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Das Ende des humanitären Systems?

16.04.2025 Seite 27
RAE Ausgabe 5/2025

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 5/2025

Seite 27

1,25 Millionen Menschen sterben jährlich an Tuberkulose. MSF versucht, Tuberkulose rechtzeitig zu identifizieren und zu behandeln wie hier in Tondo auf den Philippinen. © Ria Kristina Torrente
Das Aus der US-Entwicklungshilfebehörde USAID bringt das globale humanitäre System ins Wanken. Millionen Menschenleben stehen auf dem Spiel. Impfkampagnen gegen Krankheiten wie Masern und Diphterie bei Kindern oder Behandlungsprogramme gegen HIV oder Tuberkulose sind ebenso in Gefahr wie die basale Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser für Menschen in Not. Ist das globale humanitäre System noch zu retten?

von Jocelyne Naujoks

Es wurden 83 Prozent der US-Entwicklungshilfeprogramme beendet, insgesamt 5.200 Programme gestrichen, fast alle Mitarbeiter im In- und Ausland wurden entlassen. Anfang Juli soll die US-amerikanische Entwicklungshilfebehörde USAID laut US-Außenminister Marco Rubio komplett geschlossen werden, verbleibende Programme sollen ins US-Außenministerium eingegliedert werden. Donald Trumps Amtsantritt am 20. Januar dieses Jahres begann wie schon seine erste Amtszeit im Jahr 2017 mit einer Welle an Dekreten, darunter die Zerschlagung von USAID. Mit einem Budget von knapp 43 Milliarden US-Dollar waren die Vereinigten Staaten von Amerika bis dahin die weltweit größten Geber von Entwicklungsgeldern.
  
„Dieser Schritt ist ein Erdbeben für das gesamte System“, sagt Lara Dovifat. Als Leiterin der politischen Abteilung von Ärzte ohne Grenzen (MSF) Deutschland befürchtet sie, dass der Rückzug eines der größten Geber im humanitären System die gesamten Versorgungsketten destabilisiert. „USAID hat rund 50 Prozent der Tuberkulose-Medikamente in Kenia finanziert. Fallen diese weg, droht ein dramatischer Rückschritt in der Behandlung.“ Im Sudan und dessen Nachbarländern waren schon vor der Auflösung von USAID viele Menschen unterversorgt, berichtet Dovifat. Nun fehlten selbst die grundlegendsten Hilfen. Der Druck auf Akteure wie MSF wachse, die Lücken zu füllen. Doch auch deren Kapazitäten seien begrenzt. Bereits jetzt entstehen laut Dovifat in vielen Einsatzländern akute Engpässe, weil Organisationen Programme einstellen mussten oder Medikamente nicht mehr geliefert werden können. „In Kinshasa etwa fehlen aktuell antiretrovirale Medikamente. Mehr als 2.000 HIV- und Tuberkulose-Patienten sind gefährdet. Das Risiko für Resistenzen und Krankheitsprogression steigt deutlich“, so Dovifat.

Millionen Kinder bleiben ungeimpft

Besonders gefährdet sind Dovifat zufolge Regionen mit schwacher Gesundheitsinfrastruktur, wie viele Länder in Subsahara-Afrika, aber zum Beispiel auch Haiti. Dort finanzierte die US-Regierung 2024 mehr als 60 Prozent der humanitären Hilfe. Nach dem Rückzug mangele es nun an Wasser, und tödliche Krankheiten wie Cholera drohten. Ärzte ohne Grenzen habe daher seine Wasseraktivitäten auf Haiti ausgeweitet, berichtet Dovifat. In Somalia seien im Jahr 2024 rund 1,7 Millionen Kinder mangelernährt gewesen – jetzt drohe eine Katastrophe. Hier habe MSF nun seine Ernährungshilfe verstärkt.

Ebenso hart trifft es Dovifat zufolge die globale Impfallianz Gavi, die zu einem wesentlichen Teil mit US-Geldern finanziert wurde. „Der Wegfall dieser Mittel könnte in den nächsten fünf Jahren dazu führen, dass 75 Millionen Kinder nicht geimpft werden – mit der Folge von mehr als 1,2 Millionen zusätzlichen, vermeidbaren Todesfällen durch Krankheiten wie Masern, Lungenentzündung oder Diphtherie.“ Mehr als die Hälfte der Impfstoffe, die Ärzte ohne Grenzen in seinen Projekten einsetzt, stammen aus nationalen Gesundheitssystemen. Diese beziehen ihre Impfstoffe wiederum über Gavi. Auch wenn MSF sich selbst beinahe ausschließlich über private Spenden finanziere, treffe der Stopp der US-Hilfen so indirekt auch die eigenen Programme, warnt Dovifat.

Diese Ansicht teilen auch andere Hilfsorganisationen. Viele Partner von action medeor seien von den Kürzungen Trumps betroffen, sagt Sid Peruvemba, Vorstandssprecher des größten Medikamenten-Hilfswerks Europas aus Tönisvorst am Niederrhein. Peruvemba berichtet, dass bereits jetzt Ernährungsprogramme für Binnenflüchtlinge in Somalia gestoppt und Forschungs- und Behandlungsprogramme gegen HIV, Malaria und Tuberkulose in Tansania ausgesetzt werden. Partner-Krankenhäuser von action medeor hätten teilweise Personal entlassen müssen, das aus USAID-Mitteln finanziert wurde. „Unsere internationalen Partner, die über unsere Tochtergesellschaft labworks günstige Medikamente beziehen, müssen teilweise ihre Bestellungen stornieren. Wir versuchen, das soweit wie möglich aus unseren eigenen Mitteln zu kompensieren. Das ist jedoch nur für kurze Zeit möglich.“ Viele Medikamentenlieferungen drohten so auszufallen, erklärt Peruvemba.
 

