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Interview

Kinderschutz über Schweigepflicht gestellt

25.04.2022 Seite 29
RAE Ausgabe 5/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 5/2022

Seite 29

Im Jahr 2020 starben in Deutschland 152 Kinder durch Gewalt und Vernachlässigung. 4.542 Kinder wurden körperlich misshandelt. Und dies sind nur die Fälle, die in der Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts erfasst wurden. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Ärztinnen und Ärzte durften sich bislang bei Verdacht auf Kindesmisshandlung nicht mit Kollegen austauschen, um ihre Diagnose zu bestätigen. Nun hat sich die Gesetzeslage geändert – zugunsten von Kindern und Jugendlichen. Das Rheinische Ärzteblatt sprach darüber mit Dr. Ralf Kownatzki, Vorsitzender von RISKID, einer Plattform, über die Ärztinnen und Ärzte schon seit 2005 bei Verdacht auf Kindesmisshandlung miteinander kommunizieren können.  

RhÄ: Der Landtag in NRW hat Ende März eine Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung beschlossen. Was bedeutet das für Ärztinnen und Ärzte, die vermuten, dass einem Kind Gewalt angetan wird?
Kownatzki: Die Änderung im Heilberufsgesetz NRW ermöglicht es zukünftig Ärztinnen und Ärzten, sich bei Verdacht auf Kindesmisshandlung untereinander auszutauschen, so wie es auch sonst im Rahmen der ärztlichen Diagnostik nach der Berufsordnung üblich ist.

Bisher brauchten wir dafür das Einverständnis der Sorgeberechtigten, die oftmals selbst die Misshandler waren. Diese absurde Rechtssituation wurde jetzt beseitigt. Dadurch kann zukünftig misshandelten Kindern frühzeitiger geholfen werden.

RhÄ: Sie waren 2005 einer der Initiatoren des Projekts RISKID, das es Ärzten ermöglicht, bei Verdacht auf Kindesmissbrauch miteinander zu kommunizieren. Bewegte sich das Projekt nicht in einer rechtlichen Grauzone und brauchte es deshalb dringend eine Gesetzesänderung?
Kownatzki: Wir hatten damals in Duisburg mehrere misshandelte und getötete Kinder zu beklagen. In all diesen Fällen hatten die Misshandler häufig die Ärzte gewechselt, um ihre Taten zu verschleiern. Um diesem „Doctor-Hopping“ etwas entgegenzusetzen, haben wir die digitale Informationsplattform RISKID für den konsiliarischen ärztlichen Austausch geschaffen. Sie steht allen Ärztinnen und Ärzten bundesweit zur Verfügung. Bisher mussten RISKID-Ärzte wegen der absurden Rechtssituation mit einer Schweigepflichtentbindung arbeiten, die generell von allen Eltern eingeholt wurde, die mit ihren Kindern zur Behandlung kamen. Dies wird zukünftig einfacher.

RhÄ: Lassen sich durch die Lockerung der Schweigepflicht Kinderleben retten?
Kownatzki: In sehr vielen Fällen verläuft eine Kindesmisshandlung wie eine chronische Erkrankung über einen längeren Zeitraum. In diesem Zeitraum kann jetzt durch das Zusammenführen von Befunden, Diagnosen und einer konsiliarischen Bewertung der beteiligten Ärztinnen und Ärzte eine Kindesmisshandlung frühzeitiger entdeckt und den Kindern geholfen werden.

Jede Woche sterben zwei bis drei Kinder in Deutschland an den Folgen von Vernachlässigung und Misshandlung. Hieran können wir zukünftig besser und schneller etwas ändern.

RhÄ: Sie haben die Rechtslage lange stark kritisiert. Warum hat der Landtag erst jetzt über eine Änderung der Schweigepflichtregelung beraten? 
Kownatzki: Die gesetzliche Regelungskompetenz lag grundsätzlich auf Bundesebene. Eine Bundesratsinitiative, die hier Handlungsbedarf sah und im Februar 2021 eine bundesweite Lösung formulierte, führte im Ergebnis zur jetzigen Regelung: Die Bundesregierung hat im Rahmen einer Öffnungsklausel im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz den Bundesländern ermöglicht, die jetzige Gesetzesänderung selbst vorzunehmen. NRW hat hier zeitnah eine Vorreiterrolle übernommen. Sicherlich war in diesem Zusammenhang hilfreich, dass sich bereits im Vorfeld die Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe sowie die Bundesärztekammer für die Ermöglichung des konsiliarischen Austauschs – wie er in NRW mit RISKID beispielhaft erfolgt – eingesetzt haben.

RhÄ: Welche Auswirkungen wird die Gesetzesänderung auf die Arbeit von RISKID haben? 
Kownatzki: Sie wird die Vernetzung mit RISKID in NRW erleichtern, weil jetzt gesetzliche Klarheit hergestellt wurde. Und sie ist ein Signal für die anderen Bundesländer, dem Beispiel von NRW zu folgen. 

RhÄ: Können Sie sich jetzt zufrieden zurücklehnen?
Kownatzki: Zurücklehnen können wir uns erst, wenn die Änderung in allen Bundesländern umgesetzt wurde und sich möglichst viele Ärztinnen und Ärzte, die Kinder behandeln, bei RISKID vernetzt haben. 
Und der Teufel steckt manchmal auch im Detail. Ich hoffe, dass der Datenschutz hier unterstützt und nicht das jetzt durch die Änderung im Heilberufsgesetz Erreichte aushebelt und damit die Gesundheit und das Leben der betroffenen Kinder weiter gefährdet bleibt.

Das Interview führte Jocelyne Naujoks.
 

Einsatz für den Kinderschutz

Über die Kommunikationsplattform RISKID können Ärztinnen und Ärzte sich über ihre Befunde austauschen mit dem Ziel, frühzeitig eine Kindesmisshandlung festzustellen und Kinder und Jugendliche zu schützen. Mehr über RISKID und Informationen zur Anmeldung finden sich auf www.riskid.de.