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„Die Erinnerung sucht uns im Alltag auf“

31.01.2019 Seite 12
RAE Ausgabe 2/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 2/2019

Seite 12

Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig erinnern auch an Ärztinnen und Ärzte wie die Pädiaterin Edith Leffmann (1894 – 1984) aus Köln. © Karin Richert

Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 markierte auch den Beginn der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von jüdischen Ärztinnen und Ärzten. An dieses dunkle Kapitel der deutschen Ärzteschaft erinnerte Dr. Josef Schuster, Arzt und Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, auf der sechsten Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesung.

von Bülent Erdogan und Vassiliki Latrovali

Mehr als 8.000 jüdische Ärztinnen und Ärzte wurden im Nationalsozialismus verfolgt, vertrieben oder deportiert. Etwa 2.000 Ärzte, denen die Flucht anders als Leffmann nicht gelang, wurden ermordet. Zu den Ärzten, deren private, berufliche und bürgerliche Existenz damals vernichtet wurde, gehörte die Kölner Kinderärztin Dr. Edith Leffmann (1894 – 1984), die zeitweilig in Berlin und Köln praktizierte, 1939 mit ihrem Mann nach Belgien emigrierte, in der Résistance (der Sektion Travail Allemand) und später im Untergrund in Deutschland Widerstand leistete. Ihr Sohn Julius (1924 – 1943) konnte 1939 mit den Großeltern in die Niederlande fliehen und sollte auf die Alija, die Auswanderung nach Palästina, vorbereitet werden. 1943 deportierten die Nazis Julius nach Auschwitz, wo er infolge von Entkräftung und Krankheit starb. Leffmanns Mann war 1940 im Exil gestorben. Daraufhin floh die Ärztin weiter nach Frankreich, wurde dort inhaftiert und arbeitete als Lagerärztin, bis ihr die Flucht gelang und sie noch während des Krieges getarnt zurück nach Deutschland ging. Leffmanns Eltern, die laut Wikipedia in Köln die Fabrik „Löwenstern & Leffmann“ geführt hatten, wurden in Auschwitz ermordet. Nach dem Krieg lebte Dr. Edith Leffmann in Ludwigshafen und Mannheim, wo sie 1984 starb.

Die inzwischen sechste Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesung Anfang Dezember 2018 im Haus der Ärzteschaft stand im Zeichen des Erinnerns an das Unrecht, das Ärzten wie Leffmann angetan wurde – und an ein dunkles historisches Datum: Am 30. September 1938 verloren jüdische Ärztinnen und Ärzte in Deutschland per Gesetz ihre Approbation, erhielten Berufsverbot und wurden aus ihren Praxen vertrieben. Damit verloren die 1938 noch in Deutschland verbliebenen jüdischen Kollegen endgültig ihre berufliche und bürgerliche Existenz. Bereits mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 waren diese Kollegen aus ihren Tätigkeiten gedrängt worden – mit dem „Ariernachweis“ für Doktortitel, Approbation oder Facharztprüfung, mit dem Boykott jüdischer Praxen und einem Behandlungsverbot von nicht-jüdischen Patienten sowie durch den Entzug der Kassenzulassung oder den Verlust von Klinik- oder Universitätsstellen. „Führende Vertreter der Ärzteschaft haben sich damals an der Verfolgung ihrer jüdischen Kolleginnen und Kollegen beteiligt. Was vor rund 80 Jahren geschah muss uns stets Mahnung und Auftrag sein, denn auch unsere heutige Gesellschaft ist vor Intoleranz, Ausgrenzung und Antisemitismus nicht gefeit“, sagte Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein, in seiner Begrüßung.

