschenleben gefordert, Schäden in Milliardenhöhe angerichtet und Existenzen zerstört – darunter auch viele  Einrichtungen unseres Gesundheitssystems. Allein in Nordrhein wurden mindestens 145 Praxen zerstört, etliche davon komplett, einschließlich der dazu gehörenden Immobilie. Krankenhäuser mussten ihren Betrieb einstellen oder wurden evakuiert wie zum Beispiel die Klinik Eschweiler, in der Professor Dr. Uwe Janssens, Corona-Experte und lange Sprecher der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, als Kardiologe und Intensivmediziner tätig ist. 

In der Ärzteschaft hatte die Diskussion rund um den Klimawandel, um dessen Auswirkungen auf die individuelle Gesundheit und das soziale Leben, die Verknüpfung von „Planetary health“ und unseren persönlichen Beitrag zur Klimarettung gerade Fahrt aufgenommen, als deutlich wurde, dass auch wir Ärztinnen und Ärzte existenziell bedroht werden können. Viele Kolleginnen und Kollegen im Zentrum der Flutkatastrophe stehen vor dem Nichts. Viele können sich nicht über eine Elementarschadenversicherung retten oder sind nicht in der Lage, Kredite in sechsstelliger Höhe zum Wiederaufbau ihrer Praxis zu stemmen. Ganz abgesehen von den Fällen, in denen das gesamte Praxisgebäude inklusive Inventar vollständig vernichtet wurde. 

Überwältigende Hilfsbereitschaft

Aber: Mindestens genauso groß wie der Schaden waren und sind Hilfsbereitschaft und Solidarität vor Ort. Von allen Seiten kamen Helfer in die betroffenen Orte, halfen Nachbarn und Freunde mit. Kollegen stellten Praxisräume und Infrastruktur für „obdachlose“ Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung, manche spendeten funktionstüchtige Geräte, Einmalartikel oder machten unentgeltlich Vertretungen. Landesärztekammern und Kassenärztliche Vereinigungen riefen eine Spendenaktion ins Leben, an der sich viele Kolleginnen und Kollegen beteiligten. Andere Institutionen wie Banken oder Verbände zeigten ebenfalls ihre Solidarität in Form von Geld- oder Sachspenden.  

Die Bedrohung ist real

Selbstverständlich wird die wichtige Diskussion über die Auswirkungen des Klimawandels weitergehen. Will man der Naturkatastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz neben der überwältigenden Solidarität einen positiven Aspekt abgewinnen, dann ist es die Tatsache, dass sie uns allen die reale Bedrohung durch den menscheninduzierten Klimawandel ins Bewusstsein gerufen hat. Aus einem theoretisch-abstrakten Diskurs wurde plötzlich ein greifbares Ereignis, dessen Bilder und Eindrücke uns alle tief berühren. Spätestens jetzt dürfte jedem klar geworden sein, dass es eine vordringliche ärztliche Aufgabe ist, das Thema „Klimawandel und Gesundheit“ auf allen Ebenen nach vorne zu bringen und präventive Strategien zum Erhalt von Leben und Gesundheit zu entwickeln. 

Dr. Ivo Grebe ist als hausärztlicher Internist in einem Klinik-MVZ tätig und Vorsitzender der Kreisstelle Stadtkreis Aachen der Ärztekammer Nordrhein.