Mehr als 100 Länder betroffen

„USAID ist ein entwicklungspolitscher Finanzierungsgigant. Es wird geschätzt, dass die Schließung der Behörde gravierende Auswirkungen auf die Versorgung von 120 Millionen Menschen in mehr als 100 Ländern hat“, sagt Peruvemba. Langfristig sieht er insbesondere Forschungs- und Behandlungsprogramme gegen infektiöse Krankheiten wie HIV, Malaria und Tuberkulose in Gefahr. Werden Behandlungsprogramme gegen diese und andere Krankheiten unterbrochen oder ganz ausgesetzt, könne das die langjährigen Erfolge bei der Bekämpfung dieser Krankheiten zunichtemachen, befürchtet Peruvemba.

Stark betroffen seien auch die Strukturen des globalen humanitären und entwicklungspolitischen Systems, das die Entwicklungshilfen umsetze und manage. Auch die Projekte von action medeor arbeiteten nicht isoliert, sondern koordiniert und eingebettet in dieses System und in gewisser Weise auch davon abhängig. Wie konkret die Auswirkungen für action medeor sein werden, könne zum jetzigen Zeitpunkt noch niemand sagen. Möglicherweise kämen sie verzögert, sozusagen als „Nachbeben“. Für humanitäre Organisationen, die ihre Projekte größtenteils über USAID finanzieren, geht es Peruvemba zufolge ums Überleben. Fehlten die finanziellen Mittel für Projekte, fielen auch Gelder für Personal und Verwaltung weg. „Wir werden vermutlich Organisationen sehen, die schrumpfen oder ganz verschwinden.“

Pessimisten sprächen bereits vom Ende des humanitären Systems, sagt Peruvemba. Er selbst glaubt jedoch, dass es Anpassungen geben wird. „Die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie action medeor wird durch das Wegbrechen öffentlicher Budgets zwar schwieriger, gleichzeitig wird sie aber an Relevanz gewinnen.“ Organisationen wie action medeor müssten daher ihre Bemühungen, Menschen Zugang zu Gesundheit zu verschaffen, eher verstärken als verringern. „Vielleicht zeigen sich die Menschen und das humanitäre System doch strapazierfähiger, als viele jetzt glauben, und die negativen Auswirkungen werden eingedämmt. Mittlerweile gibt es Zeichen, dass zumindest einige Verträge und Zahlungen von USAID für dieses Jahr weiterlaufen“, so Peruvemba.
 
Entwicklungshilfe braucht neue Kooperationen

Dem action medeor-Vorstand zufolge steht die Entwicklungszusammenarbeit vermutlich vor einem gewaltigen Systemumbau. Arbeitsschwerpunkte müssten verändert werden, damit die Kernaufgaben Gesundheit, Bildung und Nahrung finanziert werden können. „Neue Kooperationen mit der Wirtschaft und privatem Kapital müssen geschlossen werden. Die Entwicklungspolitik ist angewiesen auf eine breite, gesellschaftliche Akzeptanz, die in der letzten Zeit stark gelitten hat und wiederhergestellt werden muss.“

Entwicklungsbudgets würden nicht nur in den USA gekürzt und gestrichen, sondern auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern, bemerkt Peruvemba. „Diese Entwicklung hat übrigens schon lange vor dem Wahlsieg Trumps angefangen und steht in Verbindung mit der Notwendigkeit, stärker in Verteidigung zu investieren.“ Dabei könne niemand das 40-Milliarden-Jahrsbudget von USAID in Gänze kompensieren, sagt Peruvemba. Zudem reiße der Austritt der USA aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein weiteres großes Loch in das Budget der UN-Einrichtung mit noch nicht absehbaren Folgen für die globale Gesundheit und die Bewältigung von Krisen und Pandemien. Diese Lücke könne auch Europa nicht füllen, zumal auch dort Investitionen in die Verteidigung zurzeit im Vordergrund stehen.

Abhängigkeit von großen Gebern

Der plötzliche Stopp der Entwicklungsleistungen werde mittelfristig einen zusätzlichen Migrationsdruck entfalten, der auch Folgen für die Systeme in den reicheren Ländern habe, glaubt Peruvemba. „Humanitäre Hilfe und Entwicklungspolitik retten nicht nur direkt Menschenleben, sondern sie helfen, Länder und Gesellschaften zu stabilisieren. Konflikte können entschärft und damit unfreiwillige Migration und Flucht verhindert werden.“

Das Aus der US-Hilfen gefährdet nach Ansicht von Vertretern vieler Nicht-Regierungsorganisationen neben der konkreten Unterstützung für Menschen in Not auch Programme zur Pandemievorsorge, die internationale Zusammenarbeit an wichtigen Forschungsprojekten wie der Entwicklung neuer Antibiotika sowie den Austausch über Krankheitserreger und Pathogene mit pandemischem Potenzial. „Das betrifft dann auch Europa“, sagt MSF-Mitarbeiterin Dovifat und fordert schnelles und entschlossenes Handeln. Deutschland und andere Geber müssten hier einspringen und zwar mit einer flexiblen, bedarfsorientierten Finanzierung. Entscheidend sei es darüber hinaus, lokale Strukturen direkt zu unterstützen und multilaterale Instrumente wie Gavi oder den Global Fund zu stärken. Nur so könne die Abhängigkeit von einzelnen Gebern verringert werden. Gleichzeitig müsse humanitäre Hilfe klar nach Bedarf organisiert werden und sich konsequent an den humanitären Prinzipien der Unabhängigkeit, Neutralität und Unparteilichkeit orientieren, fordert Dovifat. „Geopolitische Interessen dürfen dabei nicht die Agenda bestimmen.“