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Wissenschaft und Fortbildung – Aus der Arbeit der Gutachterkommission

Fehlerhafte Behandlung einer Amblyopie

16.10.2023 Seite 26
RAE Ausgabe 11/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 11/2023

Seite 26

Für die Entwicklung eines beidseitigen gleichwertigen Sehvermögens ist die zentralnervöse visuelle Verarbeitung in den ersten sechs Lebensjahren entscheidend. Eine Störung dieser Phase, beispielsweise durch asymmetrische Fehlsichtigkeit mit relativer Verschlechterung des Seheindrucks eines Auges („Deprivation“ dieses Auges), führt im Ergebnis zur Amblyopie des Auges. Bei rechtzeitig einsetzender und konsequent durchgeführter Therapie besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, die volle Sehschärfe zu erreichen.

von Cornelia Röckl-Müller, Dieter Friedburg, Paul-Heinz Gröne und Beate Weber

Die Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein hatte sich mit dem Fall eines bei Antragstellung neunjährigen Mädchens zu befassen. Dessen Eltern beklagten zu diesem Zeitpunkt die Diagnostik und Behandlung einer Sehstörung bei ihrem Kind. Dies habe zu einer dauerhaft eingeschränkten Sehfähigkeit eines Auges geführt. Bei sachgerechter Therapie wäre dies vermeidbar gewesen. Die Eltern trugen vor, der zunächst behandelnde Augenarzt hätte im Verlauf der Behandlungen von März 2013 bis Herbst 2015 bereits im Jahr 2014 eine Okklusionstherapie bei Anisometropie einleiten müssen. Ein diesbezügliches Verfahren gegen diesen Augenarzt führte die Gutachterkommission gemäß § 7 Abs. 3 ihrer Verfahrensordnung (Nichtbefassung, wenn der behauptete Behandlungsfehler bei Antragstellung länger als fünf Jahre zurückliegt) nicht durch.

In der Folge nahmen die Eltern einen weiteren Augenarzt in Anspruch; dieser habe das Kind in den Jahren 2017 und 2018 dreimal behandelt. Nach Ansicht der Eltern habe es bereits vor dem Jahr 2019 Hinweise auf eine Amblyopie mit der Notwendigkeit der Einleitung einer Okklusionstherapie gegeben. Bei zeitnaher Therapie auch durch den nachbehandelnden Arzt hätte die volle Sehkraft auf dem rechten Auge erhalten werden können. Es bestehe ein Dauerschaden. 

Gutachterliche Bewertung des Erstsachverständigen

Nach der gutachterlichen Bewertung des Erstsachverständigen hatte der erstbehandelnde Augenarzt bereits im Jahr 2014 eine seitendifferente Fehlsichtigkeit des damals zweijährigen Kindes festgestellt und entsprechende Maßnahmen getroffen. In diesem Alter des Kindes sei die Funktionsdiagnostik limitiert. Der nachbehandelnde Augenarzt habe in dem Behandlungszeitraum 2017–2018 die sich entwickelnde Amblyopie am rechten Auge erkannt und behandelt. Das regelmäßige Tragen der Brille und die Kontrolluntersuchungen im Abstand von zwei bis drei Monaten seien aber nicht eingehalten worden. Es sei von einer zeitlichen Verzögerung der adäquaten Amblyopie-Therapie auszugehen, die auf die Sehschärfenentwicklung jedoch nur begrenzt Einfluss gehabt habe. Ab Februar 2019 sei das Kind nach Überweisung des Praxisnachfolgers in einer Augenklinik behandelt worden. Dort habe sich das Sehvermögen im Jahr 2019 wesentlich gebessert, und eine visuell relevante Amblyopie habe nicht mehr vorgelegen. Nach gutachterlicher Bewertung des Erstsachverständigen habe kein Behandlungsfehler vorgelegen. Ein bleibender Gesundheitsschaden bestehe nicht.
Die Eltern des Kindes baten daraufhin um ein abschließendes Gutachten der Gutachterkommission. Zur Begründung führten sie aus, dass die Termine immer gemäß den ärztlichen Vorgaben erfolgt seien. Das Kind habe die Brille regelmäßig getragen. Mit ihnen sei die Vorsprache in einer Sehschule nicht besprochen worden.
Die Gutachterkommission hat nach vorläufiger Bewertung der Sachlage den Augenarzt darauf hingewiesen, dass die Dokumentation keine Hinweise auf die (Zwischen-)Anamnesen enthalte, im Weiteren sei nicht dokumentiert, inwieweit die stringente Behandlungsstrategie mit den Eltern besprochen worden sei. Auch sei nicht erkennbar, dass spätestens im Dezember 2017 von ihm eine Okklusionstherapie in Betracht gezogen worden sei. 

