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Kindern eine Stimme geben

21.06.2022 Seite 20
RAE Ausgabe 7/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2022

Seite 20

Kontaktbeschränkungen sowie Schul- und Kitaschließungen zur Eindämmung der Coronapandemie haben die gesundheitliche Situation vieler Kinder und Jugendlicher in den vergangenen zwei Jahren verschlechtert. Betroffen sind vor allem diejenigen, die vorbelastet waren und aus ärmeren Verhältnissen stammen. Der 126. Deutsche Ärztetag setzte sich Mitte Mai in Bremen dafür ein, die Interessen der Kinder künftig mehr in den Vordergrund zu rücken.

von Heike Korzilius

Mitte März 2020 änderte sich für die Kinder und Jugendlichen in Deutschland das Leben. Zur Eindämmung der Coronapandemie wurden fast überall Kitas und Schulen geschlossen. Dasselbe galt für Spielplätze, Sport- und Freizeiteinrichtungen. Gemeinsam spielen, lernen, abhängen: vorbei. Der Unterricht fand lange Zeit – mehr oder weniger erfolgreich – digital vor dem heimischen Bildschirm statt. Je nach sozialer Lage teilten sich dabei drei Kinder das Smart-Phone der Mutter oder man saß vor dem eigenen iPad oder Laptop. 

„Vieles ist aufgrund der Pandemie auf der Strecke geblieben“, sagte Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Ende Mai vor den 250 Abgeordneten des 126. Deutschen Ärztetages in Bremen. Um der jungen Generation eine Stimme für ihre berechtigten Forderungen zu geben, befasse sich die Ärzteschaft in einem eigenen Tagesordnungspunkt mit den Belastungen der Kinder und Jugendlichen, die durch soziale Isolation und Kontaktbeschränkungen entstanden seien. „Denn während Kitas und Schulen geschlossen wurden, wurden viele Betriebe und Unternehmen mit Maskenpflicht und weiteren Maßnahmen offengehalten“, kritisierte Reinhardt.

Kinder und Jugendliche haben dem BÄK-Präsidenten zufolge in den vergangenen zweieinhalb Jahren eine besonders große Last zu tragen gehabt. Zu Beginn der Pandemie habe der Fokus – zu Recht – auf den Älteren und den gesundheitlich besonders vulnerablen Gruppen gelegen. Um diese vor dem Virus zu schützen seien strenge Kontaktbeschränkungen verfügt worden – mit zum Teil erheblichen Kollateralschäden für die Jungen. Man wisse inzwischen, dass COVID-19 bei Kindern und Jugendlichen ohne relevante Vorerkrankungen zum ganz überwiegenden Teil mild verlaufe, gab Reinhardt zu bedenken. Die soziale Isolation habe allerdings mit dazu geführt, dass sich die Lebensqualität und die psychische Gesundheit von vielen jungen Menschen im Verlauf der Coronapandemie verschlechtert habe. Jedes dritte Kind habe ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten und Belastungen gelitten. Auch psychosomatische Beschwerden hätten zugenommen. Viele Kinder und Jugendliche hätten sich aufgrund der Coronabeschränkungen zu wenig bewegt und sich ungesund ernährt, mit entsprechend erheblicher Gewichtszunahme, so Reinhardt. Dazu komme, dass sich problematische Familienverhältnisse durch die Isolation verschärft hätten, Fälle häuslicher Gewalt hätten zugenommen. 

Schulen sollten offen bleiben

„Aus medizinischer Sicht stellen Kita- und Schulöffnungen kein Pandemierisiko dar, wenn die erforderlichen und bewährten Schutz- und Hygienemaßnahmen eingehalten werden“, stellte der BÄK-Präsident klar. Pandemiebedingte Schließungen von Kitas und Schulen sollten deshalb künftig nur noch in extremen Krisensituationen in Erwägung gezogen werden, forderten die Abgeordneten des 126. Deutschen Ärztetages in einem Beschluss. Das Ärzteparlament sprach sich außerdem dafür aus, die Forschung zu den langfristigen Folgen einer Coronainfektion und einer mRNA-Impfung bei Kindern und Jugendlichen zu fördern und auszubauen. Ganz grundsätzlich müsse die stationäre und ambulante Versorgung von Kindern und Jugendlichen verbessert und angemessen finanziert werden. Das gelte für die Kinder- und Jugendmedizin, die -psychiatrie und die Sozialpädiatrie gleichermaßen, heißt es in dem Ärztetagsbeschluss. 

Das von Bund und Ländern beschlossene Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“, das diese beim Abbau von Lernrückständen unterstützen soll, kritisierte BÄK-Präsident Reinhardt als unzureichend. Für die Jahre 2021 und 2022 stehe dafür zwar eine Milliarde Euro zur Verfügung. Allein für die Rettung der Lufthansa habe die Bundesregierung hingegen acht Milliarden Euro bereitgestellt. „Das Rettungspaket für das Bildungs- und Erziehungswesen muss besser ausgestattet werden“, forderte er. 

