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Praxis

Ambulantes Ethik-Komitee: Fallbeispiel zwischen Suizid und Behandlungsverzicht

19.05.2023 Seite 25
RAE Ausgabe 6/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 6/2023

Seite 25

Das „Ambulante Ethik-Komitee des Netzwerks Hospiz- und Palliativversorgung Bonn/Rhein-Sieg“ will den besonderen ethischen Herausforderungen im häuslichen Bereich insbesondere in der letzten Lebensphase gerecht werden. Den Menschen vor Ort, das heißt zu Hause oder in Altenpflegeeinrichtungen, soll eine Ethikberatung bedürfnis- und zielgerecht zur Verfügung gestellt werden. Ein Fallbeispiel verdeutlicht die Arbeitsweise des Ethik-Komitees. 

von Andrea von Schmude, Martina Kern, Frank Peusquens, Lukas Radbruch

Ein gesetzlicher Betreuer wandte sich an das „Ambulante Ethik-Komitee des Netzwerks Hospiz- und Palliativversorgung Bonn/Rhein-Sieg“. Die betreute Person, Frau G., war 98 Jahre alt und lebte seit vier Jahren in einer stationären Pflegeeinrichtung. Seit langer Zeit trug Frau G. in Gesprächen immer wieder ernsthaft und anhaltend ihren Sterbewunsch vor. Um gemeinsam zu überlegen, wie die Beteiligten angemessen mit dem Wunsch umgehen können, wurde die ethische Beratung angeregt.

Die beim Ethikkonsil anwesende Hausärztin betreute die Bewohnerin seit 14 Jahren. Frau G. war immer sehr mobil gewesen, seit einem Schlaganfall vor drei Jahren aber auf den Rollstuhl und auf Hilfe angewiesen. Sehkraft und Hörvermögen waren nach dem Schlaganfall sehr eingeschränkt. Der allgemeine Gesundheitszustand zeigte sich stabil. Eine depressive Erkrankung war nicht bekannt.

Es gab keine Familienangehörigen mehr. Der Tod ihres Sohnes vor 30 Jahren war ein schwerer Schlag für Frau G. gewesen. Sie litt unter Einsamkeit und Freudlosigkeit. Sie war zunehmend kraftlos, fühlte ihr Dasein ohne Sinn und äußerte Müdigkeit, in einem gewissen Sinne Lebensmüdigkeit. Sie litt darunter, dass sie immer älter würde und dabei kein Ende abzusehen sei. Der Tod wäre nach ihrer Auffassung eine Erlösung.
 
Frau G. hatte immer klar und entschieden ihre Belange selbst geregelt, sie war stets eine dem Leben zugewandte Frau gewesen. Nun aber fehlten ihr Sinn und Perspektive. Seit langem äußerte sie immer wieder: „Bitte helfen Sie mir.“ Konkret hatte sie um eine Spritze mit einem tödlichen Medikament gebeten. Auch war mehrfach Thema gewesen, dass sie in die Schweiz fahren wolle, um dort die Hilfe einer Sterbehilfeorganisation in Anspruch zu nehmen. Sie wünschte sich eine ärztliche Anordnung und wollte mit ihrem Wunsch ernst genommen werden. So viele Menschen würden um ihr Leben kämpfen, sie jedoch könne nicht sterben. Ihr Leben habe keinen Sinn mehr, und es sei nun genug.

Eine schriftliche Patientenverfügung lag vor. Diese ließ jedoch die aktuelle Frage, wie Frau G. sterben könnte, unbeantwortet. Zudem war Frau G. selbst noch einwilligungsfähig, sie war in der Lage, ihren Willen zu äußern und die Konsequenzen abzuschätzen.

