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Das Trauma nach der Flut

19.07.2022 Seite 12
RAE Ausgabe 8/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 8/2022

Seite 12

© picture alliance/dpa/Thomas Frey
Vor fast genau einem Jahr zerstörte eine Jahrhundertflut ganze Städte und Gemeinden in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Viele Menschen verloren ihr gesamtes Hab und Gut, 180 kamen in den Fluten ums Leben. Noch immer kämpfen die Menschen vor Ort mit den Folgen der Katastrophe. Der Wiederaufbau läuft nur schleppend. Viele sind von den Ereignissen traumatisiert. Was fehlt, sind langfristige Unterstützungsangebote und Therapieplätze.

von Jocelyne Naujoks

Am 14. Juli und in der Nacht auf den 15. Juli fallen in Teilen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen 100 bis 150 Liter Regen pro Quadratmeter, ein Großteil des Wassers geht innerhalb von zehn bis 18 Stunden nieder. Neben dem Ahrtal, der Eifel und Trier sind die Städte Hagen und Wuppertal sowie der Kreis Euskirchen, der Rhein-Sieg-Kreis, der Rhein-Erft-Kreis und Teile des Bergischen Landes besonders betroffen. Der Deutsche Wetterdienst spricht im Nachgang von einem Jahrhundertereignis. 

Was nach der Flut bleibt, ist Verwüstung, Fassungslosigkeit, Trauer. Die Flutkatastrophe zerstörte nicht nur Wohnhäuser, Geschäfte und Schulen oder Freizeiteinrichtungen. Sie legte nicht nur den kompletten Verkehr lahm, riss Bahnstrecken, Autos und ganze Straßenzüge mit sich. Sie kostete 180 Menschen das Leben und ließ viele mehr mit den Erinnerungen an das schreckliche Geschehene zurück.  

Traumafolgestörungen nehmen zu

Wer die Flut erlebte, musste um das eigene Leben und das Leben seiner Mitmenschen fürchten. Einige mussten tatenlos mit ansehen, wie Angehörige, Nachbarn oder Haustiere in den Fluten starben. „Das Gefühl, einer Gefahr für Leib und Leben ohnmächtig ausgeliefert zu sein, ist das Schlüsselgefühl eines traumatischen Erlebnisses“, sagt Dr. Katharina Scharping, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie dem Rheinischen Ärzteblatt. Viele Menschen hätten infolge der Flutkatastrophe mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen. Niemand habe das Geschehene vergessen, viele hätten es noch lange nicht verarbeitet. „Sobald es stärker regnet, kaufen die Menschen Sandsäcke“, erzählt die Chefärztin der von Ehrenwall‘sche Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bad Neuenahr-Ahrweiler, die zum großen Teil von der Flut zerstört wurde. Scharping leitet auch das Traumahilfezentrum (THZ) im Ahrtal, eine erste Anlaufstelle für traumatisierte Flutopfer. 

„Man kann dem Geschehenen nicht entkommen“, sagt sie. Noch immer seien die Spuren der Flutkatastrophe überall und jederzeit sichtbar. „Viele Menschen versuchen alles, was an das Trauma erinnert, zu vermeiden. Viele verlassen am Anfang ihr Haus nicht mehr, wenn es regnet. Später gehen sie nicht mehr raus, wenn nur Regen angesagt ist und irgendwann bleiben sie ganz zuhause“, berichtet Scharping aus ihrer Erfahrung. Andere griffen immer häufiger zum Glas Wein, um einschlafen zu können, weil Albträume sie quälten. Insgesamt habe die Zahl der Menschen mit Traumafolgestörungen wie posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen zugenommen, sagt Scharping. Bislang befinde sich nur ein kleiner Teil der Betroffenen in therapeutischer Behandlung. Das habe in vielen Fällen zu chronifizierten und Folgeerkrankungen geführt, so die Psychiaterin.

Nicht jeder, der ein traumatisches Ereignis erlebt habe, werde psychisch krank. Bei vielen bleibe es bei einer akuten Belastungsreaktion, stellt Scharping klar. Wichtig sei es, nach einer Katastrophe schnell wieder in einen geregelten Alltag zurückzufinden. Dazu zählten ganz grundlegende Dinge wie eine Wohnung und genügend Geld für Essen zu haben, aber auch soziale Kontakte wieder aufzunehmen und damit positive Erlebnisse zu schaffen. „Im nächsten Schritt geht es darum, sich dem zu stellen, was passiert ist und was das Erlebte mit einem gemacht hat.“ Wer die Geschehnisse als schreckliches Schicksal akzeptieren und die Erfahrungen in sein Leben integrieren könne, werde daraus zwar Schutzmaßnahmen für die Zukunft, aber keine dramatischen Ängste entwickeln. „Eine gelungene Traumaverarbeitung bedeutet, dass man ohne übergroßen emotionalen Stress an das traumatische Ereignis denken kann und auch steuern kann, wie und wann man daran denkt. Der Einfluss, den das Erlebte auf das Leben jetzt hat, sollte adäquat sein. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass man sein zerstörtes Haus nicht mehr direkt an der Ahr wiederaufbaut, sich aber traut, nach draußen zu gehen.“ Im Idealfall, sagt Scharping, gingen Menschen gestärkt aus einer Katastrophe hervor. Sie hätten neue Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten entwickelt. Dabei könne eine Therapie die Betroffenen unterstützen. Je schneller die Betroffenen diese Hilfe erhielten, desto besser sei die Prognose, so Scharping.

