Vorlesen
Thema

Rezept gegen Lieferengpässe

14.07.2023 Seite 12
RAE Ausgabe 8/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 8/2023

Seite 12

© Eberhard Wolf
Meldungen über Lieferengpässe bei Generika, darunter Krebsmedikamente sowie Fieber- und Antibiotikasäfte für Kinder, sorgen seit Monaten für negative Schlagzeilen. Die Ursachen solcher Engpässe sind vielfältig: Preisdruck, Globalisierung der Produktions- und Lieferketten, Monopolbildung. Entsprechend komplex sind mögliche Lösungen. Der Bundestag hat mit dem Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) Ende Juni einen Versuch gestartet. 

von Heike Korzilius

Der Bundesgesundheitsminister fand deutliche Worte: „Übertriebene Ökonomisierung hat die Arzneimittelversorgung mit patentfreien Medikamenten über die letzten Jahre deutlich verschlechtert. Wir korrigieren das und ändern die Rahmenbedingungen so, dass Deutschland als Absatzmarkt für Arzneimittel wieder attraktiver wird“, sagte Professor Dr. Karl Lauterbach anlässlich der Verabschiedung des ALBVVG am 23. Juni im Deutschen Bundestag. Um Lieferengpässen entgegenzuwirken, sieht das Gesetz unter anderem vor, dass Preisregeln gelockert und europäische Produktionsstandorte gestärkt werden. Außerdem soll die Lagerhaltung wichtiger Arzneimittel ausgebaut und ein Frühwarnsystem installiert werden (siehe Kasten).
 
Handlungsbedarf bestand aus Sicht des Gesetzgebers, weil sich die Zahl der Lieferengpässe bei Arzneimitteln in den letzten Jahren deutlich erhöht hat. Betroffen sind in erster Linie Generika, bei denen nach Angaben des Branchenverbands Pro Generika der Preisdruck besonders hoch ist. 2021 waren demnach 79 Prozent der Arzneimittel, die zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abgegeben wurden, Nachahmerpräparate; der Anteil der Generika an den GKV-Arzneimittelausgaben insgesamt lag jedoch bei nur 7,2 Prozent (5,9 Milliarden Euro zu Herstellerabgabepreisen). Der Verband macht insbesondere das niedrige Preisniveau in Deutschland infolge von Festbeträgen und Rabattverträgen für die aktuellen Lieferengpässe verantwortlich. Die Folgen: Hersteller zögen sich aus dem Markt zurück, die Wirkstoff- und Arzneimittelproduktion konzentriere sich auf immer weniger Anbieter und wandere zum großen Teil in Drittstaaten ab. Ähnlich argumentiert auch der Gesetzgeber in der Begründung zum ALBVVG. Im Jahr 2000 seien 30 Prozent der Wirkstoffe für Generika in Asien produziert worden, 2020 seien es bereits 60 Prozent gewesen, heißt es dort. Das steigere die Risiken für strategische Abhängigkeiten und unterbrochene Lieferketten. 

Trends nur schwer ableitbar

Lieferengpässe bei versorgungsrelevanten Arzneimitteln werden seit 2013 von den Pharmaunternehmen im Rahmen einer Selbstverpflichtung an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemeldet. Aktuell verzeichnet die Datenbank gut 500 Meldungen – bei insgesamt circa 100.000 zugelassenen Arzneimitteln in Deutschland. Trends bei der Entwicklung der Engpässe ließen sich jedoch nur schwer ableiten, wie die Behörde auf ihrer Homepage (bfarm.de) betont. Die Meldekriterien seien 2017 umfassend angepasst worden. Das erschwere Vergleiche mit den Zahlen der Vorjahre. Die reinen Zahlen seien zudem nur eingeschränkt aussagekräftig. Denn für die unterschiedlichen Wirkstärken und Darreichungsformen eines Wirkstoffes werde jeweils eine eigene Meldung gemacht. So habe beispielsweise der Rückruf des Blutdrucksenkers Valsartan im Jahr 2018 allein zu 118 neu gemeldeten Lieferengpässen geführt. 

Drei echte Versorgungsmängel

Das BfArM weist zudem darauf hin, dass nicht jeder Lieferengpass automatisch zu einem Versorgungsengpass führt, weil es in vielen Fällen Alternativen für die Behandlung gibt. Echte Versorgungsmängel gab es bis vor Kurzem drei. Betroffen waren mit Tamoxifen und Folinsäure Krebsmedikamente sowie Antibiotikasäfte für Kinder. Den Versorgungsmangel mit Tamoxifen hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG)  inzwischen aufgehoben.
 
