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Gesundheits- und Sozialpolitik

Suizidprävention darf kein Flickenteppich bleiben

18.08.2023 Seite 17
RAE Ausgabe 9/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2023

Seite 17

Professorin Dr. Barbara Schneider, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, ist Leiterin des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland (NaSPro) und Chefärztin der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen, Psychiatrie und Psychotherapie an der LVR-Klinik Köln. © LVR, A. Kaschirina
Am 6. Juli hat der Deutsche Bundestag zwei Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Suizidassistenz abgelehnt und einem Antrag zugestimmt, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, bis zum 30. Juni 2024 einen Gesetzentwurf zur Suizidprävention vorzulegen (Drucksache 20/7630). Professorin Dr. Barbara Schneider über die Bedeutung umfassender Aufklärung, die Notwendigkeit flächendeckender Hilfsangebote und deren auskömmliche Finanzierung

RhÄ: Wie bewerten Sie die jüngsten Entscheidungen des Deutschen Bundestages zur Suizidhilfe und zur Suizidprävention? 
Schneider: Wir vom NaSPro begrüßen es sehr, dass der Bundestag den Entschließungsantrag zur Suizidprävention mit nur einer Gegenstimme angenommen hat. Das wird die Chancen für eine wirksame Suizidprävention deutlich verbessern. Zumal das konkrete Datum für die Vorlage eines Gesetzentwurfs die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass tatsächlich in dieser Legislaturperiode noch eine gesetzliche Regelung kommt. 
Auch dass noch kein Gesetz zur Suizidassistenz verabschiedet wurde, begrüßen wir. Bevor man derart weitreichende gesetzliche Vorgaben macht, brauchen wir dringend eine gründliche gesellschaftliche Debatte auch über die Folgen einer solchen Regelung. Denn in den meisten Ländern, die liberale Regelungen zur Suizidhilfe eingeführt haben, steigt auch die Zahl der „klassischen“ Suizide. Das erfüllt uns mit Sorge.

RhÄ: Was sollte ein Suizidpräventionsgesetz beinhalten?
Schneider: Ganz wichtig sind der weitere Ausbau und die auskömmliche Finanzierung qualifizierter regionaler suizidpräventiver Angebote. Unser Problem ist zurzeit, dass die Versorgung mit Krisendiensten regional sehr unterschiedlich aufgestellt ist und Angebote häufig im Rahmen von Projekten finanziert werden, die dann irgendwann auslaufen. 
Wichtig wäre es außerdem, die vorhandenen Hilfsangebote besser zu vernetzen. Dazu benötigen wir eine bundesweite Informations- und Koordinationsstelle, die unter einer einheitlichen Telefonnummer und mit flankierenden Online-Angeboten rund um die Uhr erreichbar ist – nicht nur für suizidale Menschen und deren Angehörige, sondern auch für Fachpersonal zum Beispiel aus dem Gesundheitswesen. 
Das NaSPro hat im vergangenen Jahr zusammen mit mehr als 40 anderen Verbänden und Organisationen ein Eckpunktepapier zur Suizidprävention veröffentlicht.Die Empfehlungen basieren auf einer Analyse zum Stand der Suizidprävention in Deutschland, an der rund 1.000 Expertinnen und Experten mitgearbeitet haben. Viele unserer Vorschläge finden sich erfreulicherweise in dem Antrag wieder, den der Bundestag jetzt verabschiedet hat. 

RhÄ: Wo bestehen zurzeit die größten Versorgungslücken? 
Schneider: Wir müssen vor allem die Risikogruppen besser erreichen und psychosoziale, psychotherapeutische und psychiatrische Hilfen ebenso ausbauen wie Hospiz- und Palliativangebote. Es braucht zum Beispiel bessere Hilfsangebote für ältere Menschen, insbesondere für Männer, und für suchtkranke Menschen. Letztere gehen uns verloren, sobald sie nicht mehr in eine Therapie eingebunden sind. Auch bestimmte Berufsgruppen benötigen mehr Aufmerksamkeit. Dazu gehören Pflegende, Ärzte und vor allem Ärztinnen. 

RhÄ: Viele Menschen, die einen Suizid vollzogen haben, waren Studien zufolge in den Wochen vor der Tat noch beim Hausarzt, haben ihre Probleme aber nicht angesprochen. Was raten Sie Hausärztinnen und -ärzten?
Schneider: Das Wichtigste ist, dass man genau hinschaut und nachfragt, wie es dem anderen geht und dass man weiß, wohin man Menschen in Krisensituationen vermitteln kann. Das sind Kompetenzen, die alle in der Medizin Tätigen haben sollten. Oft erzählen die Patienten im Krankenhaus der Reinigungsfachkraft etwas, was sie mit mir als Chefärztin nicht besprechen. Deshalb ist es wichtig, dass alle wissen, dass es Hilfe gibt und dass es keinen Suizid auslöst, wenn man jemanden auf das Thema anspricht. 
Die psychiatrischen Kliniken sind rund um die Uhr geöffnet. Dort ist immer jemand mit ausreichend Expertise ansprechbar. Eine weitere Hilfsmöglichkeit ist die Telefonseelsorge. Für junge Leute unter 25 gibt es zum Beispiel ein anonymes Chat- und Onlineangebot U25. Im Fall schwer kranker Patienten können Palliativ- oder Hospizdienste helfen. Dort arbeitet Personal, das geschult ist im Umgang mit Todeswünschen.
Mein Eindruck ist, dass die Suizidprävention in den letzten Jahrzehnten viel erreicht hat. Die Menschen wissen heute, dass in suizidalen Krisen Hilfe möglich ist. Je aufgeklärter eine Gesellschaft ist, desto wirksamer wird Suizidprävention. Leider liegt die Zahl der Suizide in Deutschland seit 2009 dennoch stabil bei knapp unter 10.000. 

RhÄ: Wie viel Geld muss man für eine wirksame Suizidprävention in die Hand nehmen?
Schneider: Mit einer konkreten Zahl tue ich mich schwer. Wir haben für die Suizidprävention in Deutschland bislang nur sehr wenig ausgegeben. Einen Euro pro Einwohner pro Jahr fände ich schon angemessen. 

Das Interview führte Heike Korzilius