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„Was man erreichen kann, sind kleine Fortschritte“

21.02.2023 Seite 26
RAE Ausgabe 3/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 3/2023

Seite 26

Diplomatisches Geschick und viel Geduld gehören zum Rüstzeug von Dr. Gabriele Krawzak bei ihren Einsätzen für den Senior Expert Service (SES) in Ostafrika und Zentralasien. Die Kinderchirurgin will mit 66 Jahren nicht einfach in den Ruhestand gehen, sondern ihr Wissen und ihre langjährige Erfahrung weitergeben.

von Martin Bornemeier

Die Fruchtblase ist geplatzt. Jetzt muss es schnell gehen. Im Krankenhaus ist man auf alles vorbereitet. Top ausgebildetes Fachpersonal und modernste Medizintechnik ermöglichen auch in schwierigen Situationen das Überleben von Kind und Mutter, beispielsweise, wenn das Neugeborene zunächst nicht atmet. So ist die Situation in Deutschland. Anders in Tansania. Anstatt zu intubieren, die Atmung und den Kreislauf des Neugeborenen in Gang zu setzen, bleibt den Hebammen nur, der Mutter das leblose Kind zu zeigen.

„In Ostafrika sterben die meisten Kinder, wenn es bei der Geburt zu Atemproblemen kommt. Das ist für uns kaum noch vorstellbar“, sagt Dr. Gabriele Krawzak. Die Kinderchirurgin leitete von 2015 bis 2021 kommissarisch die Sektion Kinderchirurgie der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am Universitätsklinikum Essen und kennt sich mit der Spitzenmedizin aus. Seit 2014 engagiert sich die inzwischen 66-Jährige als Senior Expertin in Ausbildungseinsätzen in Tansania, Turkmenistan und Kasachstan. Bereits vor zehn Jahren, als der Ruhestand noch weit entfernt war, hat sie sich Gedanken darüber gemacht, wie es dann weitergehen soll. Da sie gerne reist und der Beruf ihr Leben ist, entschied sie sich dazu, ihr Wissen dort weiterzugeben, wo es dringend gebraucht wird.

Angefangen hat alles in Tansania, wo Krawzak erste Erfahrungen mit einem Gesundheitssystem machte, das weder eine gesetzliche Krankenversicherung noch top ausgestattete Gesundheitseinrichtungen kennt. Nahe gehen ihr vor allem die Fälle, in denen Patientinnen und Patienten sterben, die man unter westlichen Standards gut hätte behandeln können. Dennoch – oder auch gerade deswegen – macht Krawzak weiter.

„Ich stamme noch aus einer Generation, in der eine ausgeglichene Work-Life-Balance nicht die Hauptmotivation war.  Mein Beruf war immer mein Leben – und umgekehrt!“ Im Juni 2022 endete ihre Regelarbeitszeit. Krawzak verlängerte ihren Vertrag mit der Uniklinik in einem Umfang von 50 Prozent und intensivierte ihre Auslandstätigkeiten. Den Job in der Spitzenmedizin ganz aufgeben, wollte sie nicht.

Auf eigene Faust nach Tansania

Ihren ersten Auslandseinsatz absolvierte die engagierte Kinderchirurgin 2013 „auf eigene Faust“ in Tansania, Ostafrika. Großen Einfluss auf diese Entscheidung hatten regelmäßige Berichte in der Lokalzeitung über die „Mülheimer Urwaldärztin“ Dr. Irmel Weyer, die seit 1961 fast 30 Jahre lang im südlichen Hochland Tansanias, in Litembo, ein Krankenhaus aufgebaut, betrieben und zu einem modernen Diözesanhospital ausgebaut hatte. In Tansania hörte Krawzak auch zum ersten Mal vom SES, für den sie seit 2014 arbeitet. Sie reduzierte ihre Stelle auf 80 Prozent, um mehr Zeit für Auslandseinsätze zu haben, die sie erneut nach Litembo und nach Ndanda in Tansania führten.
Ein typisches Krankheitsbild, mit dem Krawzak als Kinderchirurgin sowohl in Deutschland als auch in Tansania zu tun hat, ist der Hodenhochstand bei Jungen. Ohne Operation steigt die Gefahr von Hodenkrebs oder auch Unfruchtbarkeit. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Ländern ist jedoch die Häufigkeit von Verbrennungen gerade bei kleinen Kindern. In Tansania wird über offenem Feuer gekocht und häufig fallen Kinder in die Kochstelle.

Ein äußerst tragischer Fall ist Krawzak noch deutlich in Erinnerung. Eltern brachten ihr Kind mit schweren Verbrennungen in die Klinik. Die Prognose war schlecht, trotzdem haben Krawzak und ihre tansanischen Kolleginnen und Kollegen alles versucht, um das Leben des Kindes zu retten. „Am Ende starb nicht nur das Kind. Wir hatten auch noch eine enorme Krankenhausrechnung für die Eltern aufgebaut,“ sagt die Kinderchirurgin. Die Eltern verfügten weder über eine Krankenversicherung noch waren sie wohlhabend. „Die Eltern hatten also nicht nur ihr Kind verloren, sondern waren auch fast ruiniert.“

Man muss kostenbewusst agieren

Krawzak musste erst lernen, dass man in Tansania, auch um die Patienten finanziell nicht zu überfordern, wesentlich kostenbewusster agieren muss als in Deutschland. „Da kann man nicht mal eben ein Röntgenbild anfertigen, wenn es nicht zwingend notwendig ist“, sagt sie. Auch Menschen, die nicht lebensbedrohlich verletzt seien und sich zum Beispiel die Operation eines Arm- oder Beinbruchs nicht leisten könnten, würden verbunden, erhielten eventuell einen Gips und würden wieder nach Hause geschickt.