Therapieangebote ausbauen

Den Befund des Deutschen Ärztetages mit Blick auf die Belastungen von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie teilte Katharina Swinka. Die Generalsekretärin der Bundesschülerkonferenz berichtete den Abgeordneten von Schülerinnen und Schülern, „die an ihre Grenzen gekommen sind“. Sie schilderten depressive Symptome, sprächen von Niedergeschlagenheit und Müdigkeit, davon, morgens nicht aus dem Bett aufstehen zu können oder davon, dass Gelerntes nicht im Kopf bleiben wolle. „Viele berichten von kompletter Hilflosigkeit“, erklärte Swinka. Sie forderte mehr Schulsozialarbeiter und -psychologen, um diese Schüler angemessen unterstützen zu können. Nach Ansicht der Schülervertreterin werden aber auch mehr Kassensitze für Ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten benötigt, damit Betroffene eine angemessene Therapie erhalten könnten. Zurzeit sei es fast unmöglich, einen Therapieplatz zu bekommen, kritisierte Swinka. 

Um seelisch gesund zu bleiben, benötigten Kinder und Jugendliche eine geregelte Tagesstruktur, angenehme Aktivitäten, Bewegung, soziale Kontakte, aber auch Rückzugsmöglichkeiten, erklärte Professor Dr. Dr. Martin Holtmann, Ärztlicher Direktor der LWL-Universitätsklinik Hamm, einer Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Der Lockdown habe nicht alle Kinder gleichermaßen hart getroffen. „Manche sind innerlich an den Herausforderungen gewachsen“, sagte der Kinder- und Jugendpsychiater. Schwierig sei es für diejenigen gewesen, die in engen Verhältnissen lebten – viele mit Migrationshintergrund – und diejenigen, die schon vorher „an der Schwelle standen“. Bereits vor der Coronapandemie sei jedes siebte Kind übergewichtig und zehn Prozent seien psychisch behandlungsbedürftig gewesen. Hier habe Corona bestehende Probleme verschärft. Auch die pathologische Nutzung sozialer Medien habe in den vergangenen zwei Jahren zugenommen. Fast 250.000 Zehn- bis 17-Jährige seien mediensüchtig. Jungen seien doppelt so häufig betroffen wie Mädchen, so der Psychiater. Die krankhafte Nutzung von Computerspielen habe um 52 Prozent zugenommen, inzwischen seien 220.000 Kinder und Jugendliche betroffen. Auch die Zahl der Fälle von Vernachlässigung, psychischer und physischer Misshandlung in den Familien sei während der Pandemie gestiegen.

Seit die Schulen wieder geöffnet sind, verzeichnen die Kinder- und Jugendpsychiatrien Holtmann zufolge mehr stationäre Behandlungen und mehr Notfälle. Er führte dies in erster Linie auf Nachholeffekte nach dem Lockdown und zusätzlichen Bedarf zurück. Denn die Fähigkeit, erfolgreich belastende Lebensumstände zu bewältigen, sei nur in gewissen Grenzen erlern- und trainierbar. „Wir verzeichnen nur mäßige Effekte der Resilienzförderung, weil wir die am meisten Bedürftigen nicht erreichen“, erklärte Holtmann ein auch aus der Prävention bekanntes Phänomen. Das individualisierte Resilienz-Konzept stoße dort an seine Grenzen, wo es auf Stress, Erschöpfung, prekäre Verhältnisse und Krankheit treffe. Litten beispielsweise die Eltern an Depressionen oder an einer Suchterkrankung, beeinflusse das auch die Krankheitslast bei Kindern. 

Bildung ist mehr als Schulbildung

„Wir müssen verbindliche Strukturen zur Hilfeplanung und Kooperation schaffen“, forderte Holtmann mit Blick auf das existierende Versorgungssystem. „Es geht um den systemischen Blick, darum, Kinder und ebenso ihre depressiven Eltern zu behandeln.“ Dazu müsse die Zusammenarbeit von Pädiatrie, Jugendhilfe, Öffentlichem Gesundheitsdienst, Reha und Schulen ausgebaut werden. „Psychische Kindergesundheit muss in den Fokus“, so der Psychiater. 

