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Praxis

Bevollmächtigt und befähigt? – Therapiezielfindung bei unklarem Patientenwillen

19.07.2022 Seite 24
RAE Ausgabe 8/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 8/2022

Seite 24

Bei schwer erkrankten Patienten, die nicht einwilligungsfähig sind, stehen Ärztinnen und Ärzte immer wieder vor medizinischen und ethischen Herausforderungen in Bezug auf die Therapiezielfindung. An- und Zugehörige sollen den mutmaßlichen Patientenwillen kommunizieren. Dies ist – unabhängig vom Vorhandensein einer Vorsorgevollmacht – nicht leicht, weil sie selbst emotional involviert sind und über solche im Vorfeld schwer antizipierbaren Situationen häufig nicht gesprochen wurde. Wie können Prozesse zur Konsensfindung gelingen?

von Sonja Vonderhagen und Eva Biller

Fallbeispiel 1

Frau A., 78 Jahre alt, erleidet im Rahmen eines häuslichen Treppensturzes eine Hirnblutung. Das neurochirurgische Behandlungsteam sieht die Indikation zur operativen Hämatomentlastung gegeben. Das genaue neurologische Outcome ist aber unsicher. Eine höhergradige dauerhafte Pflegebedürftigkeit kann nicht ausgeschlossen werden. Bisher stand Frau A. nach Aussagen ihrer Angehörigen noch voll im Leben. Eine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht existiert nicht, die Patientin selbst wie auch ihr Ehemann haben in medizinischen Berufen gearbeitet und über entsprechende Situationen ausführlich gesprochen. Kinder und Ehemann berichten übereinstimmend über den mutmaßlichen Patientenwillen, dass Frau A. bei potenziellem Verlust ihrer Selbstständigkeit keinerlei Interventionen bei einer Hirnschädigung gewünscht hätte, auch wenn ein Überleben durch eine Operation durchaus für wahrscheinlich gehalten wird und die Chance auf eine komplette Rekonvaleszenz zwar klein ist, aber nicht ausgeschlossen wird.

Aufgrund des klaren mutmaßlichen Patientenwillens für die vorliegende Situation wird die Patientin nicht operiert und es wird ein palliativer Behandlungsweg eingeschlagen. Die Patientin wird bei erhaltener Spontanatmung extubiert. Sie erlangt zu keinem Zeitpunkt mehr das Bewusstsein und stirbt einige Tage später an respiratorischer Insuffizienz.

Fallbeispiel 2

Der 57-jährige Patient Herr K. wird mit einer Pneumonie stationär aufgenommen. Seit 2020 befindet er sich im selben Krankenhaus mit einer akuten myeloischen Leukämie (AML) in Behandlung. Er hatte zunächst eine Chemotherapie erhalten, aber dann ein Rezidiv entwickelt. Die empfohlene Therapieoption für eine langfristige Heilung war die allogene Stammzelltransplantation. Herr K. hatte in den Aufklärungsgesprächen sorgsam für sich abgewogen, ob er dem langwierigen Weg zustimmen möchte und schließlich eingewilligt. Er wurde im Jahr 2021 erfolgreich transplantiert.

Nun ist sein Allgemeinzustand deutlich reduziert. Die Pneumonie wird antibiotisch behandelt, jedoch verschlechtert Herr K. sich respiratorisch so fulminant im Sinne eines ARDS, dass eine Verlegung auf die Intensivstation notwendig wird. Er stimmt einer invasiven Beatmung zu; er möchte, dass alles getan wird. Nach zehn Tagen besteht bei nur mäßiger Besserung die Indikation zur Tracheotomie. Da Herr K. zu diesem Zeitpunkt sediert ist, kann mit ihm nicht darüber gesprochen werden. Die vorsorgebevollmächtige Ehefrau stimmt dem Eingriff zu. Drei Wochen später kann er schließlich entwöhnt und dekanüliert werden. Dennoch hat sich die Gesamtprognose verändert: Die Infekte rezidivieren unter der Immunsuppression und er schwemmt immer wieder septisch ein. 

Neurologisch ist Herr K. schläfrig und unscharf orientiert. Er halluziniert immer wieder. Die genaue Ursache hierfür bleibt unklar, infrage kommt ein intensivmedizinisch induziertes Delir, Toxizität der Medikamente oder auch eine opportunistische Infektion aufgrund der Immunsuppression. Die neue Situation und verschlechterte Gesamtprognose kann aktuell nicht mit ihm besprochen werden. Er wird von seinen behandelnden Ärztinnen und Ärzten übereinstimmend als nicht einwilligungsfähig eingeschätzt. Es stellt sich die grundsätzliche Frage nach erneuter invasiver Beatmung. 