Ambulantes Ethik-Komitee in der Region Bonn und Rhein-Sieg Kreis

Ethik-Komitees sind überwiegend im klinischen Kontext etabliert. Die Klärung ethischer Fragestellungen wird jedoch – auch außerhalb der Klinik – in ambulanten Wohnformen und stationären Pflegesettings im Behandlungs- und Pflegealltag immer notwendiger. Ethische Konfliktsituationen zur Therapiezielsetzung und Therapieplanung können in der ambulanten Versorgung zwischen Patienten, Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegeteams ebenso wie innerhalb des Behandlungsteams entstehen, und auch zwischen Angehörigen und Behandlungsteam bei Patienten, die sich selbst nicht mehr dazu äußern können. Medizinethische Beratungen können den Beteiligten Raum und Unterstützung bei der Entscheidungsfindung bieten.
 
Bei lebenslimitierenden Erkrankungen und voraussichtlich kurzer Überlebenszeit sind solche ethischen Konflikte nicht selten auch Thema in der Hospiz- und Palliativversorgung. Ein reflektierter Umgang mit ethischen Fragen gehört zum Selbstverständnis hospizlich-palliativen Handelns.
 
Aus dieser Erfahrung heraus wurde zu Beginn des Jahres 2019 vom Netzwerk Hospiz- und Palliativversorgung Bonn/Rhein-Sieg ein ambulantes Ethikkomitee gegründet. Die ambulante Ethikberatung ist zwar im regionalen Netzwerk der Hospiz- und Palliativversorgung verankert, erweitert das Angebot jedoch über die Fragestellungen am Lebensende hinaus. Erklärtes Ziel ist es, die moralische Entscheidungsfähigkeit der unmittelbar Betroffenen selbst zu fördern und nicht Entscheidungen an das Ethikkomitee zu delegieren.  

Bewertung des Falls und Diskussion

Nach der Aufhebung des § 217 im Strafgesetzbuch durch das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 ist auch die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid keine Straftat mehr. Die ärztliche Beihilfe zum Suizid verstößt gegen die Berufsordnung der Ärztekammer Nordrhein, allerdings ist dieser Paragraph der Berufsordnung seit 2022 ausgesetzt. 
Die Verordnung von bestimmten Substanzen wie Pentobarbital oder Secobarbital, die in anderen Ländern bevorzugt für Suizidassistenz genutzt werden, ist in Deutschland derzeit nicht möglich. Nach dem Betäubungsmittelgesetz können diese Substanzen nur für ärztliche, zahnärztliche oder tierärztliche Behandlungen verordnet werden; die Beihilfe zum Suizid zählt aber nicht als ärztliche Behandlung.

Dennoch sind in Deutschland Sterbehilfevereine tätig, die für ihre Mitglieder einen assistierten Suizid mit anderen Substanzen anbieten. Ebenso bieten Schweizer Sterbehilfeorganisationen auch für deutsche Mitglieder Suizidassistenz an.
 
Der Verzicht auf oder der Abbruch von lebenserhaltenden Behandlungsmaßnahmen war im Fall von Frau G. keine Option, da sie keine potenziell lebensverlängernden Behandlungen erhielt. Sowohl Hausärztin wie Arzt des ambulanten Ethik-Komitees stellten klar, dass sie aus ihrer persönlichen Haltung heraus keine Suizidassistenz durchführen würden. 

Verzicht auf Essen und Trinken

Die Hausärztin hatte mit Frau G. bereits früher über einen freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (FVET) als Alternative zur Lebensbeendigung gesprochen. Frau G. hatte dies dann auch über mehrere Tage versucht, dann aber auf Drängen des Pflegepersonals beendet und wieder mit Essen und Trinken begonnen. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin hat FVET als eigene Handlungskategorie zwischen Suizid und Behandlungsverzicht eingestuft, allerdings wird von anderen Autoren durchaus FVET als eine Form des Suizids bewertet. Die Entscheidung über FVET liegt allein bei der betroffenen Person, die den Entschluss jederzeit selbstbestimmt umsetzen kann, ohne dafür Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Bei einem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit kann es bis zum Tod Tage oder wenige Wochen dauern, bei einem Verzicht auf Nahrung (ohne Verzicht auf Flüssigkeit) kann der Prozess mehrere Wochen dauern. Zumindest in der ersten Zeit kann die betroffene Person die Entscheidung auch wieder rückgängig machen, indem Nahrung und Flüssigkeit wieder aufgenommen werden.

