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Arzneimittel im Wasser

14.12.2022 Seite 16
RAE Ausgabe 1/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 1/2023

Seite 16

Durch unsachgemäße Entsorgung und über Ausscheidungen von Patientinnen und Patienten nach einer Behandlung gelangen Arzneimittelwirkstoffe in den Wasserkreislauf. Spurenstoffe wie Röntgenkontrastmittel sind dabei auch durch Kläranlagen kaum zu beseitigen.

von Marc Strohm 

Rund 400 Arzneimittelwirkstoffe haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in verschiedenen Forschungsprojekten im Wasser nachgewiesen – mit zum Teil erheblichen gesundheitlichen Folgen für Mensch und Tier. Wie die Arzneimittelrückstände in die Umwelt und ins Abwasser gelangten, habe verschiedene Ursachen, erklärte Professor Dr. rer. nat. Christian Peifer vom Pharmazeutischen Institut der Universität Kiel vor rund 600 registrierten Teilnehmern der Online-Veranstaltung „Vom Patienten in den Fluss“ der Ärztekammer Nordrhein am 23. November. Vor allem im Abwasser von Krankenhäusern und Privathaushalten sei ein Großteil der Medikamentenrückstände nachgewiesen worden. Die meisten Spurenstoffe der Arzneimittel aus den Haushalten stammten dabei Peifer zufolge von älteren Patienten, von denen manche zehn bis 15 Wirkstoffe parallel einnähmen. Durch den demografischen Wandel steige die Zahl der älteren multimorbiden Menschen, wodurch perspektivisch auch mehr Arzneimittel eingenommen, ausgeschieden und entsorgt würden, prognostizierte der Pharmazeut. Er schätzt, dass bis 2045 etwa 50 Prozent mehr rezeptpflichtige Arzneimittel abgegeben werden als heutzutage. 

Mehr als die Hälfte der im Abwasser nachgewiesenen Wirkstoffe stamme von Ausscheidungen der Patientinnen und Patienten, aber auch die unsachgemäße Entsorgung von flüssigen Arzneimitteln in der Toilette trügen zur Verunreinigung bei, erklärte Peifer. Dies geschehe meist nicht böswillig, sondern sei insbesondere bei Patienten zu beobachten, die gewissenhaft ihren Müll trennten. Fast die Hälfte von ihnen kippe die flüssigen Arzneimittel in die Toilette oder das Spülbecken, um die Glasflasche danach im Glasmüll zu entsorgen. Aber auch Tablettenblister hat Peifer schon in den Sieben von Kläranlagen gefunden. 
Schaue man auf die Situation weltweit, gebe es vor allem an Pharmastandorten in China und Indien Probleme. Dort gelangten Arzneiwirkstoffe vielfach aufgrund von schlechten Umweltstandards ins Wasser. In den Regionen, in denen sich die Weltmarktproduktion von Arzneimittelwirkstoffen konzentriere, seien bereits zahlreiche multiresistente Bakterien nachgewiesen worden. Durch die Globalisierung gelangten diese früher oder später auch in die nordrheinischen Mikrobiome. Angesichts dieser Entwicklung forderte Peifer, die Produktionsanlagen für Medikamente auf lange Sicht nach Europa mit seinen wesentlich höheren Umweltstandards zurückzuholen.

Verheerende Folgen für die Natur

Die möglichen Folgen von Arzneimittelrückständen in Wasser und Umwelt für die Tierwelt seien nicht zu unterschätzen: Antiparasitika, die als Tierarznei gegeben würden, hätten für Dung-Insekten eine toxische Wirkung. Endokrine Wirkstoffe griffen in das Hormonsystem von Tieren ein und beeinflussten beispielsweise die Häutung. Antidepressiva seien vor allem für Fische gefährlich: Diese Wirkstoffe reicherten sich in deren Gehirnen an, wodurch die Fische ihren Gefahrensinn verlören. Die Folge: Die Fische werden mutiger, verlassen ihre Verstecke und fallen ihren Fressfeinden zum Opfer. Schmerzmittel im Wasser verursachten dagegen bei vielen Tieren Organschäden. 

