Bei der konservativen Behandlung handgelenksnaher (distaler) Radiusfrakturen gibt es – neben typischen Komplikationen – eine Reihe von Fehlermöglichkeiten. Besonders aufmerksam ist auf die Anforderungen an die Indikationsstellung, die Auswahl der Schienungsmethode, aber vor allem auf die ärztliche Nachsorge und die erforderlichen radiologischen Kontrollen zu achten.
von Ilja Windrath, Ulrich Gras, Peter Lange und Tina Wiesener
Die Gutachterkommission hatte sich mit dem Fall einer konservativen Therapie einer distalen Radiusfraktur auseinanderzusetzen. Dabei ging es insbesondere um die Art der angelegten Gipsschiene und den besonderen Stellenwert der ärztlichen Nachsorge und der radiologischen Kontrolluntersuchungen.
Sachverhalt
Aufgrund eines am Vortag im Rahmen eines Spaziergangs erlittenen Sturzes mit der Folge Schwellung, Schmerzen und Bewegungseinschränkung des linken Handgelenks hatte sich eine 58-jährige Patientin zur fachärztlichen Behandlung in eine orthopädische Praxis begeben.
Die klinische Untersuchung erbrachte laut Dokumentation den Befund eines geschwollenen und in der Bewegung schmerzhaft eingeschränkten linken Handgelenks. Daraufhin erfolgte eine nativ radiologische Untersuchung des Handgelenks in zwei Ebenen, und anhand dieser Aufnahmen wurde ein unverschobener körperferner Speichenbruch links mit dorsaler Trümmerzone und achsengerechter Stellung in beiden Röntgenebenen diagnostiziert.
Nach Aktenlage wurde eine volare Gipsschiene angelegt. Gipsneuanlagen erfolgten im Verlauf dreimal, nach Erstanlage alle drei bis vier Tage. Sieben Tage und auch elf Tage nach der Erstvorstellung wurde jeweils eine Schwellung notiert und beim letzten Schienenwechsel Novaminsulfon zur Schmerzbehandlung rezeptiert.
Eine Bildgebung ist für diesen Behandlungszeitraum nicht dokumentiert. Diese erfolgte dann drei Wochen nach dem letzten Schienenwechsel und mehr als einen Monat nach der Erstversorgung mit der Gipsschiene: Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich das Bild eines nach streckseitig verkippten, körperfernen Speichenbruchs mit unscharfem Frakturspalt im Sinne einer beginnenden knöchernen Durchbauung.
Eine in der Folge durchgeführte Computertomografie dokumentierte eine knöchern nicht konsolidierte, eingestauchte und um circa 20° nach dorsal abgeknickte, metaphysäre distale Radiusfraktur mit konsekutivem Ulnavorschub. Die Patientin wurde in eine orthopädisch/unfallchirurgische Fachabteilung eingewiesen und dort operativ versorgt.
Im Nachgang erhob sie den Vorwurf, die niedergelassenen Orthopäden hätten ambulant ihre Handgelenksfraktur unzureichend behandelt, indem immer wieder Schienen angelegt worden seien, so dass das Handgelenk frei beweglich verblieben sei und nicht habe zusammenwachsen können. Wäre eine komplette Gipsschiene angelegt worden, hätte die nachfolgend notwendige Operation einschließlich des erneuten Brechens des Handgelenks und des Einsatzes einer Metallschiene verhindert werden können. Ergänzend beanstandete sie, dass die Schienen von einer Medizinischen Fachangestellten angelegt worden seien, ohne dass sich ein Arzt das Handgelenk angeschaut habe. Eine ärztliche Kontrolle habe nur zweimal stattgefunden.
Orthopädische/unfallchirurgische Begutachtung
Der Gutachter kam zur Feststellung von Behandlungsfehlern: Die zunächst begonnene konservative Therapie des undislozierten, körperfernen Speichenbruchs sei grundsätzlich nicht zu beanstanden. Als ein Risiko für einen Repositionsverlust habe jedoch eine dorsale Trümmerzone bestanden, die die behandelnden Ärzte – ausgehend von den einschlägigen Leitlinien – zu einer engmaschigen, insbesondere auch radiologischen Kontrolle hätte veranlassen müssen. Auch neben der aktuellen Leitlinie werde bei differenzierter konservativer Therapie eine Röntgenkontrolluntersuchung in jedem Fall innerhalb der ersten Woche nach Behandlungsbeginn empfohlen.