Der Wiederaufbau verläuft zäh

Der Wiederaufbau nach der Flut werde sicherlich noch fünf bis sechs Jahre dauern, meint der Kaller Hausarzt Dr. Manfred Wolter. Noch immer seien Bahnstrecken gesperrt, Schulen zerstört, Wirtschafts- und Waldwege unbefahrbar. Wohnraum sei schon immer knapp gewesen, jetzt seien kaum noch Wohnungen zu finden, berichtet Wolter. Viele Erdgeschosswohnungen seien nach wie vor unbewohnbar, die Sanierungsarbeiten kämen nur schleppend voran. Überall mangele es an Handwerkern und Material. Er selbst betreut seine Patienten immer noch in einer Notpraxis im Pfarrheim. Die Räume der Praxisgemeinschaft, in der er seit zwei Jahren arbeitet, müssen nach der Flut kernsaniert werden. 

Die Mischung aus Coronapandemie, Flutkatastrophe und Ukrainekrieg wühle die Menschen auf, erzählt Wolter. Als Hausarzt führe er viele erste Gespräche mit Patientinnen und Patienten, die sich hilflos und überfordert fühlten. Einem Teil von diesen empfehle er eine psychotherapeutische Behandlung. „Gleichzeitig muss ich den Patienten sagen, dass sie wahrscheinlich keinen Therapieplatz finden werden“, klagt Wolter. „Die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung lag hier schon immer im Argen. Für Erwachsene gibt es kaum Therapieplätze, für ältere Menschen und Kinder und Jugendliche eigentlich gar keine“, sagt Wolter, der auch Vorsitzender der Kreisstelle Euskirchen der Ärztekammer Nordrhein ist. 

Hier soll jetzt zumindest für Erleichterung gesorgt werden. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Nordrhein hat im Mai gemeinsam mit sechs nordrhein-westfälischen Krankenkassen jeweils zwei zusätzliche Psychotherapeutensitze in den Kreisen Euskirchen, Rhein-Sieg, und Rhein-Erft sowie in der Städteregion Aachen geschaffen. Das Angebot richtet sich nach Auskunft des NRW-Gesundheitsministeriums an Betroffene und Helfende, die unmittelbar als Folge der Flut psychisch erkrankt sind oder deren bereits bestehende psychische Erkrankung sich dadurch verschlechtert hat. Befristet ist es für die kommenden zwei Jahre. Nach Ansicht von Wolter sind zwei Kassensitze schlicht zu wenig. Und die Befristung auf zwei Jahre sei viel zu kurz. Dazu komme, dass auch viele soziale Unterstützungsangebote nach der Flut eingestellt worden seien. Die schulärztlichen Eingangsuntersuchungen hätten zudem gezeigt, wie dramatisch vor allem die Situation der Kinder sei, die zuerst durch Schulschließungen infolge der Coronapandemie und dann durch die Flut doppelt belastet worden seien.  

Ältere Menschen besonders betroffen

Die Menschen, die schon vor der Flut psychische Probleme hatten, seien von den Folgen der Katastrophe wesentlich stärker betroffen als andere, beobachtet Dr. Hildegard Palzkill-Könemann, die als Allgemeinärztin in Eschweiler niedergelassen ist. Viele ältere Menschen hätten nach der Flut ihre Wohnungen aufgeben müssen und seien übergangsweise in Tagespflegeinrichtungen oder bei ihren Kindern untergekommen. „Diese ad-hoc-Veränderung war für viele ältere Menschen ein Schlag. Viele haben sich davon nicht mehr erholt“, sagt Palzkill-Könemann. Corona habe viele – gerade ältere – Menschen schon zermürbt und sozial isoliert, die Flut sei bei vielen dann der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe. Trotzdem habe sie den Eindruck, dass das Gros der Eschweiler sich mit der Situation arrangiert habe und das Beste daraus mache. Die große Hilfsbereitschaft und das Miteinander nach der Flut seien für viele eine Stütze gewesen – gerade nach dem harten Corona-Winter. 