So sei zum Beispiel in Indien die Wirkung von Diclofenac in der Nahrungskette zu beobachten. Dort würden insbesondere Rinder mit dem Schmerzmittel behandelt, berichtete Dr. rer. nat. Gerd Maack vom Fachgebiet „Umweltbewertung Arzneimittel“ des Umweltbundesamtes in Dessau. Fräßen Geier die verendeten Tiere, stürben die Aasfresser infolge der Diclofenac-Rückstände nicht selten an Nierenversagen. „Das ist eine Nebenwirkung, die auch auf dem Beipackzettel steht“, betonte Maack. Das scharenweise Sterben der Geier habe dazu geführt, dass sich Straßenhunde, die nicht selten an Tollwut litten, die ökologische Nische der Geier erschlossen hätten. Die Rinderkadaver böten den Hunden optimale Nahrungsbedingungen. In der Folge sehe sich Indien nun mit der weltweit höchsten Tollwutrate konfrontiert. 

Aber nicht nur in Indien, sondern auch in Europa entfalteten Diclofenac-Rückstände eine verheerende Wirkung auf die heimische Fauna. In Spanien werde das Schmerzmittel ebenfalls als Tierarzneimittel eingesetzt. Auch dort fräßen Geier verendete Tiere und erlitten in der Folge ein Nierenversagen. Da die Vögel weite Strecken zurücklegten, seien auch Populationen aus Kroatien oder Bayern von Organschäden betroffen. Im Wasser schade das Diclofenac den Fischen. Bachforellen seien deutlich weniger fruchtbarer, bei Jungfischen seien Schäden an den Nieren nachgewiesen worden und es komme nicht selten zu Fehlentwicklungen an den Kiemen. Ebenfalls folgenreich sind laut Maack Hormone, die in die Umwelt gelangen. Bei einigen Tierarten wirkten sich diese auf das Balzverhalten aus. Die Hormone veränderten beispielsweise den Balzruf des männlichen Krallenfrosches merklich, sodass dieser auf Weibchen nicht mehr anziehend wirke – mit allen Folgen für die Fortpflanzung und die Arterhaltung. 

Damit deutlich weniger Diclofenac-Gel ins Wasser gelangt, empfahl Pfeifer, nach dem Auftragen auf die Haut, die Hände zunächst mit einem Tuch abzuwischen und dieses im Restmüll zu entsorgen, bevor man sich die Hände wäscht. Mit wirkstofffreien Alternativen wie zum Beispiel Wärmepflastern könne man das Problem von vornehinein umgehen. 

Auch Ärztinnen und Ärzte können nach Ansicht von Maack dazu beitragen, Umweltbelastungen durch Arzneimittel zu verringern. Um Doppelverordnungen zu vermeiden, rät er, genauer zu erfragen, welche Wirkstoffe Patientinnen und Patienten bereits einnehmen. Außerdem könnten sie die Patienten bei der Verschreibung der Arzneimittel auf die richtige Entsorgung hinweisen. Dazu müsse bei Ärzten, Tierärzten und Apothekern ebenso wie bei Patienten aber auch ein Problembewusstsein geschaffen werden. Maack plädierte hier für eine umfangreiche Informations- und Aufklärungskampagne. 
 

Chancen Nachhaltiger Pharmazie

Um Resistenzen zu verhindern, sprach sich Professor Dr. rer. nat. Michael Müller vom Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der Universität Freiburg bei der Online-Fortbildung für einen gewissenhaften und restriktiven Einsatz von Antibiotika aus und plädierte für eine Nachhaltige Pharmazie als Zusammenspiel von Ökologie, Ökonomie und Bildung. Auch Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein, plädiert für einen sorgsamen Umgang mit Antibiotika und sprach Defizite an. So habe eine Befragung der Weltgesundheitsorganisation ergeben, dass rund ein Drittel der Menschen aus 14 Ländern der Europäischen Union zuletzt Antibiotika eingenommen hätten, die nicht auf einer ärztlichen Verordnung beruhten, sondern rezeptfrei abgegeben wurden oder aus Restbeständen stammten. Mehr als der Hälfte der Befragten sei zudem nicht bekannt gewesen, dass Antibiotika nicht gegen Viruserkrankungen wie Erkältungen helfen, erklärte Henke. 

Damit sich angesichts der Dynamik der Resistenzentwicklung Investitionen in die Erforschung und Entwicklung neuer Antibiotika für die Pharmafirmen lohnen, schlug Müller alternative Vergütungsanreize vor, die von der Menge abgekoppelt sind. In England erhielten Konzerne beispielsweise eine einmalige Abschlagszahlung für die Entwicklung neuer Antibiotika, unabhängig vom Umsatz.  

Müller plädierte zudem für mehr Prävention, um die Entstehung von Krankheiten wie Diabetes Mellitus und damit auch die Medikation zu vermeiden. Denn auch Antidiabetika seien eine Herausforderung für jede Kläranlage.  
 

Was können Kläranlagen leisten? 