Erwiderungen

Der Augenarzt erwiderte, dass die vom Gutachter beanstandeten Anamnesen im Computersystem als Dauerdiagnosen hinterlegt seien. Das regelmäßige Tragen der Brille sei immer mit den Eltern besprochen worden. Die Sehschärfenkontrolle sei alle zwei bis drei Monate erfolgt und besprochen worden. Ein Langtest sei versucht worden. Jedenfalls habe er ein manifestes Schielen ausschließen können. Nach der Wiedervorstellung nach erst einem halben Jahr habe er die Vorstellung in einer Sehschule besprochen. Erst ein dreiviertel Jahr später sei die nächste Vorstellung erfolgt. Der Sehschultermin habe dann erst Anfang 2019 erfolgen können. Den Vorwurf eines Behandlungsfehlers weise er zurück.

Abschließende Begutachtung

Die Gutachterkommission kam dagegen in ihrem abschließenden Gutachten nach vollständiger erneuter Überprüfung der Behandlungsunterlagen zu dem Ergebnis, dass Behandlungsfehler festzustellen seien. Nach der Patientenakte hatte es Behandlungen Mitte Juni und Mitte Dezember 2017 sowie Anfang September 2018 gegeben. Ein Grund für die erstmalige Vorstellung des zu diesem Zeitpunkt vier Jahre und zehn Monate alten Kindes ist nicht dokumentiert. Der Organbefund wird mit klaren Medien und anliegender Netzhaut als regelrecht beschrieben, ein manifestes Schielen ausgeschlossen (Cover-Test). Eine Funktionsdiagnostik gelang nur orientierend: binokular wurden Kinderbilder entsprechend einem Visus von 0,8 erkannt, zur monokularen Prüfung ist niedergelegt, dass das Kind mit dem rechten Auge nichts sehe, wenn das linke Auge abgedeckt sei. Angaben zur Stereofunktion (Lang-Test, altersgerecht) sind nicht dokumentiert. Die objektive Refraktionsbestimmung in Zykloplegie (C-Skiaskopie) deckte eine seitendifferente Fehlsichtigkeit auf (Hyperopie beidseits mit Anisometropie zu Ungunsten des rechten Auges und Astigmatismus). Der Augenarzt erkannte den Handlungsbedarf zur Prophylaxe und/oder Therapie einer drohenden oder bereits bestehenden Amblyopie infolge hoher asymmetrischer Fehlsichtigkeit und verordnete eine entsprechende Brille zum Refraktionsausgleich, was als adäquater Behandlungseinstieg zu bewerten ist.

Therapeutische Aufklärung

Inwieweit die Behandlungsstrategie, die Relevanz des stringenten Umsetzens derselben – wie das konsequente Tragen der Brille, die Wahrnehmung definierter Kontrolltermine –, Erfolgschancen und gegebenenfalls die Notwendigkeit der Therapieerweiterung in Abhängigkeit von der Visusentwicklung mit den Eltern kommuniziert wurden, ist nicht aktenkundig, hätte aber nach Auffassung der Gutachterkommission in Form einer therapeutischen Aufklärung besprochen und dokumentiert werden müssen. Streitig ist auch, da nicht niedergelegt, ob die verordnete Brille in dieser Zeit konsequent getragen wurde, sodass die Gutachterkommission hierzu nicht Stellung beziehen kann. Auch liegen unterschiedliche Angaben darüber vor, in welchem Zeitraum Kontrolltermine hätten durchgeführt werden sollen. Hierzu sind die Angaben des Arztes – alle zwei bis drei Monate – und andererseits der Eltern – alle sechs bis zwölf Monate – widersprüchlich, was in Ermangelung einer Dokumentation zulasten des Augenarztes zu beurteilen ist.

