Der diesjährige 129. Deutsche Ärztetag in Leipzig hat Zeichen gesetzt: Nach jahrelangen Vorarbeiten billigten die Abgeordneten eine neue privatärztliche Gebührenordnung (GOÄ). Außerdem verabschiedete man eine gemeinsame Position zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs – beides mit überwältigender Mehrheit. Gleich zur Eröffnung hatte die mit Spannung erwartete neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken der Ärzteschaft eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe angeboten.
von Heike Korzilius
Konzentriert, konstruktiv und mit einigen überraschend klaren Entscheidungen verlief in der letzten Maiwoche in Leipzig der 129. Deutsche Ärztetag. Zugleich wurden wichtige Weichen gestellt. Für einen Neuanfang im Verhältnis zur Politik stand dabei sicherlich der Auftritt der neuen Bundesgesundheitsministerin Nina Warken bei der Eröffnungsveranstaltung in der Leipziger Nikolai-Kirche. Sie warb dort für eine gute Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit der Ärzteschaft. Von ihrem Vorgänger im Amt, Professor Dr. Karl Lauterbach, hatten sich die Ärztinnen und Ärzte oft übergangen gefühlt. Sie wolle angesichts der gewaltigen Herausforderungen in der Gesundheitspolitik mit allen Beteiligten in Dialog treten, versprach Warken. „Damit ist es mir ernst.“ Bei den anstehenden Reformen im Gesundheitswesen gehe es darum, auch angesichts einer alternden Gesellschaft, von Fachkräftemangel und knappen Finanzmitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung eine hochwertige Gesundheitsversorgung in Stadt und Land sicherzustellen. Dazu müsse man auch in der ambulanten Versorgung neue Wege gehen und mithilfe einer besseren Steuerung der Patienten durch Hausärztinnen und Hausärzte eine zielgerichtetere Versorgung gewährleisten. Das reduziere Wartezeiten und sorge für einen achtsameren Umgang mit der ärztlichen Arbeitszeit. „Für ein so komplexes Reformvorhaben brauchen wir einen breiten Grundkonsens“, appellierte Warken an die Ärztinnen und Ärzte.
Insbesondere müsse sichergestellt sein, dass es durch die Versorgungssteuerung nicht zu Engpässen in der Primärversorgung komme. In der stationären Versorgung gelte es, die Krankenhausreform zusammen mit den Ländern und den betroffenen Akteuren weiterzuentwickeln. „Wir wollen die Reform verbessern, nicht verwässern“, kündigte Warken an. Darüber hinaus versprach sie, das Gesundheitssystem von unnötigen bürokratischen Lasten zu befreien. „An gemeinsamen Themen und Herausforderungen herrscht kein Mangel“, erklärte die Ministerin. „Lassen Sie uns diese Aufgaben gemeinsam angehen.“
Zuvor hatte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK) Dr. Klaus Reinhardt bereits grundlegende Reformen angemahnt. Bei einem „Weiter so“ drohe der Kollaps des Gesundheitssystems. Mit Blick auf strukturelle Reformen sprach sich der BÄK-Präsident ebenso wie die Ministerin für eine bessere Patientensteuerung und die Einführung eines Primärarztsystems aus. Er verwies auf ein entsprechendes Positionspapier der Bundesärztekammer, das dafür plädiert, die primärärztliche Versorgung durch Haus- und Kinderärzte zum Normalfall zu machen. Nach dem BÄK-Konzept wählen die Patienten ihren „ersten Anlaufpunkt“ frei, aber für mindestens ein Jahr. Die Primärarztpraxis übernimmt die allgemeinmedizinische Versorgung sowie die Koordination notwendiger Weiterbehandlungen. Bei chronisch Kranken könne auch der behandelnde Facharzt diese Koordinationsfunktion übernehmen. Reinhardt betonte, dass es dabei ausdrücklich nicht um ein Gatekeeping-System gehe, das den Zugang von Patientinnen und Patienten zur medizinischen Versorgung einschränke. Es gehe vielmehr darum, dass die Patienten dort behandelt würden, wo es ihren Beschwerden angemessen sei.
