„Kindern unter 14 Jahren ist der Zutritt nicht gestattet.“ – Schilder mit ähnlicher Aufschrift finden sich vor vielen Intensivstationen in deutschen Krankenhäusern. Meist werden zwei Argumente angebracht, die gegen einen Besuch von Kindern auf der Intensivstation sprechen: Keimgefahr und Traumatisierung. Viele Intensivmediziner und Pflegekräfte halten diese Argumente für nicht mehr zeitgemäß.
von Vassiliki Temme
„Kinder als Angehörige und Besuchende auf Intensivstationen, pädiatrischen Intensivstationen und in Notaufnahmen“, lautet der Titel eines Leitfadens, den ein internationales Experten-Team innerhalb der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) bereits 2022 veröffentlicht hat. Initiiert wurde das Projekt von Maria Brauchle, Fachkrankenpflegerin für Anästhesie- und Intensivpflege aus Österreich. Sie selbst war lange als ehrenamtliche Mitarbeiterin eines Kriseninterventionsteams tätig und begann ihre Ausbildung zur Intensivpflegekraft vor über 20 Jahren an der traumatologischen Intensivstation an der Universitätsklinik Innsbruck. „Damals war es nicht so üblich, Kinder überhaupt mit ins Spital zu bringen. Es gab auch nicht die heutzutage vielerorts fest verankerte psychosoziale Versorgung. Familienzentrierung war noch eher kein Thema“, sagt Brauchle im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Doch wenn Patienten kritisch krank seien und intensivmedizinisch behandelt werden müssten, seien Zuwendung und Nähe der Familie wichtig. Und dazu gehörten auch die Kinder, meint die Krankenpflegerin. Bereits vor 20 Jahren wurden an ihrer Station Kinder als Besucher integriert. „Meine damalige Chefin war hier in einer Vorreiterrolle. Sie vertrat den Standpunkt: Wenn Mama oder Papa bei uns liegen, dann dürfen die Kinder rein, wenn sie möchten.“
Wie wichtig es ist, mit Kindern das Gespräch zu suchen, weiß auch Co-Initiatorin Dr. Teresa Deffner, Psychologin an der Operativen Intensivstation am Universitätsklinikum Jena. „Es ist wichtig, den Kindern Orientierung zu geben. Und das ist sehr viel leichter mit mehr Transparenz“, sagt Deffner. Jeder dürfe eine persönliche Meinung dazu haben, ob der Besuch von Kindern auf der Intensivstation sinnvoll sei. „Aber das darf man nicht mit einer fachlichen Einschätzung verwechseln“, warnt die Psychologin. Die pauschale Aussage, dass Kinder von einem Besuch auf der Intensivstation traumatisiert werden, sei fachlich nicht korrekt. Es gehe darum, in jedem Einzelfall zu überlegen, was das Beste ist. Deffner kann die Vorbehalte vieler Intensivstationen verstehen, weiß selbst, dass die ersten Besuche der Kinder zeitaufwendiger sind und nicht alle Kliniken die nötigen Ressourcen haben. Doch Deffner und auch Brauchle sind sich einig, kleine Schritte können viel bewegen. „Meine Empfehlung für alle Stationen wäre, in jedem Fall frühzeitig nach betroffenen Kindern zu fragen und die Einschätzung der Bezugspersonen einzuholen. Wir erinnern zugleich immer daran, dass Kinder ein Recht haben, einbezogen zu werden, wenn ein Familienmitglied kritisch krank ist. Das wird meist sehr gut aufgenommen“, schildert Deffner. Oftmals helfe diese fachliche Bestätigung dabei, Kinder teilhaben zu lassen. „Sehr häufig waren die Kinder in der Situation dabei, die dazu führte, dass Mutter oder Vater ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Es ist viel traumatisierender, ihnen dann weitere Informationen und Besuche zu verwehren, als einen Besuch für einige Minuten zu erlauben“, ergänzt Brauchle.
Veraltete Vorbehalte
Beide Expertinnen kennen die Situationen, in denen Kinder der Zugang gewährt werden muss, weil es vielleicht das letzte Mal ist, dass sie ihre Angehörigen sehen. „Dazu braucht es Hausverstand, Empathie und den Willen. Der Tod gehört zum Leben dazu“, erklärt Brauchle. Gespräche mit Erwachsenen, die sich als Kinder nicht mehr auf der Intensivstation von sterbenden Familienmitgliedern verabschieden durften, hätten gezeigt, dass diese häufig bis heute darunter litten. Deffner bestätigt das und zitiert eine ihrer Studentinnen: „Die Kinder müssen am längsten mit einem solchen Schicksalsschlag weiterleben.“ Sie halte diesen Satz für sehr passend.
Auch die mögliche Keimgefahr lassen die Expertinnen nicht gelten, wenn es darum geht, Kindern den Zutritt zu Intensivstationen zu verwehren. Studien, insbesondere aus dem Bereich der Kinderintensivmedizin, belegten, dass generell keine erhöhte Infektionsgefahr von Geschwisterkindern ausgehe. „Die wichtigste Präventionsmaßnahme ist nach wie vor die Händedesinfektion“, erläutert Brauchle. Viele der Zutrittsverbots-Schilder stammten zudem aus einer Zeit, in der die Durchimpfungsraten bei Kindern noch nicht so hoch waren wie heute.
Weitere Informationen
https://www.divi.de/
https://www.intensivstation.jetzt/