Die medizinische Indikation hierfür ist per se gegeben; allerdings zeigt Herr K. einen komplikativen Verlauf bei lebenslang erforderlicher medikamentöser Immunsuppression nach Stammzelltransplantation. Herr K. hat eine Patientenverfügung, die jedoch aktuell nicht anwendbar ist; sie trifft nur Regelungen für den Fall, dass er sich im Endstadium einer tödlich verlaufenden Erkrankung befindet oder eine Hirnschädigung dazu geführt hat, dass seine Entscheidungsfähigkeit unwiderruflich erloschen ist. Seine Ehefrau ist vorsorgebevollmächtigt. Sie hat Schwierigkeiten, die Komplexität der Situation zu überblicken und scheint überfordert. Es fällt ihr schwer, zwischen eigenen Ängsten, den Ehemann zu verlieren, und der Frage zu differenzieren, welches Vorgehen dem mutmaßlichen Willen ihres Partners entsprechen würde. In einem Angehörigengespräch wird deutlich, dass sie zwar die Dokumente ausgefüllt, aber nie über den Fall gesprochen haben, was wäre, wenn der Ehemann nicht mehr „ganz“ gesund würde. Es wird vereinbart, am nächsten Tag erneut zu sprechen und gegebenenfalls eine ethische Fallbesprechung durchzuführen. In der Nacht bricht Herr K. respiratorisch ein und wird notfallmäßig intubiert. Es kann jedoch keine Besserung mehr erzielt werden: Er entwickelt ein Multiorganversagen und verstirbt am nächsten Tag.

Medizinethische Einordnung zur Entscheidungsfindung

Die essenziellen Grundprinzipien Indikation und Patientenwille sprechen zunächst eine deutliche Sprache: Wenn eine der beiden „Säulen“ nicht steht, darf die Behandlung nicht durchgeführt werden. In der Praxis befinden sich Ärztinnen und Ärzte jedoch häufig in einer komplexen Situation. In beiden Fallbeispielen stellte sich die Frage, ob die weitere Behandlung (Fortführung, Ausweitung) noch „sinnvoll“ ist. Wer entscheidet das und welche Entscheidung ist im Sinne des Patienten (siehe Kasten auf Seite 25)?

In beiden Fallbeispielen war mit der initialen Diagnose die medizinische Indikation zur Therapie gegeben, wobei die Prognose unklar war. Im Beispiel von Frau A. mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma konnten die Angehörigen übereinstimmend im Sinne der nicht einwilligungsfähigen Patientin angeben, dass diese eine potenzielle Pflegebedürftigkeit egal welcher Schwere ablehnte. Eine Patientenverfügung oder Bevollmächtigung lag zwar nicht vor, aber man hatte sich in der Familie häufiger über derartige Situationen, sicher auch berufsbedingt, ausgetauscht. Im komplexen Beispiel von Herrn K. mit der akuten myeloischen Leukämie war bereits mit kurativem Therapieziel eine Stammzelltransplantation erfolgt, aber der weitere klinische Verlauf zeigte eine ungünstige Prognose, sodass sich eine Neubewertung des Falls mit der Frage nach einer Therapiezieländerung ergab. Herr K. war im Verlauf der Therapie nicht mehr einwilligungsfähig, seine bevollmächtigte Ehefrau war überfordert, den Willen ihres Mannes darzulegen. Das Ehepaar hatte sich – trotz der lange bestehenden schweren Erkrankung – vorab nie konkret über Grenzsituationen des Lebens unterhalten. 

Beide Beispiele zeigen, wie wichtig es im Sinne der Fürsorge ist, bei unklaren Prognosen mit dem Patienten oder seinem Stellvertreter erreichbare Therapieziele zu definieren. Dabei können Therapieziele von Patienten in der Regel besser definiert werden als Behandlungsmaßnahmen. 

Für Ärztinnen und Ärzte ist es eine immense Herausforderung, medizinisch komplexe Situationen mit hoher Kommunikationskompetenz den Patienten oder ihren Stellvertretern, sofern vorhanden, zu erklären. Dabei gilt es, so differenziert wie möglich und gleichzeitig so reduziert wie nötig die Situation zu erörtern, um zu einem Handlungskonsens zu kommen.