System muss bezahlbar bleiben
Reinhardt appellierte zudem an die Politik, das Gesundheitswesen nicht allein als Kostenfaktor zu betrachten. Deshalb müssten Sparmaßnahmen immer einer Folgenabschätzung unterzogen werden. Zugleich stellte er aber auch die Rolle der Ärzteschaft im Reformprozess heraus. „Verantwortungsvolle Interessenvertretung ist mehr, als nur nach zusätzlichen finanziellen Mitteln zu rufen“, sagte er. Es bedeute, das Gesundheitssystem so mitzugestalten, dass es qualitativ hochwertig und zugleich für kommende Generationen bezahlbar bleibe und „auch morgen noch trage“, so Reinhardt. Angesichts der aktuell äußerst schwierigen Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung müssten neben notwendigen Strukturreformen die Kassen dringend von versicherungsfremden Leistungen entlastet werden. Je nach Berechnung seien das bis zu 60 Milliarden Euro jährlich. An die Ministerin appellierte er, die Erfahrung und das Wissen der im Gesundheitswesen Tätigen bei allen Reformüberlegungen angemessen einzubeziehen. Wichtig sei insbesondere der Abbau überbordender Bürokratie. Vorschläge aus der Ärzteschaft dazu lägen seit langem auf dem Tisch. Für die Umsetzung fehle es aber offenbar noch an einer Vertrauenskultur, die eine Vielzahl von Kontroll- und Prüfprozeduren überflüssig machen würde, sagte der BÄK-Präsident.
Ob Ministerin Warken es ernst meint mit der guten Zusammenarbeit, dürfte die Ärzteschaft auch an ihrem Umgang mit der GOÄ-Novelle messen. Für deren politische Umsetzung hat der Deutsche Ärztetag am 29. Mai den Weg geebnet. Die Abgeordneten beauftragten die Bundesärztekammer, den mit dem Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) geeinten Entwurf für eine neue privatärztliche Gebührenordnung an das Bundesgesundheitsministerium zu übergeben. Das Ministerium müsse eine Novellierung der GOÄ auf dieser Grundlage nun unverzüglich einleiten, lautete die Forderung des Ärztetages.
Dem Beschluss vorausgegangen waren in den vergangenen Wochen kontroverse Diskussionen innerhalb der Ärzteschaft. Insbesondere Vertreter von eher technischen Fächern wie Radiologen oder Laborärzte befürchteten durch den erzielten Kompromiss mit der PKV Honorareinbußen. Vor diesem Hintergrund fiel das Votum des Deutschen Ärztetages nun überraschend deutlich für die Novelle aus.
„Der Beschluss des Deutschen Ärztetages ist ein wichtiges gemeinsames Signal für die Handlungs- und Kompromissfähigkeit der ärztlichen Selbstverwaltung, der Privaten Krankenversicherung und der Beihilfeträger für eine zukunftsfähige Privatmedizin“, kommentierten der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, und der Direktor des PKV-Verbandes, Dr. Florian Reuther, das Abstimmungsergebnis. Das Ziel leistungsgerechter Honorare für Ärztinnen und Ärzte bei bezahlbaren Beiträgen für privat Versicherte sei zu einem wirksamen Ausgleich gebracht worden. Jetzt sei die Politik in der Verantwortung. „Wenn ein so breit abgestimmter und tragfähiger Entwurf vorliegt, der von allen relevanten Akteuren mitgetragen wird, dann ist auch der Zeitpunkt gekommen, ihn in die politischen Verfahren einzubringen“, betonten Reinhardt und Reuther. Bundesgesundheitsministerin Nina Warken hatte im Rahmen der Eröffnung des Ärztetages die Notwendigkeit für eine neue Gebührenordnung eingeräumt, deren Umsetzung aber an einen gemeinsamen Entwurf von BÄK und PKV geknüpft.
GOÄ-Novelle schafft Transparenz
Reinhardt hatte vor dem Ärzteparlament zuvor noch einmal erläutert, was die neue GOÄ leisten kann. Es handele sich dabei um ein differenziertes, ärztlich erarbeitetes Leistungsverzeichnis. Das allein sei schon ein Vorteil. Für die Breite der Ärzteschaft bedeute der Kompromiss mit der PKV bei der Leistungsbewertung ein Honorarplus von 13,2 Prozent in den ersten drei Jahren, was rund 1,9 Milliarden Euro entspreche. „Wir verbessern die Honorierung, ohne die Patientinnen und Patienten durch steigende Beiträge zu überfordern“, sagte Reinhardt. Mit einem an die moderne Medizin angepassten Leistungsverzeichnis schaffe die GOÄ-Novelle Rechtssicherheit und Transparenz. Aufgewertet werde insbesondere die ärztliche Zuwendung. „Das kommt allen Ärzten in der Patientenversorgung und ihren Patienten zugute“, erklärte er und räumte zugleich ein, dass man bei einigen technischen Leistungen Abstriche in Kauf nehmen musste. „In der Summe profitiert die Breite der Ärzteschaft aber auch wirtschaftlich“, so Reinhardt. Zumal die GOÄ in Zukunft kontinuierlich an den Fortschritt und die Kostenentwicklung in der Medizin angepasst werden solle. „Die Einigung zeigt die Gestaltungsfähigkeit der Partner in einem freiheitlichen Gesundheitssystem jenseits von Staat und GKV-System“, sagte Reinhardt. Zugleich stärke sie das duale System aus PKV und GKV.
