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Thema - 127. Deutscher Ärztetag

Freiheit und Verantwortung

21.06.2023 Seite 12
RAE Ausgabe 7/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2023

Seite 12

© Khunatorn/stock.adobe.com
Wer die Freiheit des ärztlichen Berufs erhalten will, muss sich auch um die Rahmenbedingungen kümmern, unter denen das ärztliche Handeln erfolgt. So lautet komprimiert eine der Kernbotschaften des 127. Deutschen Ärztetages Mitte Mai in Essen. „Die Ärzteschaft fordert eine systematische und strukturelle Einbindung bei allen gesundheitspolitischen Prozessen, Reformvorhaben und Gesetzesverfahren“, heißt es in der „Essener Resolution für Freiheit und Verantwortung in der ärztlichen Profession“, die auf breite Zustimmung bei den Ärztetags-Delegierten traf – genauso wie die Forderung nach stimmberechtigter Beteiligung am Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). 

von Thomas Gerst

Gar so eindeutig wurde die nunmehr notwendig erscheinende Verknüpfung von Freiheit und gesundheitspolitischer Verantwortung nicht immer verstanden. So lehnte bei Gründung des Gemeinsamen Bundesausschusses vor fast 20 Jahren die Bundesärztekammer (BÄK) unter der Präsidentschaft von Professor Dr. Jörg-Dietrich Hoppe noch eine Beteiligung an dem neuen Gremium ab. Damals schien der Gegensatz zwischen freier Ausübung der ärztlichen Profession und der Mitgliedschaft in dem von Hoppe zunächst als „Rationierungsverwalter“ apostrophierten G-BA unüberbrückbar. Die Sorge war groß vor einer mit ärztlicher Freiberuflichkeit unvereinbaren Zuteilungsmedizin.
 
Allerdings brach sich in der Folge allmählich die Überzeugung Bahn, dass eine Beteiligung der BÄK am zentralen Selbstverwaltungsgremium im deutschen Gesundheitswesen unverzichtbar sei. Bereits der Deutsche Ärztetag 2011 forderte in einer Kehrtwende die vollberechtigte Beteiligung am G-BA. Mittlerweile hat sich der ehemals wahrgenommene Widerspruch zur Freiberuflichkeit aufgelöst. Grundsätzlich sei die gesundheitspolitische Einbindung der Ärzteschaft „die Voraussetzung für eine medizinisch-wissenschaftliche, qualitativ hochwertige, auf ethischen Normen und Werten beruhende, verantwortliche und patientenorientierte Neuausrichtung der Gesundheitsversorgung“, heißt es nun auch in der Essener Resolution. Diese Einbindung wird in einem weiteren Beschluss des Essener Ärztetages präzisiert: Danach sollen alle Landesärztekammern sowohl in den Krankenhausplanungsausschüssen als auch in den Gremien zur sektorenübergreifenden Versorgung mit Sitz und Stimme beteiligt werden, die Bundesärztekammer soll im G-BA und seinen Unterausschüssen stimmberechtigt einbezogen werden. 

Mit Sitz und Stimme im G-BA

Die Forderung nach Sitz und Stimmrecht im G-BA stieß allerdings bei den dort mit Stimmrecht vertretenen Organisationen schon in der Vergangenheit auf wenig Begeisterung. Aktuell lässt denn auch der GKV-Spitzenverband verlauten: „Die ambulant wie auch die stationär tätigen Ärztinnen und Ärzte werden durch die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassenärztliche Bundesvereinigung im G-BA sehr gut vertreten“ – eine Sichtweise, die sich sicherlich nur wenige der stationär tätigen Ärztinnen und Ärzte zu eigen machen werden. Und wenig überraschend kommt aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) die Auskunft, dass „eine solche Gesetzesänderung gegenwärtig nicht in Aussicht gestellt werden kann“. Das aktuell geltende Beteiligungsrecht ermögliche der Bundesärztekammer, fachliche und berufspolitische Positionen unmittelbar in den Beratungs- und Entscheidungsprozess des G-BA einzubringen, heißt es dort. Dieses Beteiligungsrecht der BÄK gehe sogar über das Stellungnahmerecht anderer Verbände und Berufsgruppen von Leistungserbringern hinaus. Das Verfahren hat sich aus Sicht des BMG bewährt. Eine etwaige Erweiterung des G-BA-Beschlussgremiums um einen festen Sitz der Heilberufekammern mit Stimmrecht würde nicht nur im Gegensatz zum bestehenden Selbstverwaltungssystem des SGB V stehen, sondern könnte eine Entscheidungsfindung durch die zunehmende Zahl der beratungs- beziehungsweise stimmberechtigten Mitglieder weiter erschweren oder unmöglich machen, warnt das Ministerium.