Allerdings sollte die Entscheidung zu FVET von Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Behandlern wie jede andere Form eines Sterbewunsches abgeklärt werden. Die Entscheidung sollte vom Behandlungsteam wahrgenommen und respektiert werden. Vom Behandlungsteam sollte mit ausreichender Zeit und Tiefe nachgefragt werden, was für Patientinnen und Patienten so unerträglich ist, dass der Sterbewunsch ausgelöst wurde. Es sollte überprüft werden, ob für die betroffene Person Alternativen zu dieser Entscheidung denkbar sind oder unter welchen Umständen andere Handlungsoptionen vorstellbar wären.
 
Im Verlauf des FVET sollten mögliche Komplikationen, zum Beispiel Symptome wie Mundtrockenheit, Verwirrtheit oder Unruhe, thematisiert werden. Neben der Symptomkontrolle durch Pflegepersonal und Hausärztin kann gegebenenfalls eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) zur Symptomkontrolle hinzugezogen werden.

Empfehlung und Ausgang

Alle Beteiligten konnten den Wunsch von Frau G., nicht mehr weiterleben zu wollen, nachvollziehen und sagten ihre Unterstützung zu. Frau G. wurde vorgeschlagen, erneut FVET zu beginnen, diesmal jedoch mit der Unterstützung des Pflegepersonals. Es wurde mit ihr vereinbart, dass sie zwar jederzeit Essen und Trinken anfordern könne, aber sonst weder Nahrung noch Flüssigkeit angeboten bekommen möchte. Der gesetzliche Betreuer wollte Frau G. in ihrem Entschluss begleiten. Die Pflegedienstleitung der Pflegeeinrichtung versicherte, dass sie die Entscheidung mit allen Mitarbeitenden im Pflegeteam besprechen wolle. Die Hausärztin sagte ihre ärztliche Begleitung und, falls erforderlich, Behandlung zur Symptomkontrolle zu.
 
Nach der Ethikberatung wirkte Frau G. erleichtert und gelöst. Sie fühlte sich vor allem durch die Aussage, dass die Entscheidung zu FVET alleine bei ihr liege, in ihrer Autonomie gestärkt. Ab dem Tag der Ethikberatung hat Frau G. nichts mehr gegessen und nahezu nichts mehr getrunken. Zwei Wochen später verstarb sie ruhig in der Einrichtung.

Organisation und Ablauf der Ethikberatung

Das „Ambulante Ethik-Komitee des Netzwerks Hospiz- und Paliativversorgung Bonn/Rhein-Sieg“ will den besonderen ethischen Herausforderungen im häuslichen Bereich, insbesondere solchen in der letzten Lebensphase, gerecht werden. An allen Orten, an denen Menschen leben, d.h. zu Hause, in Altenpflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe, soll eine Ethikberatung bedürfnis- und zielgerecht zur Verfügung stehen. Dabei sollen unterschiedliche Perspektiven in der multiprofessionellen und interdisziplinären Beratung berücksichtigt werden. Die Beratung soll unterschiedliche Wertvorstellungen und Überzeugungen der beteiligten Akteure ebenso wie das kulturelle und soziale Umfeld einbeziehen. Im ambulanten Ethik-Komitee wirken zwölf Personen aus dem Netzwerk mit, die unterschiedliche Akteure vertreten: Ärzteschaft, Patientenrecht, Pflege, Sozialarbeit, Moderatorinnen und Moderatoren ethischer Fallbesprechungen, Mitarbeitende aus der ambulanten und stationären Hospiz- und Palliativversorgung und aus den stationären Pflegeeinrichtungen. Nach der Satzung müssen Mitglieder aus dem ärztlichen, pflegerischen, psychosozialen und seelsorgerischen Bereich vertreten sein. Die Mitglieder werden satzungsgemäß für jeweils drei Jahre berufen.
 
Die Mitarbeit im ambulanten Ethik-Komitee erfolgt ehrenamtlich. Seit 2023 wird das Netzwerk Bonn/Rhein-Sieg durch die Verbände der Krankenkassen, durch die Stadt Bonn und den Rhein-Sieg-Kreis gefördert. Seitdem kann die Teilzeitstelle einer Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des ambulanten Ethikkomitees finanziert werden. 