Bei der ersten Verlaufskontrolle – das Kind war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre und vier Monate alt – war die Funktionsbestimmung weiterhin in der Durchführung bei mangelnder Kooperationsbereitschaft des Kindes unbefriedigend, aber in der Aussage der erhobenen Daten ziemlich eindeutig: Der Visus ohne Korrektur betrug am rechten Auge 0,1, am linken Auge 0,4, was das Vorliegen einer Amblyopie am rechten Auge bestätigte. Mit eigener Brille betrug der Visus beidseits 0,1, was den Rückschluss zulässt, dass die Brille zumindest zeitnah nicht getragen worden war. Das linke Auge befand sich zum Untersuchungszeitpunkt im Akkommodationszustand zum Ausgleich der Hyperopie, und das Vorsetzen der Brille war in diesem Augenblick vernebelnd, also die Sehschärfe vorübergehend herabsetzend. Eine vergleichbare Beobachtung wurde auch in der nachbehandelnden Augenklinik Anfang Februar 2019 gemacht.

Leitlinien

Die Gutachterkommission wies auf Folgendes hin: Die Leitlinien der Fachgesellschaften, des Berufsverbands der Augenärzte und der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft zur Amblyopie sehen vor, dass bei einseitiger Amblyopie beziehungsweise bei Amblyopieverdacht bei zentraler Fixation (Prüfung derselben nicht aktenkundig) und ohne Strabismus (im vorliegenden Fall zutreffend) mit alleinigem Refraktionsausgleich zunächst sechs Wochen abgewartet werden solle. Wenn der Visus dann nicht ausreichend angestiegen ist, sollte eine Okklusionstherapie eingeleitet werden. Dieser Zeitraum war Mitte Dezember 2017 mit sechs Monaten weit überschritten. Im September 2018 fand überhaupt keine Visuskontrolle statt, sondern lediglich eine Refraktionskontrolle in Zykloplegie mit Neuverordnung einer Brille. Notiert wurde allerdings, dass die Sehschärfe in fünf Monaten kontrolliert werden sollte.

Behandlungsfehler

Das Vorliegen einer therapiebedürftigen Amblyopie kann einerseits nach der subjektiv erhebbaren Funktion (Sehschärfe) beurteilt werden, andererseits nach Vorliegen von objektiv erhebbaren Befunden, die zu einer Amblyopie disponieren. Diese Befunde sind: manifestes Schielen, exzentrische Fixation, Anisometropie, deutliche Dominanz eines Auges beim Abdecktest, optische Einschränkungen wie Trübungen der brechenden Medien. 

Die hier objektiv festgestellte Anisometropie von insgesamt > 2 dpt (RA: + 4.25 - 0.75 160, LA: + 2.0) musste eine Deprivation des rechten Auges verursachen. Allein nach diesem Befund lag eine eindeutige Indikation zur Okklusionsbehandlung des besseren Auges vor, selbst wenn eine Visusprüfung wegen fehlender Mitarbeit des Kindes nicht möglich war. Aber der Eintrag in der Karteikarte (im Juni 2017) „sieht nichts/verschwommen, wenn LA zu ist“ beschreibt ja eine vergleichende Sehschärfeprüfung mit der eindeutigen Feststellung eines schlechteren Sehens auf dem stärker hyperopen rechten Auge. Somit war eine Okklusionsbehandlung zwingend indiziert.

Nach den Unterlagen wurde eine Okklusionsbehandlung mit den Eltern nicht besprochen und auch nicht veranlasst. Das Nichteinleiten einer Okklusionstherapie spätestens bei der Wiedervorstellung im Dezember 2017 oder zumindest das Nicht-in-Betracht-Ziehen einer solchen Therapie mit Vorstellung des Kindes in einer Fachklinik erachtet die Gutachterkommission abweichend von den Feststellungen im Erstgutachten als fehlerhaft, ebenso den Verzicht auf eine Visuskontrolle im September 2018, aus der sich erneut die Notwendigkeit einer Therapieerweiterung ergeben hätte. Diese sei dann im Januar 2019 für das Kind, mittlerweile sechs Jahre und fünf Monate alt, durch den Nachfolger in der Praxis des Augenarztes mit Überweisung in eine Sehschule veranlasst worden.