Unterstützung für die gesundheitspolitischen Ansprüche der Bundesärztekammer gab es hingegen beim 127. Deutschen Ärztetag von Peter Müller, Richter am Bundesverfassungsgericht und ehemaliger Ministerpräsident des Saarlands; als Gastredner sprach er den Ärztetags-Delegierten zum Tagesordnungspunkt „Freiheit und Verantwortung in der ärztlichen Profession“ aus dem Herzen. „Wenn Sie sich ansehen, wie tiefgreifend die Entscheidungen des G-BA in Ihr Handeln eingreifen“, wandte er sich an die Delegierten, „muss es doch selbstverständlich sein, dass diejenigen, die davon betroffen sind, mit Sitz und Stimme in dem Gremium vertreten sind.“ Der Gesetzgeber sei grundsätzlich klug beraten, wenn er bei den von ihm zu treffenden Entscheidungen den Sachverstand von denen, die es betrifft, einbeziehe. 
 

Freiberuflichkeit unter Druck

Als Richter am Bundesverfassungsgericht wies Müller pflichtschuldig darauf hin, dass der Begriff der Freiberuflichkeit im Grundgesetz nicht zu finden sei. Aber dort gebe es Leitplanken, die eine Beurteilung damit einhergehender Sachverhalte ermöglichten. Müller sieht die Freiberuflichkeit aktuell in mehrfacher Hinsicht unter Druck, als da seien Kommerzialisierung, Bürokratie und nicht zuletzt eine deutlich wahrnehmbare EU-Strategie, die auf die Gleichstellung freiberuflicher und sonstiger gewerblicher Tätigkeit abziele. Für ihn selbst seien jedoch Freiberuflichkeit und die damit einhergehende Selbstverwaltung eine wertvolle und dringend erforderliche Ressource. Müller verwies auf die Definition des Bundesverbands der Freien Berufe: „Angehörige Freier Berufe erbringen auf Grund besonderer beruflicher Qualifikation persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig geistig-ideelle Leistungen im gemeinsamen Interesse ihrer Auftraggeber und der Allgemeinheit. Ihre Berufsausübung unterliegt in der Regel spezifischen berufsrechtlichen Bindungen nach Maßgabe der staatlichen Gesetzgebung oder des von der jeweiligen Berufsvertretung autonom gesetzten Rechts, welches die Professionalität, Qualität und das zum Auftraggeber bestehende Vertrauensverhältnis gewährleistet und fortentwickelt.“ Diese Kriterien gelten Müller zufolge in gleichem Maße für selbstständig und angestellt tätige Ärztinnen und Ärzte – ein Sachverhalt, den zuvor auf dem Deutschen Ärztetag bereits der Präsident der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz, Dr. Günther Matheis, betont hatte. Ärztinnen und Ärzte dürften gemäß Berufsordnung „keine Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit ihren Aufgaben nicht vereinbar sind oder deren Befolgung sie nicht verantworten können“. Sie müssten, betonte Matheis, die Freiheit haben, auf die Einzigartigkeit der Patientinnen und Patienten einzugehen – frei von Weisung anderer und „egal in welchem Setting man tätig ist“.  