Ähnlich schildert Scharping die Situation im Ahrtal. Die Hilfe nach der Flut sei überwältigend gewesen, viele tausend Menschen seien ins Ahrtal gekommen und hätten angepackt. Niedergelassene Kolleginnen und Kollegen aus ganz Deutschland hätten unmittelbar nach der Flut Therapieplätze für Flutopfer zur Verfügung gestellt, sagt Scharping. Ärztinnen und Ärzte sowie Psychologische Psychotherapeuten, deren Praxen von der Flut zerstört wurden, seien bei Kollegen untergekommen. „Am Anfang, direkt nach der Flut, war das Interesse an Psychotherapie bei den Menschen vor Ort allerdings gar nicht so groß“, erinnert sich Scharping. Zudem sei oft nicht erkennbar gewesen, wer hinter den Hilfsangeboten stecke. „Ob die Person ein abgeschlossenes Psychologiestudium plus Ausbildung hat, Heilpraktiker ist, einen Wochenendworkshop gemacht hat oder sich einfach selber zum Coach oder Therapeuten erklärt hat, lässt sich in vielen Fällen nicht nachvollziehen“, sagt die Psychiaterin. Die Kreisverwaltung in Bad Neuenahr-Ahrweiler habe extra eine Stelle geschaffen, auf der Mitarbeiter versuchten, Angebote zu prüfen und mit den Bedarfen übereinzubringen. Doch auch das sei schwierig. „Die Qualifikation der  Kolleginnen und Kollegen, die auf den Listen der Kassenärztlichen Vereinigung stehen, ist natürlich sicher gegeben. Aber die haben oft keine Therapieplätze mehr“, so Scharping.

Zu wenige Plätze für zu viele Flutopfer

Die Coronapandemie habe den Aufbau niedrigschwelliger Unterstützungsangebote erschwert, berichtet Scharping, die mit ihren Kolleginnen und Kollegen im Traumahilfezentrum ein Café für die Flutopfer einrichten wollte. „Wir wollten den Menschen die Möglichkeit geben, anonym und niedrigschwellig Hilfe zu finden. Doch die Auflagen zur Kontaktnachverfolgung machten Anonymität unmöglich. Letztendlich gab es ein Café ohne Kaffee und mit Maskenpflicht. Es ging, war aber mühsam.“ Für viele Menschen sei es zudem schwierig, die Therapieangebote, die es gibt, wahrzunehmen. „Viele können nicht von Zuhause weg, weil Handwerker beaufsichtigt werden müssen, das Auto weggeschwemmt oder die Bahnverbindung zerstört wurde“, erzählt Scharping. „Wer dann noch über 80 Jahre alt ist, gehbehindert und im vierten Stock ohne Aufzug wohnt und erst jemanden finden muss, der ihn die Treppe runterträgt, der bleibt direkt Zuhause.“ Auch Videosprechstunden seien nicht möglich, wenn das Internet nicht mehr funktioniere, fügt Scharping hinzu. 
Nach Ansicht von Scharping braucht es mehr niederschwellige, aufsuchende und fußläufig erreichbare Therapieplätze. Anfang des Jahres hatte die KV Rheinland-Pfalz für das Ahrtal sieben Ärztliche oder Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mit Teilversorgungsaufträgen zugelassen – insgesamt 2,75 Kassensitze. Im März kamen zwei Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutinnen dazu, die mit jeweils einem beziehungsweise einem halben Kassensitz ausgestattet sind. Ein Tropfen auf den heißen Stein, meint Scharping. „Wir haben etwa 4.000 therapiebedürftige Flutopfer im Ahrtal. Der Bedarf hat hier eine Dimension angenommen, bei der 2,75 Kassensitze wenig ausrichten können.“ Die neuen Kolleginnen und Kollegen seien zudem nur berechtigt, Flutopfer zu behandeln. „Wir haben hier auch Menschen mit psychischen Erkrankungen, die keine Flutopfer sind. Die warten über ein Jahr auf einen Therapieplatz“, kritisiert Scharping. Auch werde es für die neuen Kollegen schwer, Praxisräume zu finden. Die Raumnot sei groß. 

Nach ihrer Erfahrung suchten und suchen nach wie vor viele Menschen eine traumatherapeutische Unterstützung auf, sagt Susanne Leutner, Psychologische Psychotherapeutin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Bonn. Umso wichtiger sei es, die Regelversorgung in den betroffenen Regionen auch langfristig auszubauen und Beratungsstellen zu schaffen. Mit dem Netzwerk Soforthilfe Psyche hat Leutner bis vor Kurzem selbst Sprechstunden für Traumatisierte vor Ort angeboten und Therapieplätze vermittelt. „Der Bedarf wird nun zumindest stückweise durch die zusätzlichen Ermächtigungen der Kassenärztlichen Vereinigungen in Rheinland-Pfalz und NRW abgedeckt“, sagt Leutner, deren Netzwerk seine Arbeit Ende August einstellt. Wichtig für die Zukunft sei, dass die Betroffenen gezielt nach traumatherapeutischen Angeboten suchen könnten. Aus den Listen der Kassenärztlichen Vereinigungen gehe bislang allerdings nicht hervor, wer einen traumatherapeutischen Schwerpunkt habe.