Um hartnäckige Arzneimittelrückstände aus dem Abwasser zu entfernen, sind Kläranlagen mit einer sogenannten „Vierten Reinigungsstufe“ gefragt. Laut Dr. Ing. Issa Nafo vom Wasserwirtschaftsverband mschergenossenschaft/Lippeverband in Essen ist diese „Vierte Reinigungsstufe“ kein festgelegtes Verfahren, sondern beschreibt vielmehr die gezielte Eliminierung von Stoffen aus dem Abwasser. Im Modell einer Kläranlage komme zuerst die erste, mechanische Reinigungsstufe. Sie entferne beispielsweise mit einer Art Rechen groben Unrat wie Flaschen und Konservendosen aus dem Wasser. Bei der biologischen Reinigung, der zweiten Reinigungsstufe, würden Mikroorganismen eingesetzt, die organische Abwasserstoffe als Nahrung zu sich nehmen und auf diese Art das Wasser reinigen. In der darauffolgenden dritten Reinigungsstufe würden chemische Verfahren angewendet, um Wasser zu reinigen, das mit Stickstoff und Phosphor belastet sei. Mithilfe dieser drei Verfahren sei es möglich, Arzneimittelwirkstoffe wie Ibuprofen und Paracetamol nahezu komplett aus dem Wasser zu entfernen. Rückstände von Diclofenac oder Antibiotika ließen sich jedoch nur schwer aus dem Wasser beseitigen. Dazu gebe es die Vierte Reinigungsstufe, mit der man gezielt gegen diese Stoffe vorgehen könne. Kläranlagen könnten dabei auf zwei Methoden zurückgreifen: Eine Möglichkeit sei der Einsatz von Ozon, das mit großer Energie direkt vor Ort erzeugt werde und dann im Abwasser mit den Arzneimittelrückständen reagiere, damit diese ihre ursprüngliche Wirkweise verlieren. Als zweite Möglichkeit nannte Nafo den Einsatz von Aktivkohle. Diese hefte sich an die Wirkstoffe und könne dann einfach samt der Rückstände aus dem Wasser gezogen werden.   

Röntgenkontrastmittel – eine Herausforderung 

Aber selbst mit der Vierten Reinigungsstufe scheitern Kläranlagen an Wirkstoffen wie Röntgenkontrastmittel, sodass Spurenelemente sogar vereinzelt im Trinkwasser nachgewiesen werden konnten. Weder eine Ozonung, noch eine Reinigung mit Aktivkohle könnten das Wasser von den Kontrastmittelrückständen befreien, denn die Kohleteilchen hafteten nicht an den Mitteln und in der Reaktion mit Ozon komme es zu unerwünschten Abbauprodukten, wie Iod – diese seien nicht nur bei der Ozonung, sondern auch beim Abbau in der Natur zu beobachten, erklärte Dr. rer. nat. Gunther Speichert, ebenfalls vom Umweltbundesamt. Das Iod gelange dann in eigentlich Iodarme Gewässer und es kommt im weiteren Reaktionsverlauf zu toxischen Stoffen wie Iodessigsäure. Die Gefährlichkeit dieser Abbauprodukte sei noch nicht abschließend wissenschaftlich bewertet, aber es sei immerhin denkbar, dass sie in hoher Konzentration karzinogen wirkten. Da dies auf alle momentan eingesetzten Kontrastmittel zutreffe, gebe es keine ökologischere Alternative, auf die Ärztinnen und Ärzte zurückgreifen könnten. Auch die Verwendung von weniger Kontrastmittel ist nach Ansicht von Speichert keine Option. Daher gelte es, diese Mittel im Abwasser zu vermeiden. Da das Kontrastmittel wenige Stunden nach der Behandlung mit dem Urin ausgeschieden werde, sollte man nach Ansicht des Umweltexperten eine Urinseparation anwenden. Einige Krankenhäuser erprobten bereits Trockenurinale und Trenntoiletten, die auch in einer teilmobilen Variante zur Verfügung stünden. Arztpraxen könnten ihren Patienten nach einer Behandlung Urinflaschen oder Urinbeutel mitgeben, die nach Benutzung im Restmüll entsorgt werden. Da der Restmüll verbrannt werde, bestehe hier nicht die Gefahr, dass die Reste in den Wasserkreislauf gelangten, so Speichert. 

Eine sehr effektive Methode zur Entsorgung von Arzneimitteln sei immer noch die örtliche Apotheke oder der Hausmüll. Allerdings gelte es zu beachten, dass manche Arzneimittel in den Sondermüll gehörten, da dieser unter höheren Temperaturen verbrannt werde als der Restmüll.