Grenzen der Kommerzialisierung

In diesem Zusammenhang zeigte sich Bundesverfassungsrichter Peter Müller irritiert über eine Äußerung des Bundesgesundheitsministers auf der Eröffnungsveranstaltung des 127. Deutschen Ärztetages. Karl Lauterbach hatte eine Reform des Medizinstudiums angekündigt, nach der künftig ein Teil des Praktischen Jahres verpflichtend in einer Arztpraxis abgeleistet werden soll. „Dies zeige“, hatte Lauterbach betont, „wie wichtig uns die Freiberuflichkeit ist“. Nicht allein bei Müller ließ das Zweifel aufkommen am richtigen Verständnis des Gesundheitsministers von § 1 der Berufsordnung der Ärztinnen und Ärzte: „Der ärztliche Beruf ist … seiner Natur nach ein freier Beruf“. Allerdings scheint der Gesundheitsminister mit diesem Missverständnis innerhalb der ärztlichen Profession nicht allein zu sein. „Wir müssen deutlicher kommunizieren, was der Unterschied zwischen Freiberuflichkeit und Selbstständigkeit ist“, merkte selbstkritisch der Präsident der Ärztekammer Berlin, Dr. Peter Bobbert, bei der späteren Diskussion an. Vielen Ärztinnen und Ärzten sei dies nicht klar. Dabei stehe die Freiberuflichkeit aktuell unter großem Druck; deshalb sei es extrem wichtig, auch innerhalb der eigenen Profession auf die Wesensmerkmale ärztlicher Freiberuflichkeit hinzuweisen.

Bundesverfassungsrichter Müller hielt – wenn auch wenige – mahnende Worte für die Ärztetags-Delegierten bereit. Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Rechtsprechung stets die Bedeutung der Freiberuflichkeit anerkannt, führte Müller aus. Es gelte jedoch, Grenzen der Kommerzialisierung zu beachten; freiberufliche Tätigkeit sei nicht der geeignete Ort für die Erprobung marktradikaler Ansätze. „Wer permanent nach Freiheit im wirtschaftlichen Handeln schreit, sollte sich nicht wundern, wenn Stimmen laut werden, die die Einbeziehung in die Gewerbesteuer fordern.“

Dies ändere jedoch nichts an dem Sachverhalt, dass mit dem Begriff der ärztlichen Freiberuflichkeit ganz zentral die Therapiefreiheit verbunden sei. Diese gelte es zu bewahren, betonte Müller, auch wenn sie nicht schrankenlos sei. Eine Einschränkung gebe es durch das Selbstbestimmungsrecht der Patientinnen und Patienten. Der oder die Einzelne habe das Recht, frei und selbstbestimmt auch wider ärztliche Vernunft zu handeln – bis hin zum selbstbestimmten Suizid. Umgekehrt dürfe aber auch keine Ärztin und kein Arzt veranlasst werden, eine Therapie durchzuführen, die sie oder er für falsch hält, oder zu Suizidbeihilfe oder Abtreibung genötigt werden.

Mit Blick darauf stimmten die Delegierten einem Antrag aus der Ärztekammer Berlin zu, der eine Neuformulierung zum ärztlich assistierten Suizid in der Musterberufsordnung (MBO) vorschlägt. Demnach solle die Bundesärztekammer prüfen, ob neu als § 1 Abs. 3 MBO angefügt werden kann: „Die Mitwirkung bei der Selbsttötung (assistierter Suizid) ist grundsätzlich keine ärztliche Aufgabe. Sie ist bei schwerer oder unerträglicher Erkrankung nach wohlabgewogener Gewissensentscheidung im Einzelfall zulässig.“ Damit werde in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 26. Februar 2020 klargestellt, dass die indikationslose Suizidassistenz grundsätzlich keine ärztliche Aufgabe sei, Ärztinnen und Ärzte nicht zur Suizidassistenz verpflichtet werden dürften, gleichwohl aber im Einzelfall bei Patienten mit schwerer Erkrankung und sehr hohem Leidensdruck auf Wunsch tödlich wirksame Medikamente zur Verfügung stellen könnten.
 