In diesem Zusammenhang hat der Sachverständige auch darauf aufmerksam gemacht, dass im Rahmen der Erstdiagnose von einer Verkippung der dorsalen Fragmente von circa 20° ausgegangen worden sei, ohne jedoch den Verlust des „Böhler-Winkels“ zu berücksichtigen. Als „Böhler-Winkel“ (benannt nach Lorenz Böhler [1885–1973]) werden bestehende Gelenk-Schaft-Winkel bezeichnet, die – unter anderem mit Blick auf das funktionelle Ergebnis – im Rahmen der therapeutischen Bemühungen bei der Gelenkwiederherstellung zu beachten seien. Anhand der Bildgebung sei lediglich die Verkippung zur 0-Grad-Stellung der radialen Gelenkfläche gemessen worden. Eine 0-Grad-Stellung der Gelenkfläche bedeute aber, dass der physiologische „Böhler-Winkel“ (von circa 20°) bereits nicht mehr vorhanden ist, dieser müsse aber bei der Beurteilung der Gesamtverkippung des Gelenks mitberücksichtigt werden. Unter Beachtung dieser Besonderheit habe es sich im hier vorliegenden Fall um eine um circa 40° verkippte distale Radiusfraktur gehandelt. Ebenso sei die Anlage einer volaren (palmaren) Unterarmschiene – obwohl die Trümmerzone streckseitig vorlag und hier insbesondere mit einem Repositionsverlust streckseitig zu rechnen war – nicht geeignet gewesen, einem sekundären Repositionsverlust bei dorsaler Trümmerzone entgegenzuwirken.
Einspruch
Die von dem Vorwurf eines Behandlungsfehlers betroffenen Ärzte widersprachen der Feststellung eines Behandlungsfehlers und beantragten ein abschließendes Gutachten der Kommission. Sie trugen vor, die Patientin sei über die Risiken einer konservativen Behandlung aufgeklärt worden. Eine sekundäre Dislokation sei eine häufige Komplikation, und die Patientin habe ausdrücklich keine operative Behandlung gewünscht. Dem Vorwurf, bei einer dorsalen Abkippung der Fraktur sei eine volare Schiene kontraindiziert, sei mit der Begründung zu begegnen, dass auf dem initialen Röntgenbild keine Dislokation zu erkennen gewesen sei und eine fest gewickelte volare Schiene eine ausreichende Stabilität gewährleiste. Es sei aktenkundig ein Termin zur Röntgenkontrolle drei Wochen nach Feststellung der Fraktur vereinbart gewesen, der – ebenfalls aktenkundig – aufgrund des Zustands des durch die Antragstellerin wiederholt stark beanspruchten Verbands um eine Woche vorgezogen worden sei. Warum die Patientin erst rund fünf Wochen nach der Erstfeststellung zur Röntgenkontrolle in der Praxis erschienen sei, entziehe sich ihrer Kenntnis. Es sei aber umgehend reagiert worden und die Patientin nach Vorliegen einer durch sie als behandelnde Ärzte veranlassten CT-Kontrolle sofort ins Krankenhaus eingewiesen worden.
Die Patientin verwies daraufhin nochmals darauf, dass die Schienen jeweils von den Medizinischen Fachangestellten angelegt worden seien und der Arzt während der Behandlungen zumeist nicht anwesend gewesen sei. Zu der Feststellung, dass sie erst nach fünf Wochen zur Röntgenkontrolle erschienen sei, erläuterte sie, dass sie keine kurzfristigen Termine erhalten habe, obwohl sie hierauf gedrängt habe. Sie sei sogar einmal in der belasteten Praxis abgewiesen worden und habe die Praxis mehrere Tage telefonisch nicht erreicht. Ein Termin sei ihr erst bei Aufsuchen der Praxis zugewiesen worden.