„Wir bleiben immer Gast“

Seit 2014 hat Krawzak insgesamt zehn Ausbildungseinsätze für den SES in Tansania, Turkmenistan und Kasachstan absolviert. In Ostafrika vermittelt sie in der Regel grundlegende Fähigkeiten in der Kinderchirurgie. In Zentralasien geht es bei ihren Einsätzen um die Weiterbildung im Bereich spezieller Kinderchirurgie.

Obwohl sich die Ansprüche an die Senior Experten an den Einsatzorten zum Teil fundamental unterscheiden, gibt es beim SES auch feste Grundsätze: „Wir bleiben immer Gast. Wir bieten an, wir beraten, aber die Entscheidung treffen immer die Verantwortlichen vor Ort“, sagt die Kinderchirurgin und räumt ein, dass es „manchmal schwer“ ist, andere Auffassungen zu akzeptieren. So musste sie sich in Turkmenistan in einem Fall damit abfinden, dass ein Kollege ihre Argumente trotz ihrer umfassenderen Erfahrung und Expertise nicht anerkannte, weil sie eine Frau war. Der SES erwarte Neutralität im Umgang mit kulturellen, politischen und religiösen Vorstellungen in den Gastländern, so Krawzak.

Ein ähnlicher Fall ereignete sich in einer Klinik in Aşgabat, der Hauptstadt von Turkmenistan. Eine weibliche Kinderchirurgin operierte dort einen Jungen am Leistenbruch. Im Rahmen der OP sollte auch eine Beschneidung durchgeführt werden. Für die Beschneidung musste die Kollegin allerdings ihren Platz für einen männlichen Kollegen räumen. Krawzak weiß nicht, ob dieses Vorgehen einen religiösen oder spezifisch turkmenischen Hintergrund hatte. Sie weiß aber: „In Ostafrika wäre das kein Problem gewesen. Dort werden Frauen als Ärztinnen akzeptiert.“

„Man ist nicht der liebe Gott“

Um sich auf solche Situationen vorbreiten zu können, biete der SES für seine Experten Vorbereitungsseminare an. Dennoch müsse man sich jedes Mal wieder neu auf die fremde Kultur einstellen. „Und man darf nie die eigene Position vergessen. Man ist nicht der liebe Gott“, sagt Krawzak.

Bereits als Kind hatte Gabriele Krawzak den Wunsch, Chirurgin zu werden. Aber erst während der Facharztweiterbildung konkretisierte sich ihr Ziel: „Die Kinderchirurgie war eine Zufallsentscheidung.“ Sie hatte damals in ihrer Klinik die Möglichkeit, in eine relativ kleine kinderchirurgische Station „reinzuschnuppern“ und es machte ihr Spaß. „Viele Kolleginnen und Kollegen haben erst einmal Angst vor Kindern, weil sie klein sind und sich nicht ausdrücken können. Das macht es zum Beispiel schwierig, Zugänge zu legen“, erklärt Krawzak. Ihr hingegen gefällt die Arbeit mit den kleinen Patienten, sie habe „einen Draht zu Kindern“, sagt sie.

Gabriele Krawzak sieht in jedem Land, das sie als Senior Expertin besucht hat, spezielle Herausforderungen. Ärztinnen haben es nach ihrer Erfahrung in Turkmenistan deutlich schwerer als in Teilen Afrikas. Dagegen sind die Kliniken, die sie in Turkmenistan besucht hat, medizintechnisch hervorragend ausgestattet, während in Afrika bereits die Grundversorgung schwierig ist. Krawzak startete als Senior Expertin, um Menschen zu helfen. Heute ist sie daneben auch Kulturexpertin und freut sich jedes Mal, wenn irgendwo auf der Welt ein Kind gesund die Klinik verlassen kann. Wer die Welt akut verändern wolle, für den sei der Einsatz als Senior Expert nichts, meint die Kinderchirurgin: „Wie sagte eine alte Ordensfrau: ,Das Einzige, was sie erreichen können, sind ,Baby Steps‘!“

„Zukunft braucht Erfahrung“ – Der Senior Experten Service

Der Senior Experten Service (SES) vermittelt Fach- und Führungskräfte im Ruhestand oder in einer beruflichen Auszeit in Entwicklungs- und Schwellenländer, damit diese vom Wissen der SES-Experten profitieren können. Die Stiftung der Deutschen Wirtschaft für internationale Zusammenarbeit mit Sitz in Bonn verfügt nach eigenen Angaben über einen Pool von mehr als 12.000 ehrenamtlichen Expertinnen und Experten mit praktischen Erfahrungen aus Handwerk, Handel, Wissenschaft oder dem Gesundheitswesen. Die weltweiten Einsätze der Senior Expertinnen und Experten dauern in der Regel vier bis sechs Wochen. Nach dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe für nachhaltige Entwicklung“ steht dabei die Aus- und Fortbildung von Fach- und Führungskräften im Ausland, aber auch in Deutschland im Fokus.

Kontakt: Bettina Hartmann, Leiterin Abteilung Experten, 0228 26090-70,

E-Mail: b.hartmann(at)ses-bonn.de,

https://www.ses-bonn.de/ses-expertein-werden