Zentrale Punkte der Essener Resolution
(Langfassung unter www.baek.de/essenerresolution)
 

  • „Ärztinnen und Ärzte üben unabhängig von Stellung und Ort der ärztlichen Tätigkeit einen freien Beruf aus. … Ärztinnen und Ärzte richten ihr ärztliches Handeln am Wohl der Patientinnen und Patienten aus, unabhängig von kommerziellen Erwartungen Dritter.
  • Die individuelle Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfordert Rahmenbedingungen, die eine freie Berufsausübung sicherstellen. Die Freiheit, für das Wohl der Patientinnen und Patienten zu handeln, ist das Fundament der besonderen Vertrauensbeziehung der Patientinnen und Patienten zu ihren behandelnden Ärztinnen und Ärzten. …
  • Freiheit und Verantwortung in der ärztlichen Profession sind untrennbar mit der ärztlichen Selbstverwaltung als Organisationsprinzip verbunden. … Die Ärztekammern stehen für das Prinzip der professionellen Selbstkontrolle, für die Einhaltung der ärztlichen Standards und ethischen Grundsätze und damit für die Qualität einer patientenzentrierten medizinischen Versorgung. …
  • Unzureichende finanzielle und personelle Ressourcen trotz steigendem Behandlungsbedarf, eine zunehmende Kommerzialisierung in der Medizin, staatsdirigistische Eingriffe in die Selbstverwaltung sowie eine überbordende Kontrollbürokratie führen derzeit jedoch zu enormer Arbeitsverdichtung und vielfach auch Überlastung der Berufe im Gesundheitswesen. Eine medizinische Versorgung auf hohem Niveau für eine sich im demografischen Wandel befindende Gesellschaft ist unter diesen Voraussetzungen auf Dauer nicht zu gewährleisten. …
  • Die Ärzteschaft fordert eine systematische und strukturelle Einbindung bei allen gesundheitspolitischen Prozessen, Reformvorhaben und Gesetzesverfahren. Diese Einbindung ist eine grundlegende Voraussetzung für eine medizinisch-wissenschaftlich fundierte, qualitativ hochwertige, auf ethischen Normen und Werten beruhende, verantwortliche und patientenzentrierte Neuausrichtung der Gesundheitsversorgung für die Menschen in unserem Land.
Undurchdringliches Regelungsdickicht

Als weitere Einschränkungen der ärztlichen Therapiefreiheit wies Bundesverfassungsrichter Müller auf bestehende staatliche Regulierungen hin. Und hier wünsche er sich einen Gesetzgeber, der nicht durch kleinteilige Vorgaben einen bürokratischen Mehraufwand von mehreren Stunden täglich produziere, der letztlich zulasten einer guten Arzt-Patienten-Beziehung gehe. „Im Grunde ist es der Patient, der dadurch Schaden davonträgt“, sagte Müller. Das fast schon undurchdringliche Regelungsdickicht im Gesundheitswesen und der damit einhergehende Kontrollgedanke widersprächen der Idee des freiheitlichen Grundgesetzes. Dabei dürfe Freiheit nicht missverstanden werden als das Recht, zu tun und zu lassen, was man will, präzisierte Müller. Sondern es gehe insbesondere auch um die Freiheit, seine Bindungen selbst zu wählen. Hier wäre der Gesetzgeber nach dem Subsidiaritätsprinzip gut beraten, der ärztlichen Selbstverwaltung mehr Gelegenheit zur Schaffung von Räumen zu geben, in denen sich freiheitliches Handeln entwickeln kann. „Wir müssen ernst machen mit der immer wieder genannten Entbürokratisierung. Wenn wir ein nach vorne denkendes Gemeinwesen sein wollen, ist eine Umkehr im Interesse der Patienten nötig“, schloss Müller unter dem stürmischen Applaus der Ärztetags-Delegierten seine Ausführungen.