Wie die Referenten vor ihr, übte auch Dr. Annic Weyersberg, tätig an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsklinik Köln, Kritik an flächendeckenden Schul- und Kitaschließungen. Sie müssten ultima ratio bleiben. „Denn Bildung ist mehr als Schulbildung. Und die stand während des Lockdowns nicht mehr zur Verfügung“, sagte sie. Grund- und weiterführende Schulen seien in Deutschland während der Pandemie an 64 respektive 84 Tagen geschlossen gewesen – ein halbes Schuljahr, so die Kinderärztin. Die Folgen: Insbesondere bei Kindern aus sozial schwachen Verhältnissen hätten Lese- und Mathekompetenz abgenommen. Dabei hätten Studien gezeigt, dass Bildungsdefizite oft nicht aufgeholt würden. Gesellschaftliche Teilhabe sei aber abhängig von Bildung und Bildungsgerechtigkeit und trage zu Gesundheit und Wohlbefinden bei. Weyersbergs Fazit: Physische, psychische und soziale Folgen der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung seien noch nicht abschätzbar und endeten nicht mit dem Abflauen des Infektionsgeschehens. Es sei ein langfristiges Monitoring erforderlich. 

„Das Wohl des Kindes ist vorrangig zu berücksichtigen“, zitierte Professor Dr. Reinhard Berner die UN-Kinderrechtskonvention. „Daran haben wir uns nicht gehalten“, sagte der Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden. Die Kinder hätten unter der Pandemie mehr gelitten als notwendig gewesen wäre. Denn schon zu deren Beginn habe sich herauskristallisiert, dass es bei den Null- bis 18-Jährigen kaum an Corona erkrankte Kinder gegeben habe. Von den 5.700 Fällen, die das Online-Register der Kinderkliniken bislang verzeichnete, hätten nur 190 Kinder auf der Intensivstation behandelt werden müssen. 21 Kinder seien mit einer Coronainfektion gestorben, 16 von diesen hätten unter schweren Grunderkrankungen gelitten. „Wir brauchen in Deutschland dringend eine altersadjustierte Erfassung der Krankheitslast, idealerweise digital und automatisiert“, forderte Berner. „Wir brauchen diese Daten für verantwortungsvolle Entscheidungen.“

Für Entscheidungen auf der Grundlage ausreichender Evidenz warb auch Univ.-Professor Dr. Fred Zepp, Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, der zugleich die Ständige Impfkommission (Stiko) berät. Insgesamt habe die Stiko inzwischen fünf Impfempfehlungen für Kinder vorgelegt (www.rki.de). Zuvor hätten die Wissenschaftler „über Wochen“ pro und contra diskutiert. Der Nutzen, gerade im Hinblick auf die individuellen gesundheitlichen Vorteile, und mögliche Risiken müssten bei Kindern und Jugendlichen besonders sorgfältig abgewogen werden. Unter Pandemiebedingungen erforderten die Stiko-Impfempfehlungen eine kontinuierliche Anpassung an eine veränderte Infektionslage und neue Erkenntnisse über die verwendeten Impfstoffe. Um diese Aufgabe zu erfüllen, so Zepp, müsse die Stiko personell und strukturell besser aufgestellt werden.

Sozial isoliert

Kinder und Jugendliche hatten in den vergangenen zweieinhalb Jahren eine besonders große Last zu tragen. Jedes dritte Kind litt ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten, auch psycho­somatische Beschwerden nahmen zu. In der Isolation der Lockdowns verschärften sich problematische Familienverhältnisse. Der 126. Deutsche Ärztetag forderte die Politik auf, die Schließung von Schulen und Kitas nur noch in „extremen Krisensituationen in Erwägung zu ziehen“. 

Bewegung und gesunde Ernährung mit Gesund macht Schule

Gewichtszunahme und Bewegungsmangel bei Kindern entgegenwirken, wollen auch die 307 Grundschulen, die zurzeit bei Gesund macht Schule teilnehmen, einem Präventionsprogramm der Ärztekammer Nordrhein und der AOK Rheinland/Hamburg. Die Themen „Bewegung und Entspannung“ sowie „Essen und Ernährung“ setzen den Organisatoren zufolge 80 Prozent der Schulen im Unterricht um. Die negativen Auswirkungen der Corona-Lockdowns auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten von Kindern hätten die Nachfrage nach den Boxen mit entsprechendem Unterrichtsmaterial jetzt noch einmal steigen lassen. Die Bewegungsbox von Gesund macht Schule bietet beispielsweise Ideen für die große Hofpause, zur Bewegung im Unterricht, zur Entspannung sowie zu erlebnispädagogischen Spielen. Die Ernährungsbox vermittelt Wissen über Lebensmittel, Esskultur in verschiedenen Kulturkreisen sowie die Verdauung. Außerdem gibt es Tipps, wie man gemeinsam mit den Kindern gesunde Mahlzeiten zubereiten kann. Weitere Informationen zum Präventionsprogramm: Ärztekammer Nordrhein, Snezana Marijan, 0221 4302-2031snezana.marijan(at)aekno.de.