Hat das BMG einen Versorgungsmangel nach § 79 Absatz 5 AMG festgestellt, können die Länderbehörden von Vorgaben des Arzneimittelgesetzes abweichen und beispielsweise den Import von Arzneimitteln erlauben, die in Deutschland nicht zugelassen sind, um die Versorgung der Patientinnen und Patienten weiterhin sicherzustellen. Im Fall eines Versorgungsengpasses gibt der Beirat für Liefer- und Versorgungsengpässe beim BfArM flankierend Empfehlungen ab, um die Folgen abzumildern. Neben Aufforderungen an die Ärzteschaft, beispielsweise kleinere Packungen oder andere Wirkstärken zu verordnen sowie knappe Arzneimittel ausschließlich leitliniengerecht und maßvoll einzusetzen, gehen zuweilen auch Appelle an Großhandel und Apotheken, sich nicht über Gebühr zu bevorraten, damit eine regionale Ungleichverteilung verhindert werden kann. Reichen diese Empfehlungen nicht aus, kann der Beirat auch Distributionswege einschränken und die Abgabe von Arzneimitteln kontingentieren. 

Aufwendiges Engpassmanagement

Ebenso wie die Politik und die Arzneimittelhersteller macht auch das BfArM für Lieferengpässe unterschiedliche Ursachen aus. So verzeichnete die Behörde bei Tamoxifen gleich zu Beginn der Coronapandemie mit den ersten Lockdowns einen Anstieg der Verordnungen, der auf „unflexible Herstellungsprozesse“ traf. Im Fall der Antibiotikasäfte für Kinder konnten um die Jahreswende die Produktionskapazitäten nicht mehr mit dem enorm gestiegenen Behandlungsbedarf mithalten. Die Folgen waren weltweit zu spüren, so das BfArM. Im Fall der Engpässe bei Fiebersäften hatte sich zusätzlich ein großer Hersteller aus dem Markt zurückgezogen.
 
Auch wenn die Versorgung hierzulande bisher in den meisten Fällen gesichert werden konnte, verunsichert doch jeder Lieferengpass die betroffenen Patienten und führt zu einem deutlichen Mehraufwand bei deren Ärzten und Apothekern. Zuletzt hatte der Hausärzteverband Nordrhein den enormen organisatorischen Aufwand und die zusätzliche Beratungszeit beklagt, die mit einer Umstellung der Medikation verbunden sind. Die ABDA – Bundesvereinigung deutscher Apothekerverbände e. V. erklärte, dass für zwei Drittel der selbstständigen Apotheker Lieferengpässe inzwischen zu den größten Ärgernissen im Berufsalltag gehören. Gut 60 Prozent der Apotheker wendeten mehr als zehn Prozent ihrer Arbeitszeit dafür auf, um bei Engpässen gemeinsam mit Ärzten, Großhändlern und Patienten nach Lösungen zu suchen.

Ob das ALBVVG das Problem an der Wurzel packen kann, ist aufgrund der Komplexität und der internationalen Dimension ungewiss. Kritik gibt es vonseiten der Krankenkassen. Sie fürchten aufgrund der Lockerungen bei den Preisvorgaben um Einsparungen. Pro Generika zufolge senkten 2021 allein die Rabattverträge zwischen Kassen und Herstellern die Arzneimittelausgaben um 5,1 Milliarden Euro. Dem Branchenverband gehen die Lockerungen bei den Preisen dagegen nicht weit genug. Außerdem kritisiert er die Vorschriften für eine erweiterte Lagerhaltung. Das werde die Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung weiter reduzieren und letztlich zu noch mehr Engpässen führen.

Maßnahmen im Kampf gegen Lieferengpässe

Das ALBVVG sieht unter anderem folgende Regelungen vor:

  • Festbeträge und Rabattverträge für Kinderarzneimittel werden abgeschafft. Pharmaunternehmen können ihre Abgabepreise einmalig um bis zu 50 Prozent gegenüber dem zuletzt geltenden Preis anheben. 
  • Gibt es bei wichtigen Arzneimitteln zu wenige Anbieter, können Festbetrag oder Preismoratorium einmalig um 50 Prozent angehoben werden.
  • Pharmaunternehmen wird für rabattierte Arzneimittel eine Lagerhaltung für sechs Monate vorgeschrieben. Für Krankenhausapotheken und krankenhausversorgende Apotheken gelten erhöhte Bevorratungspflichten für parenterale Arzneimittel und Antibiotika in der Intensivmedizin. 
  • Antibiotika, die in Europa produziert werden, müssen bei Rabattverträgen künftig zusätzlich berücksichtigt werden.
  • Bei Reserveantibiotika werden die Regeln zur Preisbildung so angepasst, dass für die Unternehmen ein Anreiz für Forschung und Entwicklung gesetzt wird. 
  • Nicht verfügbare Arzneimittel können in der Apotheke einfacher gegen wirkstoffgleiche Arzneimittel ausgetauscht werden; Apotheker dürfen ohne Rücksprache mit dem Arzt von der verordneten Packungsgröße, Packungsanzahl und Wirkstärke abweichen, sofern keine pharmazeutischen Bedenken bestehen. Apotheker und Großhandel erhalten für das Management von Lieferengpässen einen Zuschlag.
  • Das BfArM erhält zusätzliche Informationsrechte gegenüber den Pharmaunternehmen. Außerdem wird dort ein Frühwarnsystem zur Erkennung von drohenden Lieferengpässen eingerichtet.