In Bezug auf die Autonomie sollte erstes Ziel sein, den Willen der Patienten direkt zu ermitteln. Sei es im Arzt-Patienten-Gespräch oder mit Bezug auf die gesundheitliche Vorausplanung in Form des schriftlich niedergelegten Willens. In den vorliegenden Fallbeispielen sind beide Patienten nicht einwilligungsfähig.  Im ersten Beispiel kann der mutmaßliche Wille der Patientin mit ausreichender Sicherheit wiedergegeben werden trotz fehlender Patientenverfügung oder Bevollmächtigung. Im zweiten Beispiel liegt eine Bevollmächtigung vor, aber die Eruierung des dezidierten Patientenwillens bleibt schwierig.

Bei nicht einwilligungsfähigen Patientinnen und Patienten sind zur Entscheidungsfindung Patientenverfügungen oder Bevollmächtigungen relevant. Gleichzeitig zeigt die Praxis, dass Patientenverfügungen in den seltensten Fällen zur Anwendung kommen, da sie für die jeweilige Situation nicht hinreichend konkret formuliert sind. Gleichwohl liefern sorgsam ausgefüllte Patientenverfügungen wichtige Hinweise dazu, welche Werte, Ziele und Präferenzen ein Mensch hegt. Darüber hinaus ist die Bevollmächtigung häufig hilfreicher, um mit ausreichender Sicherheit den Patientenwillen zu ermitteln. Allein die Vorsorgevollmacht bevollmächtigt An- oder Zugehörige – befähigt sie jedoch nicht unbedingt, wenn nicht vorab verschiedene gesundheitliche Situationen besprochen wurden.

Die Fallbeispiele zeigen, wie komplex die Therapiezielfindung sein kann und wie diese sich im Verlauf einer Erkrankung auch ändern kann, hier noch verkompliziert durch nicht mehr einwilligungsfähige Patienten. Dazu kommt, dass der vorausverfügte oder geäußerte Wille der Patienten für die dann vorliegende Situation meist nicht eindeutig ist und Eindeutigkeit für komplexe Situationen auch nicht erwartet werden kann. Im Sinne des medizinethischen Prinzips des Nicht-Schadens muss zur weiteren „sinnvollen“ Therapiezielfindung beachtet werden, dass Nutzen und Schaden einer Therapie subjektiv und individuell sind.

Wichtig ist folglich der patientenzentrierte Austausch mit der gemeinsamen Abwägung von Werten und Behandlungsmöglichkeiten, bestenfalls ergänzt durch den vorausverfügten oder geäußerten Willen der Patientin oder des Patienten. Bei Entscheidungen am Ende des Lebens haben dabei in unserer hoch individualisierten Zeit häufig die engen An- und Zugehörigen eine zentrale Bedeutung. 

Dr. Sonja Vonderhagen ist Oberärztin der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum Essen, Mitglied des Klinischen Ethik-Komitees der Universitätsmedizin Essen und Mitglied des Gründungsausschusses für das Komitee für medizinethische Beratung der Ärztekammer Nordrhein. Eva Biller ist stellvertretende Leitung des Klinischen Ethik-Komitees der Universitätsmedizin Essen, Ethikberaterin und Koordinatorin im Gesundheitswesen (AEM).
 

Was braucht es für eine gute Entscheidung?

  • Erforderlich sind gute Routinen und Raum für Therapiezielfindung in den Behandlungsteams, welche die Indikationsstellung nach bestem Wissen und Gewissen verantworten. Team-Timeouts, Visiten gemeinsam mit der Pflege oder auch Ethische Fallbesprechungen oder Ethik-Visiten als Format zur Konsensfindung sind hilfreich.
  • Das Thema „Gesundheitliche Vorausplanung“ sollte stärker in die gesellschaftliche Diskussion und das ambulante Setting eingebracht werden. Themen und Situationen sollten gegenüber Familie oder Freunden exemplarisch benannt werden, sodass zunächst unvorstellbare und abstrakte Situationen adressiert werden können – auch im ambulanten Arzt-Patienten-Gespräch. Nicht umsonst ist die Beteiligung von Zu- oder Angehörigen Teil der Prozesse im Rahmen von gesundheitlicher Vorausplanung wie Advanced Care Planning (ACP) beziehungsweise Behandlung im Voraus planen (BVP). Zentral ist am Ende nicht eine – ohnehin kaum antizierbare – detaillierte Aufzählung von Maßnahmen. Vielmehr geht es um eine kommunikative Kultur, die im besten Falle zur Fähigkeit beiträgt, Weichenstellungen im mutmaßlichen Sinne der Patienten oder Angehörigen treffen zu können.
  • Es benötigt mehr strukturierte Kommunikationsschulung für Ärztinnen und Ärzte. Hier sind longitudinale Konzepte vonnöten, damit diese Themen neben der fachmedizinischen Dichte im Berufsalltag virulent bleiben.