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Die Kümmerei im Brennpunkt

19.07.2022 Seite 16
RAE Ausgabe 8/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 8/2022

Seite 16

  • Orientierung bieten: Seit 2021 steht das Team der Kümmerei Menschen zur Seite, die sich im Gesundheits- und Sozialsystem nicht zurechtfinden. © picture alliance/dpa/Henning Kaiser
  • Dabei deckt das Team 13 Sprachen ab, um den Betroffenen Diagnosen, Arztbriefe und Anträge in ihrer Muttersprache zu erklären. © Axel Dahlhausen
Köln-Chorweiler gilt als sozialer Brennpunkt. Arbeitslosenquote und Selbstmordrate sind hoch, ebenso die Zahl der Pflegebedürftigen und der Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes. Vorsorgeuntersuchungen werden kaum wahrgenommen, das Wissen der Bevölkerung über das örtliche Gesundheits- und Sozialsystem ist gering. Dieser Entwicklung stellt sich seit 2021 die Kümmerei entgegen. Sie versucht Menschen zu erreichen, die durchs soziale Netz zu fallen drohen. Dabei arbeitet sie Hand in Hand mit den Ärztinnen und Ärzten vor Ort. 

von Marc Strohm  

Mittendrin im Chorweiler Alltagsgeschehen liegt die Kümmerei. Zur S-Bahn-Station ist es nur ein fünfminütiger Fußweg, Supermärkte, eine Bücherei, das örtliche MVZ und die Apotheke liegen in der Nachbarschaft. Das bunt gestaltete Schaufenster der Einrichtung fällt auf, rebelliert gegen die Eintönigkeit der umstehenden Betongiganten, die das Stadtbild des verrufenen Kölner Nordens prägen. Pop-Art-Bilder auf der Glasscheibe zeigen medizinisches Fachpersonal, doch die Kümmerei will nicht auf ihre Funktion innerhalb der Gesundheitsversorgung reduziert werden. Ihr Ansatz reicht weit ins Soziale hinein. Nicht umsonst steht die umfassende Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf der Wand des Arbeitszimmers der Leiterin der Kümmerei, Birgit Skimutis. Die WHO beschreibt Gesundheit als „Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“ und nicht nur als Freisein von Krankheit oder Gebrechen.

Die Räumlichkeiten der Kümmerei wirken einladend. Nicht zuletzt sorgen die bequemen Sofas, die kunstvoll gestaltete Wand und der herzliche Empfang durch die Gesundheitslotsen für ein Gefühl der Nähe und schaffen Vertrauen. Das sei wichtig, denn ein Großteil der sozialen Arbeit funktioniere über Vertrauen, erklärt Skimutis gegenüber dem Rheinischen Ärzteblatt. Rund um die Uhr könnten sich die Menschen an die Kümmerei wenden, nicht wenige würden von ihren Ärzten dorthin weitergeleitet, wenn diese zum Beispiel bemerkten, dass Überweisungen an Fachärztinnen und Fachärzte nicht wahrgenommen würden. „Niemand, der hierhin kommt, steht am Ende mit leeren Händen da“, erklärt die Sozialpädagogin. Das Angebot habe sich in Chorweiler herumgesprochen und werde gut angenommen. 

Hilfe für komplexe Probleme 

Die Menschen, die die Kümmerei aufsuchten, seien dabei genauso verschieden wie ihre Probleme, berichtet Skimutis. Einige hätten aus den unterschiedlichsten Gründen ein regelrechtes „Ärztehopping“ von Hausarzt zu Hausarzt hinter sich, andere erhielten Unterlagen von ihren Ärztinnen und Ärzten, die sie nicht verstünden und wieder andere wüssten nicht, an wen sie sich mit ihren Beschwerden wenden sollten.