Möglichst im Konsens mit allen Beteiligten

Jede Person, die an der Gesundheitsversorgung beteiligt ist und einen ethischen Konflikt identifiziert hat, kann ein ethisches Konsil anregen. Dies kann die betroffene Person selbst sein, ihre An- oder Zugehörigen, Vorsorgebevollmächtigte oder gesetzliche Betreuer, die beteiligten Gesundheitsberufe, Mitarbeitende der Hospiz- und Palliativdienste, der Seelsorge oder Mitglieder des Netzwerks. Bestenfalls nehmen auch alle beteiligten Personen an der Beratung teil. Anfragen können sich auf alle Arten von ethischen Konflikten beziehen, wie zum Beispiel Umsetzung des Patientenwillens in einer Pflegeeinrichtung, Sterbewunsch oder Therapiezieländerung.

Nach einer Anfrage (telefonisch, persönlich, per E-Mail oder Kontaktformular) erfolgen Vorgespräche mit den Beteiligten, um die ethische Fragestellung herauszuarbeiten. Die Ethikberatung findet – je nach Situation und Dringlichkeit – zeitnah statt (möglichst innerhalb von zwei Werktagen) und vornehmlich an dem Ort, an dem die betreffende Person wohnt. An dem Ethikkonsil sollten zwei bis vier Mitglieder des Ethik-Komitees teilnehmen, davon mindestens ein ausgebildeter neutraler Moderator für die Gesprächsführung, ein Protokollant sowie gegebenenfalls weitere Mitglieder des Ethik-Komitees.
 
Die Dauer des Ethikkonsils beträgt circa eine Stunde. In der Regel wird in einem ersten Teil zunächst im Behandlungsteam diskutiert und im zweiten Teil dann zusätzlich mit dem Patienten (wenn möglich) und den Angehörigen. Im Ergebnis wird ein Protokoll erstellt, welches das Gespräch mit allen fachlichen Informationen und auch persönlichen Haltungen und Einschätzungen zusammenfasst und eine Empfehlung – möglichst im Konsens mit allen Beteiligten – gibt. Im Jahr 2019 wurden vier Anfragen, im Jahr 2020 wurden zehn Anfragen, 2021 acht Anfragen und 2022 neun Anfragen an das ambulante Ethikkomitee gestellt (Tabelle).

Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen fördern 

Die Ethikberatung bleibt im Rahmen einer Empfehlung und einer begleitenden Entscheidungsfindung, die Entscheidung über die weitere Vorgehensweise liegt dann bei der betreffenden Person beziehungsweise den betroffenen Personen selbst. Die Mitglieder des Ethik-Komitees leiten und moderieren das Gespräch und bringen medizinethisches, rechtliches und gegebenenfalls berufsspezifisches Fachwissen ein. Es ist dabei erklärtes Ziel, unterschiedliche Wertevorstellungen zu würdigen, die moralische Entscheidungsfähigkeit der unmittelbar Betroffenen selbst zu fördern, ethische Argumente abzuwägen und ein möglichst breit konsentiertes Ergebnis als einen Teil der Krankenakte so zu dokumentieren, dass die Entscheidungsfindung auch zu einem späteren Zeitpunkt gut nachvollziehbar bleibt.
 
Wenn auch die Inanspruchnahme bisher – unter anderem pandemiebedingt – noch gering war, erlauben die Rückmeldungen der anfragenden Patienten, Angehörigen, Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegenden eine positive Bilanz aus den ersten drei Jahren des ambulanten Ethik-Komitees. 

Anfragen an das „Ambulante Ethik-Komitee des Netzwerks Bonn/Rhein-Sieg“ (Auszüge, 2019–2022)


Andrea von Schmude, Martina Kern, Netzwerk Hospiz- und Palliativversorgung Bonn/Rhein-Sieg
Frank Peusquens M.A., Klinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Bonn 
Professor Dr. med. Lukas Radbruch Klinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Bonn, Netzwerk Hospiz- und Palliativversorgung Bonn/Rhein-Sieg