Gesundheitsschaden

Bei rechtzeitig einsetzender und konsequent durchgeführter Therapie besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, volle Sehschärfe auf dem betroffenen Auge zu erreichen. Diese Chance war zum Behandlungsbeginn beim Kind – auch wenn das Zeitfenster bereits eng war – noch gegeben, wurde aber nicht genutzt. Es herrscht Konsens darüber, dass mit zunehmendem Alter bei Therapiebeginn die Zahl der Therapieversager zunimmt. Bei Behandlungsbeginn in der Augenklinik ab Februar 2019 waren demnach die Erfolgsaussichten gegenüber Juni 2017 deutlich schlechter, und es muss daher offenbleiben, ob die zuletzt im Januar 2020 bei dem Kind dokumentierte Sehschärfe von 0,6p weiter angehoben werden kann, somit verbesserungsfähig ist oder durch Fortsetzung der Okklusionstherapie lediglich auf diesem Niveau stabilisiert werden kann.

Insofern weicht die Gutachterkommission von der Einschätzung im Erstgutachten ab, eine unterstellbare zeitliche Verzögerung einer adäquaten Amblyopietherapie habe auf die abschließende Prognose der Sehschärfenentwicklung am betroffenen rechten Auge nur begrenzt Einfluss gehabt. Auch kommt sie hinsichtlich der Feststellung im Erstgutachten, es liege eine relevante Amblyopie nicht mehr vor, zu einer anderen Einschätzung. Nach den Befunden (einschließlich der Befunde der nachbehandelnden Augenklinik) lag im Januar 2020 eine Sehschärfenminderung auf dem rechten Auge vor, die möglicherweise irreversibel ist; die Sehstörung ist also nicht behoben. Dass das alleinige Tragen der Brille nicht ausreichte, um die Amblyopie zu therapieren, hätte der Augenarzt Mitte Dezember 2017 erkennen müssen. Ob eine frühzeitigere Okklusionstherapie den resultierenden Gesundheitsschaden Amblyopie noch hätte vollständig verhindern können, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Es besteht aber eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass eine Schadensbegrenzung – höhere Sehschärfe und möglicherweise kürzere Behandlungsdauer – für das Kind hätte erreicht werden können.

Mitwirkung der Eltern bei der Therapie

Die Gutachterkommission geht davon aus, dass die Umsetzung der therapeutischen Auflagen wie konsequentes Tragen der Brille und Okklusionstherapie, offenbar auch wie hier bei Widerstand des Kindes, im Verantwortungsbereich der Eltern liegt und eine mangelnde Therapietreue der Eltern nicht dem Augenarzt angelastet werden kann. Voraussetzung ist insoweit allerdings, dass die Eltern/das Kind vom Augenarzt beziehungsweise in der Sehschule korrekt angeleitet wurden.

Dieser Umstand ist den Eltern in Form einer therapeutischen Aufklärung mit aller Deutlichkeit vor Augen zu führen. Vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, warum die Eltern des Kindes die bereits 2014 vom erstbehandelnden Augenarzt vermutete Anisometropie entgegen seiner Empfehlung nicht weiter haben altersgerecht abklären lassen. So blieb bedauerlicherweise für das Kind gerade vor Behandlungseintritt beim nachbehandelnden Augenarzt wertvolle Zeit in der Prägungsphase ungenutzt. Möglicherweise haben die Eltern die drohende Gefahr, aber auch die Chance für das betroffene Auge und die ihnen dabei zukommende wichtige Aufgabe zur Entwicklung des Sehvermögens nicht eindringlich genug aufgenommen beziehungsweise verstanden, um die Maßnahmen durchzusetzen. 

Dr. Cornelia Röckl-Müller ist Stellvertretendes Geschäftsführendes Kommissionsmitglied, Professor Dr. Dieter Friedburg ist ehemaliges Stellvertretendes Geschäftsführendes Kommissionsmitglied, Paul-Heinz-Gröne ist stellvertretender Vorsitzender, Dr. Beate Weber war bis Juni 2023 die für die Dokumentation und Auswertung der Begutachtungen zuständige Referentin der Gutachterkommission Nordrhein.