Position zur Abtreibung
Innerärztliches Konfliktpotenzial bot auch die Positionierung zur Herausnahme des Schwangerschaftsabbruchs im ersten Trimenon aus dem Strafgesetzbuch. Der 128. Deutsche Ärztetag in Mainz hatte sich dafür ausgesprochen, die Diskussion darüber zu einem Schwerpunktthema in diesem Jahr in Leipzig zu machen. Zum Hintergrund: Die von der Ampelregierung eingesetzte Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin hatte sich im April 2024 für eine Entkriminalisierung ausgesprochen. Ein Anfang dieses Jahres vorgelegter fraktionsübergreifender Gesetzentwurf von mehr als 300 Abgeordneten von SPD, Grünen und Linken sah vor, die Regelungen in den Paragrafen 218 und 218a des Strafgesetzbuches entsprechend zu reformieren. Danach sollte ein Schwangerschaftsabbruch bis zum Ende der zwölften Schwangerschaftswoche grundsätzlich nicht mehr rechtswidrig sein, vorausgesetzt, es erfolgt zuvor eine Beratung. Das vorzeitige Aus der Ampelkoalition beendete auch diesen Gesetzesvorstoß.
Die Diskussion auf dem 129. Deutschen Ärztetag in Leipzig hatte vor diesem Hintergrund zwar an Aktualität, aber nicht an Brisanz verloren. Überraschend deutlich sprach sich die weit überwiegende Mehrheit der Delegierten (gut 90 Prozent) dafür aus, den Schwangerschaftsabbruch im ersten Trimenon außerhalb des Strafgesetzbuches zu regeln, die Beratungspflicht vor einem Abbruch aber beizubehalten. Die Entkriminalisierung und die dadurch bedingte gesellschaftliche Entstigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen trügen dazu bei, die Versorgung der betroffenen Frauen sowie die Rechtssicherheit für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte zu verbessern, heißt es in dem Beschluss, der federführend von Abgeordneten der Ärztekammer Nordrhein um Dr. Lydia Berendes erarbeitet worden war. Die Antragsteller betonen zugleich, dass die Beibehaltung der Beratungspflicht dazu beitrage, auch das werdende Leben zu schützen.
Mehr Rechtssicherheit für Ärzte
Berendes hatte vor dem Plenum betont, dass man sich in Nordrhein im Rahmen eines Lenkungsausschusses § 218 ausführlich mit den juristischen, historischen, medizinischen und ethischen Aspekten des Schwangerschaftsabbruchs beschäftigt habe. Zugleich sei es darum gegangen, das Grundrecht der Frau auf reproduktive Selbstbestimmung und das Grundrecht des Ungeborenen auf Leben in Einklang zu bringen. Orientiert habe man sich dabei auch an den Ergebnissen der Regierungskommission. Mit der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs im 1. Trimenon außerhalb des Strafrechts schaffe man mehr Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte. Denn die derzeitige Regelung signalisiere Ärzten und betroffenen Frauen, „was sie tun, ist unrecht“, so Berendes.
Dr. Susanne Johna, Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer, zählte zu den vielen Unterstützerinnen und Unterstützern des Antrags aus Nordrhein. „Ich wünsche mir keine Ächtung, sondern Achtung für die Frauen, die diese schwierige Phase durchleben“, sagte Johna. Dazu gehöre auch, dass man die Lebensumstände der geborenen Kinder mehr in den Blick nehme. Johna betonte zugleich, dass Ärztinnen und Ärzte nicht gezwungen werden dürften, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen. Sie seien allein ihrem Gewissen verpflichtet. „Die Kolleginnen und Kollegen müssen aber befreit werden vom Umstand, dass sie einen grundsätzlich rechtswidrigen Eingriff durchführen.“ Die derzeitige Regelung, nach der der Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen zwar rechtswidrig sei, aber straffrei bleibe, laufe leer, gab der Präsident der Ärztekammer Nordrhein und BÄK-Vorstandsmitglied Dr. Sven Dreyer zu bedenken. „Ein Strafrechtsparagraf, der nicht angewendet wird, gehört dort nicht hin“, so Dreyer. Wie Johna appellierte auch er an Politik und Gesellschaft, die Lebenssituation von Kindern zu beachten. „Der beste Schutz für das ungeborene Leben ist, wenn alle Kinder gewollt und gut behütet aufwachsen können“, so Dreyer.
Ärztekammer Nordrhein

Thema – 129. Deutscher Ärztetag
Signal für Dialog und Zusammenarbeit
Ärztekammer Nordrhein