Neben diesen medizinischen Problemen nimmt sich die Kümmerei auch sozialen Herausforderungen an. Probleme mit dem Jobcenter, Schimmel in der Wohnung, Anfragen für Deutschkurse, Wohnungslosigkeit oder die Suche nach Kita-Plätzen seien nur einige Beispiele aus der täglichen Arbeit der Kümmerei. Die Frage, wer die Kümmerei überhaupt aufsucht, beantwortet Skimutis mit einem Lachen: „Fragen Sie lieber, wer nicht hierherkommt.“ Tatsächlich betreue die Kümmerei ganze Familien „plus Schwiegermutter und Schwiegervater“, berichtet die erfahrene Sozialarbeiterin. Wenn sich Menschen an die Kümmerei wendeten, bleibe es meist nicht bei einem Besuch, denn die Probleme seien vielschichtig. „Das ist wie eine Zwiebel: Sie haben die eine Schale abgearbeitet, dann kommt die nächste. Am Anfang steht eine Vermittlung zum Diabetologen und am Ende hören Sie dann von der häuslichen Gewalt und dazwischen sind die Kinder, die in die Kita gebracht werden müssen“, sagt Skimutis. 
 

Per Überweisung in die Kümmerei 

Alle Anfragen in der Kümmerei werden von einem multiethnischen und multiprofessionellen Team bearbeitet. Nicht wenige Gesundheitslotsen haben der Leiterin zufolge einen medizinischen Grundberuf erlernt und so stehen den Patientinnen und Patienten zum Beispiel eine Krankenschwester, eine Altenpflegerin und eine Medizinische Fachangestellte mit Rat und Tat zur Seite, die jeweils verschiedene Zusatzstudiengänge wie Gesundheitswissenschaft, Gesundheitsökonomie oder „Case und Care Management“ absolviert hätten. Eine der Gesundheitslotsinnen ist ausgebildete Stadtteilmutter der Stadt Köln, sie hat im Iran Psychologie studiert und durch ihren eigenen Migrationshintergrund einen guten Zugang zu den verschiedenen Communities. Dabei begegneten die Gesundheitslotsen den Betreuten auf Augenhöhe und in ihrer Landessprache, betont Skimutis. Insgesamt 13 Sprachen beherrsche das Team, wobei von Englisch, Französisch und Italienisch bis Arabisch, Persisch, Aserbaidschanisch, Bulgarisch und sogar einigen Berbersprachen alles abgedeckt sei. Neben den Gesundheitslotsen verfügen auch Migrationsberater der Caritas und die psychoonkologische Beratung Haus Lebenswert der Uniklinik in Köln über Räumlichkeiten in der Kümmerei. Auch das Fallmanagement des Jobcenters ist in einem eigenen Raum vertreten. All diese Angebote könnten in der Kümmerei von den Besuchern niedrigschwellig und ohne Termin wahrgenommen werden, sagt Skimutis.

In den Communities der Migrantinnen und Migranten in Köln-Chorweiler werde Ärztinnen und Ärzten eine andere Rolle zugeschrieben als in der übrigen Bevölkerung, erläutert die Sozialarbeiterin. Vor allem in der nahöstlichen Kultur gelte der Arzt als Vertrauensperson per se. „Da geht man mit allen Sachen zum Arzt,“ so Skimutis. Und so landeten auch in Chorweiler die unterschiedlichsten Probleme bei den Ärzten: von Eheproblemen, über Schwierigkeiten beim Antrag auf Erwerbsminderungsrenten und dem Ausfüllen der Jobcenterunterlagen. Als 2021 die Taliban in wenigen Wochen Afghanistan erneut unter ihre Kontrolle brachten, hätten sich in Chorweiler viele Afghaninnen und Afghanen an ihre Ärztinnen und Ärzte gewendet, um dort nachzufragen, ob diese eine Familienzusammenführung veranlassen könnten. Die Ärzte können diese Menschen jetzt direkt an die Kümmerei weiterleiten. „Die Ärztinnen und Ärzte haben uns zurückgemeldet, dass wir für sie eine enorme Entlastung sind“, betont Skimutis.

Fabian Engelbertz arbeitet seit 2020 im fußläufig von der Kümmerei entfernten MVZ. Der Kinder- und Jugendarzt hat in Köln studiert, arbeitete dann einige Jahre in New York und Lateinamerika. Schließlich zog es ihn zurück in die Heimat, wo er zuerst in der Flüchtlingsmedizin des Gesundheitsamtes tätig war, bevor er sich im MVZ niederließ. Nachdem die Kümmerei ihm ihr Leistungsangebot vorgestellt hatte, seien ihm gleich einige Familien in der Praxis begegnet, die er dorthin weitergeleitet habe, sagt Engelbertz. Mittlerweile vergehe kaum eine Woche, in der er nicht mindestens eine Familie an die tatkräftigen Helfer verweise. Manchen Familien stelle er dabei sogar eigens eine Überweisung für die Kümmerei aus, damit diese „etwas Offizielles“ in der Hand hätten. Die Vermittlung erfolge allerdings in beide Richtungen. Flüchtlingsfamilien, die noch keinen Kinderarzt hätten, schicke die Kümmerei zu ihm, häufiger komme es jedoch vor, dass er während der Behandlung ein soziales Problem ausmache, mit dem er seine kleinen Patienten und deren Familien an die Kümmerei verweise. 
 

Bevor es diese Möglichkeit gab, habe er bei manchen Problemen seiner Patienten ein Gefühl der Hilflosigkeit verspürt, erzählt Engelbertz und gibt ein Beispiel: „Eine Familie hat ganz viel Schimmel in der Wohnung und ich sehe, dass das Kind davon medizinisch belastet ist, aber ich kann ja nicht bei der Hausverwaltung anrufen und mich da beschweren.“ Vor allem bei konkreten sozialen Problemen komme die ärztliche Hilfe an ihre Grenzen. „Ich bin kein Sozialarbeiter, kein Rechtsanwalt und auch kein Psychotherapeut. Gerade wenn es um soziale, gesellschaftliche Probleme geht, bin ich froh, dass ich die Verantwortung an die Kümmerei abgeben kann“, so Engelbertz. 

Die meisten Menschen, die er weiterleite, befänden sich in einer verzweifelten Lage. Vor allem während der Coronapandemie habe sich bei vielen Familien ein Gefühl der Hilflosigkeit verstärkt, denn häufig hätten sie für ihre Probleme außer dem Kinderarzt – und eben der Kümmerei keine Ansprechpartner gefunden.

Gesundheitliche Verbesserungen zeigen sich durch die Arbeit der Gesundheitslotsen laut Engelbertz meist schnell. Kinder husteten weniger, nachdem der Schimmel in der Wohnung entfernt worden sei, andere Familien berichteten über mehr finanzielle Unterstützung für ihr pflegebedürftiges Kind, nachdem in der Kümmerei entsprechende Leistungsanträge ausgefüllt worden seien.

Deren Leiterin Skimutis sieht zwar auch die Erfolge der Einrichtung, kritisiert aber insbesondere die Schwächen des Sozialsystems. Alle Menschen ungeachtet ihres sozialen Status oder ihres Bildungsstandes müssten Zugang zum System haben. Sie müssten integriert behandelt, begleitet und unterstützt werden können. „Für uns wäre es am schönsten, wenn es uns nicht gäbe“, sagt Skimutis. Kinderarzt Engelbertz wünscht sich, dass ähnliche Modelle auch in anderen Regionen etabliert werden, in denen es Bedarf gibt.

 

Der Gesundheitskiosk 

Ähnlich wie die Kümmerei bieten auch Gesundheitskioske einen niedrigschwelligen Zugang zum Gesundheitswesen für benach­teiligte Bevölkerungsgruppen. 

Der erste Gesundheitskiosk entstand 2017 für Hamburg-Billstedt und -Horn, 2022 eröffnete ein ­weiterer in den Aachen-Arkaden. Nach der Schließung zweier Krankenhäuser im Essener Norden, kündigte die Stadt Essen in einem 7-Punkte-Plan an, unter anderem zwei Gesundheitskioske neu ­errichten zu wollen; ein erster ­öffnete im April 2022. Bei der ­Eröffnungsfeier war unter anderem Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vor Ort, der in diesem Konzept bundesweit eine Zukunft sieht. 

Weitere Gesundheitskioske in ­Solingen, Duisburg und Krefeld sind in Planung. Die AOK Rheinland/Hamburg, Hauptträger der Gesundheitskioske, nennt als Ziel die Etablierung solcher Angebote in jeder Bedarfsregion des Rheinlands. Während Gesundheitskioske sich in ihrer Funktion auf medizinische Aspekt beschränkten, verfolgt die Kümmerei nach eigener Aus­sage einen holistischen Ansatz, der auch die Sozialarbeit umfasst.