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Triage-Gesetz: Ärztliches Selbstverständnis in Gefahr

23.08.2022 Seite 24
RAE Ausgabe 9/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2022

Seite 24

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber aufgetragen, dafür zu sorgen, dass Menschen mit Behinderung nicht benachteiligt werden dürfen, wenn intensivmedizinische Ressourcen in einer Pandemie nicht mehr für alle ausreichen. Ein entsprechender Gesetzentwurf sorgt jetzt für Kritik vonseiten der Ärzteschaft. Intensivmediziner Professor Dr. Uwe Janssens über das ärztliche Selbstverständnis bei Behandlungen Schwerstkranker und die Schwierigkeit, die Ex-post-Triage kategorisch auszuschließen.

von Martin Bornemeier

Militärfahrzeuge in Kolonne transportieren Särge mit Coronatoten. Die Bilder aus dem italienischen Bergamo im Frühjahr 2020 wirken bis heute nach. Die Pandemie hatte Europa erreicht, die Krankenhäuser vor Ort waren mit dem Ansturm schwerkranker Patienten überfordert. Für die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) war das ein Grund, zusammen mit anderen Fachgesellschaften eine erste Version der Leitlinie zum Umgang mit Ressourcen-Knappheit während der Pandemie zu verfassen.

Professor Dr. Uwe Janssens ist Past-Präsident der DIVI und Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital Eschweiler. Als Mit-Autor der Leitlinie habe es ihn damals überrascht, dass Menschen mit Behinderung gegen die DIVI-Leitlinie Verfassungsbeschwerde erhoben, weil sie eine strukturelle Benachteiligung befürchteten.

„Wir als Verfasser hatten das Gegenteil im Sinn“, sagt Janssens im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Kriterien wie das Alter eines Patienten oder eben auch eine Behinderung dürften niemals als einzige den Ausschlag geben, wenn es zu einer Priorisierung komme. In einem derart schwierigen und schmerzlichen Prozess wie der Triage gelte der Gleichheitsgrundsatz. Im Zentrum der DIVI-Leitlinie stehe deshalb die klinische Erfolgsaussicht, die über die Zuteilung knapper Ressourcen entscheide. Um diese zu beurteilen, müssten der Schweregrad der aktuellen Erkrankung, aber auch relevante schwere Begleiterkrankungen berücksichtigt werden. Daran entzündete sich letztlich die Kritik der Klägerinnen und Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht. 

Bisher kam es nicht zur Triage

Janssens betont, dass es in Deutschland während der Pandemie nie zu einer echten Triage-Situation gekommen sei. Mit rechtzeitigen Verlegungen von Patienten in andere Regionen habe man Auslastungsspitzen bislang verlässlich abfangen können. Die patientenzentrierte Therapiezielfindung sei in deutschen Kliniken dagegen Alltag. In der Notaufnahme müssten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch ohne Druck durch fehlende Ressourcen täglich entscheiden, welchen Patienten so schnell wie möglich eine individuelle Behandlung ermöglicht werden müsse.

Für den Fall einer pandemiebedingt notwendigen Triage hat das Bundesministerium für Gesundheit Mitte Juni einen Referentenentwurf vorgelegt. Er greift den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts auf, eine Benachteiligung bei der Zuteilung von knappen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten von Menschen unter anderem aufgrund einer Behinderung, der Gebrechlichkeit oder des Alters zu verhindern. Das Infektionsschutzgesetz soll entsprechend geändert werden. In dem Entwurf heißt es, Zuteilungsentscheidungen dürften nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit getroffen und Komorbiditäten nur berücksichtigt werden, soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die aktuelle kurzfristige Überlebenswahrscheinlicht erheblich verringerten. Bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten seien von Zuteilungsentscheidungen ausgenommen. Steht der erste Teil der Gesetzespassage noch im Einklang mit den DIVI-Leitlinien und auch mit den Positionen der Bundesärztekammer (siehe Kasten auf Seite 25), stößt das Verbot der sogenannten Ex-post-Triage im zweiten Teil auf deutliche Kritik in der Ärzteschaft.

„Kurzschlussreaktion“

In einem ersten Entwurf des Infektionsschutzgesetzes Anfang Mai war diese noch explizit erlaubt, unter der Bedingung, dass sich drei erfahrene Intensivmediziner über einen Behandlungsabbruch einig sind. Der Passus löste in der Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung aus, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach knickte unter dem öffentlichen Druck ein und strich die Regelung. Kritik war unter anderem von Bündnis 90/Die Grünen, der Caritas und der Deutschen Stiftung Patientenschutz gekommen. „Das war meiner Ansicht nach eine Kurzschlussreaktion auf eine völlig unausgewogene öffentliche Debatte“, meint DIVI-Past-Präsident Janssens. 

Auch für erfahrene Ärzte wie ihn sind Entscheidungen über die Beendigung einer Behandlung und das Zulassen des Sterbeprozesses zugunsten eines anderen Patienten mit besseren Überlebenschancen grenzwertig: „Hier befinden wir uns immer in einer tragischen Entscheidungssituation.“ Eine solche Entscheidung könnten aber tatsächlich nur Ärztinnen und Ärzte in jedem Einzelfall aufgrund medizinischer Kriterien treffen und keine Juristen, stellt der Intensivmediziner klar. In der derzeitigen Diskussion gerate das eigentliche Ziel aus dem Blick: Über die Zuteilung knapper Ressourcen fundiert und gerecht zu entscheiden. Und das schließe die Ex-post-Triage explizit mit ein.

„Wir werden handlungsunfähig“

Auch der 126. Deutsche Ärztetag hat sich Ende Mai dieses Jahres gegen den kategorischen Ausschluss der Ex-post-Triage aus dem Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums ausgesprochen. Dieser „würde das ethisch-moralische Dilemma lediglich von den Intensivstationen in oder vor die Notaufnahmen der Kliniken verlagern“, heißt es in einem Beschluss des Ärzteparlaments.

DIVI-Past Präsident Janssens geht sogar noch einen Schritt weiter und sieht das ärztliche Selbstverständnis in Gefahr. Er ist überzeugt, dass viele Juristinnen und Juristen sich gar nicht darüber im Klaren seien, was da tatsächlich im Moment zur Debatte stehe. „Wenn Ärztinnen und Ärzte dazu gezwungen würden, Kriterien wie das Alter oder die Gebrechlichkeit bei Menschen über 65 bei Triage-Entscheidungen pauschal außer Acht zu lassen, dann werden wir handlungsunfähig!“ Und verbiete man die Ex-post-Triage, verwehre man in Zukunft auch denjenigen den Zugang zu Intensivstationen, die unter anderen Umständen noch eine Chance auf Rettung hätten.

In dieser ganzen Diskussion dürfe man nicht vergessen, dass sämtliche Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation eine elementare, lebensrettende Behandlung benötigten. „Gerade in der Intensivmedizin stellen wir uns immer schützend vor die Wehrlosen und dazu zählen selbstverständlich auch Menschen mit Behinderung“, so Janssens.

Klare Zuständigkeiten benennen

Ganz grundsätzlich befürwortet Janssens die Verpflichtung der Krankenhäuser zur Vorsorge, die der Gesetzentwurf ebenfalls vorgibt. Es sei richtig, dass die Häuser für Krisenzeiten „klar hinterlegen müssen, wer, wie, wo, was und wann“ zu erledigen habe. Auch das Anliegen der Klägerinnen und Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht kann er nachvollziehen. Es sei gut, dass sie den Staat an seine Pflicht erinnerten, einen barrierefreien Zutritt zum Gesundheitssystem zu gewährleisten. „Dass das letztendlich über das Triage-Gesetz diskutiert wird, ist allerdings misslich,“ resümiert er.

Uwe Janssens hat den Arztberuf aus Überzeugung gewählt – mit all seinen Herausforderungen: „Ich treffe mit meinem Behandlungsteam viele Entscheidungen am Lebensende. Die machen wir uns nie leicht. Aber sie zählten zu den Aufgaben, die ich in meinem Beruf als am meisten sinnstiftend empfinde.“

Der medizin-technische Fortschritt ermögliche es heute, den Tod immer weiter nach hinten zu verschieben. Nach Janssens Auffassung gehört es aber auch zur ärztlichen Pflicht, eine Behandlung zu beenden, wenn keine medizinische Indikation mehr besteht oder diese nicht mehr dem Patientenwillen entspricht. „Wenn es kein realistisches Therapieziel mehr gibt, dann darf ich den Patienten auch nicht mehr weiter behandeln. Ich würde dem Menschen dadurch sogar Schaden zufügen“, so der Intensivmediziner.

Die Position der Ärzteschaft

Die Bundesärztekammer hat in einer Stellungnahme zentrale Punkte im Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums zu einer pandemiebedingt notwendigen Triage kritisiert (www.aekno.de/baek/stellungnahmetriage). Zu kurz kommt ihrer Ansicht nach in dem vorliegenden Entwurf, dass der Fokus in einer Pandemie zuallererst darauf gerichtet sein muss, eine Triage zu vermeiden. Der Schutz vor Infektionen mit einem pandemischen Virus sowie die Schaffung ausreichender Behandlungskapazitäten müssten deshalb Vorrang haben und entsprechend im Gesetzestext selbst und nicht nur in der Begründung verankert werden. Für mehr Handlungs- und Rechtssicherheit würde es nach Ansicht der BÄK auch sorgen, wenn der Gesetzgeber die Beurteilung der medizinischen Erfolgsaussicht anhand von Richtlinien der BÄK vorschreibt. Die speziellen Regelungen zur pandemiebedingten Triage müssten zudem explizit von regelhaften Allokations- und Priorisierungsentscheidungen abgegrenzt werden, die Bestandteil ärztlicher Tätigkeit seien. Einen kategorischen Ausschluss der Ex-post-Triage lehnt die BÄK ab. Auch der 126. Deutsche Ärztetag hatte Ende Mai in Bremen beschlossen, dass eine Ressourcenverteilung nach Aufnahmezeitpunkt weder ethisch begründbar noch medizinisch sinnvoll sei. Zudem stellte er klar, dass ein Losverfahren zur Zuteilung einer Behandlung ohne jegliche Berücksichtigung der Erfolgsaussichten ärztlichem Denken diametral widerspreche.