Abschließende Begutachtung
Die Gutachterkommission hat den Sachverhalt daraufhin erneut einer vollständigen und eigenständigen Überprüfung unterzogen und hiernach der Bewertung durch den Erstgutachter zugestimmt. Die Kommission hat dabei zunächst darauf hingewiesen, dass sie in ihren gutachtlichen Beurteilungen nach ihrer Verfahrensordnung ausschließlich die (schriftliche) Dokumentation der Behandlung und der Aufklärung der belasteten Ärzte sowie den übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten zu Grunde legt. Der streitige und der von der schriftlichen Dokumentation abweichende Vortrag der Beteiligten bleibe hingegen unberücksichtigt. Eine weitere Aufklärung des streitigen Sachverhalts sei der Kommission nicht möglich, da ihr – anders als in einem Gerichtsverfahren – die Anhörung der Beteiligten oder von Zeugen verwehrt sei.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Kommission zu den Einwendungen der Beteiligten für den hier zu prüfenden Behandlungsfall abschließend Folgendes festgestellt:
Die Antragstellerin habe sich – der Dokumentation ihrer Behandlung folgend – nach Sturz am Vortag in der Praxis der belasteten Ärzte vorgestellt. Die Röntgenaufnahme an diesem Tag habe eine distale Radiusextensionsfraktur mit nur geringer Dislokation ergeben. Bei Annahme einer physiologischen Volarneigung der distalen Radiusgelenkfläche im seitlichen Bild von 8° habe die Fehlstellung etwa 10° nach dorsal betragen. Auffällig sei auch eine bereits vom Erstgutachter ausführlich beschriebene dorsale Trümmerzone. Derartige Frakturen würden zum Abrutschen nach dorsal neigen und eine engmaschige Röntgenkontrolle zwingend erforderlich machen. Wenn, wie dokumentiert, die Antragstellerin sich sowohl eine Woche als auch elf Tage nach Erstvorstellung vorgestellt habe, wäre eine Röntgenuntersuchung zur Stellungskontrolle problemlos möglich gewesen. An beiden Tagen sei eine Schwellung am Handgelenk beschrieben und die „volare Gipsschiene erneut angelegt“ worden. Bei diesen Vorstellungen hätten Röntgenkontrollen erfolgen können respektive nach einer Woche erfolgen müssen, zumal eine Entfernung der ruhigstellenden Schiene bei dorsaler Trümmerzone durchaus zur Dislokation führen konnte. Der Wunsch der Patientin nach konservativer Behandlung spiele insofern keine Rolle, da Patientinnen und Patienten auf die fachliche Expertise des behandelnden Arztes angewiesen seien. Eine Ablehnung jeglicher operativer Therapie müsse im Übrigen vom Arzt schriftlich dokumentiert werden, was hier nicht der Fall gewesen sei. Wie vom Erstgutachter bereits festgestellt, bestehe die konservative Standardtherapie in der Anlage einer dorso-radialen Gipsschiene oder eines gespaltenen Rundgipses, um ein weiteres Abrutschen nach dorsal zu verhindern.
Durch die verspätete Diagnose der Abkippung nach handrückenwärts ist eine Verzögerung der adäquaten Behandlung von fünf Wochen mit den damit einhergehenden Schmerzen und zusätzlichen medizinischen Maßnahmen eingetreten. Es sei davon auszugehen, dass durch die Korrekturoperation eine anatomische Stellung erzielt werden konnte, so dass ein Dauerschaden durch die Verzögerung nicht entstanden sei.
Zusammenfassend wird festgestellt, dass der von der Antragstellerin gegenüber den Ärzten erhobene Vorwurf ärztlicher Behandlungsfehler berechtigt ist.
Dr. med. Ilja Windrath und Dr. med. Ulrich Gras sind Stellvertretende Geschäftsführende Kommissionsmitglieder, Dr. jur. Peter Lange ist Stellvertretender Vorsitzender und Dr. med. Tina Wiesener ist Leiterin der Geschäftsstelle der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein.