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Unter Beschuss

17.01.2024 Seite 15
RAE Ausgabe 2/2024

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 2/2024

Seite 15

  • Von einer mobilen Klinik in der Nähe von Cherson in der Ukraine ist nach heftigem Bombardement nur noch ein Haufen Schutt übrig. ©  MSF
  • Der Krankenwagen auf einer Straße im syrischen Aleppo wurde bei einem Angriff ebenfalls komplett zerstört. Übergriffe auf medizinische Einrichtungen verhindern nicht nur akute Hilfe, sondern führen dazu, dass ganze Regionen auch langfristig von der medizinischen Versorgung abgeschnitten sind. © IKRK
Afghanistan, Syrien, Jemen, Sudan, zuletzt die Ukraine und Gaza – in Kriegen und Konflikten hat die Weltgesundheitsorganisation allein im vergangenen Jahr 1.300 Übergriffe auf Gesundheitseinrichtungen, medizinisches Personal und Patienten gezählt. Das humanitäre Völkerrecht verbietet solche Angriffe. Dennoch gehören sie inzwischen fast zum Alltag.

von Heike Korzilius

Der junge Vater tritt verzweifelt das Gaspedal durch. Auf dem Rücksitz wimmert seine kleine Tochter. Sie blutet aus einer Bauchwunde. Das Auto rast durch eine ausgetrocknete Landschaft, dann durch eine zerbombte Stadt. Der Verkehr wird dichter, gerät ins Stocken, das verwundete Mädchen wird zusehends schwächer. Der Vater schöpft neue Hoffnung, als ein Schild den Weg zum nahen Krankenhaus weist. Er stoppt den Wagen, greift das bewusstlose Kind, läuft auf die rettende Klinik zu und muss erkennen, dass sie nur noch aus einem Haufen rauchender Trümmer besteht.
„Kein Krankenhaus. Keine Hoffnung.“, heißt es am Ende des kurzen Films. Er stammt aus dem Jahr 2020 und wurde im Rahmen der Kampagne #NotATarget (Keine Zielscheibe) gedreht. Die Kampagne ist Teil der Health Care in Danger Initiative, die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) bereits im Sommer 2011 ins Leben gerufen hat, um sich mit der wachsenden Bedrohung medizinischer Hilfe insbesondere in Kriegs- und Krisengebieten auseinanderzusetzen.  

Gut 1.300 Angriffe auf medizinische Einrichtungen, Gesundheitspersonal, Krankenwagen sowie Patientinnen und Patienten hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) allein im vergangenen Jahr gezählt. Mehr als 700 Menschen haben dabei ihr Leben verloren, fast 1.200 wurden verletzt. Dabei ist die Art der Übergriffe vielfältig. Ärzte und Pfleger werden attackiert, Patienten am Zugang zu medizinischen Einrichtungen gehindert, Krankenwagen an Checkpoints an der Weiterfahrt gehindert oder Krankenhäuser bombardiert und geplündert mit der Folge, dass ganze Regionen auch langfristig von der medizinischen Versorgung abgeschnitten sind. Um die Dimension des Problems zu erfassen, sammelt die UN-Organisation seit 2015 Daten über derartige Übergriffe und veröffentlicht sie tagesaktuell auf ihrem SSA-Dashboard (Surveillance System for Attacks on Health Care). 2023 waren 19 Staaten besonders von Gewalt gegen Krankenhäuser, Ambulanzfahrzeuge, Ärzte und Pflegekräfte betroffen. Ganz oben auf der Liste stehen Gaza und das Westjordanland (771 Angriffe), die Ukraine (209), Myanmar (66) und der Sudan (61). 

Respekt vor Völkerrecht einfordern

Die Health Care in Danger Initiative der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung versucht derweil nicht nur mit gezielten Kampagnen wie #NotATarget, Politik und Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren. In ihrem Rückblick auf zehn Jahre Health Care in Danger, der im März 2023 erschien, schreibt die Initiative, sie habe  ihren strategischen Fokus verlagert: von der Erarbeitung von Empfehlungen und Leitlinien hin zu konkreten Aktionen. Vor diesem Hintergrund hat sie vier Handlungsfelder identifiziert: So gelte es, vor Ort den Respekt von Streitkräften, Milizen und anderen Kämpfern gegenüber der medizinischen Versorgung durch Schulungen zu fördern oder auch mithilfe von Sanktionen durchzusetzen. Bei den politisch Verantwortlichen müsse man dafür werben, die humanitäre Hilfe durch entsprechende Gesetzgebung zu schützen. Medizinisches Personal sowie andere humanitäre Helferinnen und Helfer müssten geschult werden, damit sie sich und ihre Einrichtungen, aber auch mobile Teams und Ambulanzen besser vor Gewalt schützen und Konflikte deeskalieren könnten. Nicht zuletzt müsse der gesellschaftliche Respekt gegenüber den im Gesundheitswesen Tätigen in betroffenen Ländern und Regionen gestärkt werden. 

Die Health Care in Danger Initiative sieht inzwischen erste Erfolge ihrer Arbeit. Gewalt gegen medizinische Hilfe habe eine hohe Priorität auf diplomatischer Ebene erlangt. Zudem engagierten sich multilaterale Organisationen wie die WHO, humanitäre Hilfsorganisationen wie MSF und die Safeguarding Healthcare in Conflict Coalition, der neben dem IKRK auch der Weltärztebund als Beobachter angehören, für das Thema. Trotz dieser Fortschritte müsse man einräumen, dass die Gewalt vor Ort nach wie vor ein Problem sei, hießt es in der Health Care in Danger Strategie für 2020 bis 2022. Es müsse jetzt darum gehen, in den betroffenen Ländern und Regionen „Normen in praktisches Handeln und Verhaltensänderungen zu überführen“.

Tankred Stöbes Analyse fällt ähnlich aus: „Wir müssen verhindern, dass Gewalt gegen medizinische Einrichtungen und humanitäre Helfer ein Stück weit Normalität wird.“ Die große öffentliche Empörung, die Angriffe auf Krankenhäuser oder humanitäre Helfer vor fünf oder zehn Jahren ausgelöst hätten, gebe es nicht mehr in dem Maße. „Das ist neu“, sagt Stöbe.
 

Systematische Untersuchungen fehlen

Ob die Zahl der Übergriffe über die Jahre hinweg zugenommen habe, sei statistisch schwer zu belegen, weil es kaum systematische Untersuchungen gebe, sagt Tankred Stöbe im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Der Notfallmediziner war von 2007 bis 2015 Präsident der deutschen Sektion von „Ärzte ohne Grenzen“ (Médicins sans Frontières, MSF), ist inzwischen Mitglied im Vorstand der französischen Sektion und noch immer regelmäßig für die Organisation in internationalen Krisenherden im Einsatz, zuletzt in der Ukraine. „Wenn ich auf die letzten drei Einsätze dort zurückblicke, gibt es kaum Krankenhäuser in Frontnähe, die nicht vom Kriegsgeschehen beeinträchtigt sind“, erklärt Stöbe. So sei im vergangenen Sommer ein von MSF unterstütztes Krankenhaus in Cherson unter schweren Beschuss geraten. Dabei starb ein einheimischer Chirurg im OP. „Schwere Sicherheitszwischenfälle“ wie dieser schienen im Laufe der Zeit zugenommen zu haben. „Zumindest ist das meine Wahrnehmung, wenn ich auf die vergangenen 20 Jahre zurückblicke, in denen ich an humanitären Hilfseinsätzen teilnehme“, sagt Stöbe. Was bei den Angriffen meist offen bleibe, sei die Frage, ob es sich um systematische Attacken handelt oder um sogenannte Kollateralschäden. „Das ändert aber nichts daran, dass von der Prämisse, dass medizinische Einrichtungen vom humanitären Völkerrecht geschützt sind, nicht mehr viel übriggeblieben ist – mit tödlichen Konsequenzen für die Patienten, aber auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen“, so der MSF-Vorstand.
 
Kernstück des humanitären Völkerrechts sind die Genfer Abkommen und ihre Zusatzprotokolle. Unter anderem vor dem Hintergrund zweier Weltkriege hat sich die internationale Staatengemeinschaft darin verpflichtet, in Kriegen und bewaffneten Konflikten Zivilisten, Gesundheitspersonal, Kranke und Verwundete zu schützen sowie Verstöße gegen diese Schutzvorschriften zu ahnden. Angriffe gegen Zivilisten und medizinische Einrichtungen gelten als Kriegsverbrechen. Auch der Krieg kenne Regeln, schreibt das IKRK auf seiner Webseite. Die Gewalt brauche Grenzen, damit Kriege nicht in Barbarei ausarteten.
 
Auf die Genfer Konventionen gehen auch die Prinzipien der humanitären Hilfe zurück, deren Aufgabe es ist, in Situationen von Krieg und Gewalt, Naturkatastrophen und Epidemien Leben zu retten und Leid zu lindern. Diese Prinzipien – Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität – liegen der humanitären Arbeit der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung ebenso zugrunde wie der Arbeit von humanitären Hilfsorganisationen wie MSF (siehe Kasten). „Nur wenn wir uns an diese Prinzipien halten, können wir sicherstellen, dass alle Menschen, die medizinische Hilfe benötigen, diese auch erhalten – ohne Ansehen der Person“, erklärt Tankred Stöbe. „Und nur wenn wir keine Partei ergreifen, können wir auch die Sicherheit unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewährleisten.“
 
Denn die Sicherheit im Einsatz in Kriegen und Konflikten ist immer eine verhandelte. Man spreche mit allen Seiten – Kriegsparteien, Milizen, Warlords –, um Hilfsbedürftige zu erreichen und medizinische Einrichtungen und Personal zu schützen. „Wir haben keine Feinde, weil wir jedem, der krank oder verletzt ist, medizinische Hilfe anbieten“, so Stöbe. Das müsse aktiv und kontinuierlich kommuniziert werden. Neben dieser Art der „humanitären Diplomatie“ und der klaren Kennzeichnung von Helfern, Ambulanzen und medizinischen Einrichtungen gibt es aber auch zahlreiche praktische Sicherheitsmaßnahmen, um Mitarbeiter und Patienten zu schützen. „Aus drei Einsätzen in der Ukraine kann ich da ganz konkrete Beispiele nennen“, sagt der MSF-Vorstand. Dort habe die Organisation Einrichtungen evakuiert. 120 Patienten, die dement, multimorbide oder bettlägerig waren, konnten so vor den russischen Angriffen in Sicherheit gebracht werden. „Um die Sicherheit der Mitarbeiter zu gewährleisten, haben wir in der Ukraine zudem Schutzmaßnahmen ausgeweitet“, berichtet der Notarzt. Neben den klassischen Sicherheitstrainings würden die humanitären Helfer auch im Umgang mit chemischen und Nuklearunfällen beziehungsweise angriffen geschult. Jeder erhalte einen extra Rucksack mit spezieller Ausrüstung für den Ernstfall. Neu sei auch, dass die Helferinnen und Helfer in Frontnähe schusssichere Westen und Helme tragen müssten. Diese seien zwar schwer, man sei damit weniger beweglich und schwitze mehr. „Aber auf der anderen Seite wollen wir als Organisation die Risiken, von denen wir wissen, möglichst minimieren“, bekräftigt Stöbe.  

Angriff auf eine Klinik mit 42 Toten

2015 kam es in Kundus in Afghanistan zu einem schweren Zwischenfall, der den Arzt noch heute bestürzt. Damals flogen US-Streitkräfte Luftangriffe auf ein Krankenhaus von MSF. 42 Menschen starben. „Die Klinik wurde in der Nacht wiederholt beschossen, obwohl wir vorher die GPS-Koordinaten an die afghanische und die US-Armee durchgegeben und wiederholt betont hatten, dass es sich um eine rein medizinische Einrichtung handelt“, erinnert sich Stöbe. Das afghanische Verteidigungsministerium erklärte in der Folge, eine Gruppe von Terroristen mit leichten und schweren Waffen habe sich in der Klinik aufgehalten. Die NATO sprach von einem möglichen „Kollateralschaden“ bei einem Angriff auf feindliche Kämpfer. „Wir haben daraufhin eine unabhängige internationale Untersuchung gefordert, die es aber nie gegeben hat“, sagt Stöbe. Immerhin habe eine interne US-amerikanische Untersuchung ergeben, dass eine Verkettung von menschlichem und technischem Versagen den tragischen Vorfall verursacht hat. „Man hat sich entschuldigt“, betont Stöbe. „Aber das Wichtigste ist, dass die US-amerikanische Seite zugegeben hat, dass sich im Krankenhaus weder Kämpfer noch Munition befunden haben.“ Würden solche Vorwürfe von Konfliktparteien ungeprüft als Alibi genutzt, um Angriffe zu rechtfertigen, könne man das Völkerrecht vergessen. Das gelte aktuell auch für Gaza. Dort gebe es zurzeit keine unabhängigen Beobachter, die eine Einschätzung der Situation abgeben könnten. „Natürlich verurteilen wir die Hamas, wenn medizinische Einrichtungen als Schutzschilde missbraucht werden“, sagt Stöbe. Aber man appelliere auch an die israelischen Streitkräfte und die Regierung, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren und medizinische Einrichtungen und Zivilisten zu schützen.
 

Prinzipien der Humanitären Hilfe

Organisationen wie das Rote Kreuz, der Rote Halbmond oder „Ärzte ohne Grenzen“, die im Kriegs- und Katastrophenfall Hilfe leisten, haben sich in Anlehnung an die Genfer Konventionen den grundlegenden humanitären Prinzipien der Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität verschrieben:

Unparteilichkeit: Jeder Mensch in akuter Not hat ein Recht auf Hilfe, ungeachtet seiner Nationalität, Religion, sozialen Stellung oder politischen Überzeugung. 

Unabhängigkeit: Humanitäre Organisationen handeln unabhängig von politischer oder ­militärischer Einflussnahme. Sie bewahren sich auch finan­ziell einen Grad an Eigenständigkeit, der es ihnen ermöglicht, nach humanitären Prinzipien zu handeln.

Neutralität: Humanitäre Organisationen ergreifen in Kriegs- und Krisensituationen nicht Partei. Nur so ist gewährleistet, dass sie allen Bedürftigen helfen können.

Die humanitären Organisationen begreifen die Einhaltung der humanitären Prinzipien auch als Gewähr für die Sicherheit der eigenen Mitarbeiter und Einrichtungen.