Die NS-Verbrechen waren beispiellos

Ehrengast der Jörg-Dietrich-Hoppe Vorlesung in Düsseldorf war Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und Vizepräsident des World Jewish Congress sowie des European Jewish Congress. Er betonte die Rolle, die Jörg Dietrich-Hoppe (1940 – 2011) als Präsident der Bundesärztekammer (1999 – 2011) bei der Aufarbeitung gespielt habe, um nach vielen Jahrzehnten des Schweigens doch noch Licht ins Dunkel zu bringen, auch und gerade mit dem Forschungsbericht „Medizin und Nationalsozialismus“ am 23. März 2011. Damals habe Hoppe klar und deutlich bekannt: „Ärzte haben in der Zeit des Nationalsozialismus Tod und Leiden von Menschen herbeigeführt, angeordnet und gnadenlos verwaltet.“ Zwar habe es auch vor und noch nach der NS-Zeit zu verurteilende Experimente an Menschen durch Mediziner gegeben, so Schuster. Allerdings habe es nie zuvor „so grausame medizinische Versuche in einer solchen Dimension gegeben (..) wie im Nationalsozialismus. Niemals zuvor war eine so große Gruppe von Menschen als minderwertig und lebensunwert abgestempelt worden, sodass bei vielen damaligen Wissenschaftlern und Medizinern alle Hemmungen fielen und tausende Menschen zu medizinischen Experimenten gezwungen wurden. Deutsche Mediziner haben in einem Ausmaß den Eid des Hippokrates und alle auch schon damals vorhandenen ethischen Standards gebrochen und sind schuldig geworden, dass es bis heute für die medizinische Zunft in Deutschland zutiefst beschämend ist.“ In der Geschichte der Menschheit, so Schuster, gebe es nichts Vergleichbares, das so deutlich mache, dass ärztliches Handeln immer die Menschenwürde achten müsse: „Der Ethos, Menschen zu heilen und Menschen zu helfen und Schaden von ihnen abzuwenden, muss immer gelten“, sagte Schuster in Düsseldorf.„Die Aufarbeitung, die stattgefunden hat, fand durchweg mit großer Aufrichtigkeit und kritischer Distanz zur eigenen Disziplin statt.“ Es habe aber viel zu lange gedauert, bis die medizinischen Fachgesellschaften ihre Geschichte aufgearbeitet hätten. Charakteristisch für diese verzögerte Art der Aufarbeitung sei, dass in der Regel niemand mehr zur Verantwortung gezogen werden könne. Schuster: „Den Mut, die Täter tatsächlich mit ihren Verbrechen zu konfrontieren, hatte unsere Zunft ebenso wenig wie die übrige Gesellschaft.“

„Führende Vertreter der Ärzteschaft haben sich damals an der Verfolgung ihrer jüdischen Kolleginnen und Kollegen beteiligt.“

    Schuster warnte im Haus der Ärzteschaft vor einer Verklärung der Geschichte. Der Holocaust liege nun drei Generationen zurück, es gebe nur noch wenige Zeitzeugen. An den Medizinischen Hochschulen werde zwar auch Geschichte gelehrt, allerdings gelte auch dort: „Daten werden gepaukt, ob es um die Entdeckung des Penicillins geht oder um Zwillingsversuche von Josef Mengele.“ Die Geschichte lehre jedoch, wie wichtig es sei zu erinnern, zu welchen Taten Menschen imstande seien, denn: „Nur wer weiß, wie ethische Standards völlig entgleiten, ja pervertiert werden können, entwickelt eine ausreichende Sensibilität für die Bedeutung medizinischer Ethik.“ Diese Sensibilität werde weiterhin gebraucht, auch um unreflektierte Vergleiche zum Beispiel zwischen Designerbabys und der „Selektion von unwertem Leben“ zu vermeiden. „Eine sehr gute Möglichkeit für eine intensive Befassung mit der NS-Zeit bieten meines Erachtens die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig“, sagte Schuster. Immer wieder beteiligten sich ganze Schulklassen an den Recherchen über die Person, für die Demnig dann, wie im Falle Leffmanns, einen solchen Stein verlegt. „Dafür muss niemand ins Museum gehen, die Erinnerung sucht uns quasi im Alltag auf.“ Darüber hinausgehend forderte Schuster erneut, den Besuch von Orten, an denen der Holocaust stattgefunden hat, in den Lehrplan an Schulen aufzunehmen.

    Nicht ohne Wirkung auf die jüdische Gemeinschaft in Deutschland seien die Wahlerfolge der AfD, ein ansteigender Extremismus und ein weiterhin verbreiteter Antisemitismus, sagte Schuster. „Dieses Bedrohungsgefühl wird noch verstärkt, wenn direkte Angriffe gegen Juden in Deutschland bekannt werden, wie in jüngster Zeit vor allem in Berlin. Und von antisemitischem Mobbing auf Schulhöfen oder in Sportvereinen könnte Ihnen ohnehin fast jede jüdische Familie berichten.“ Glücklicherweise sei eine demokratische Aufbruchstimmung wahrnehmbar, kämpften Menschen wieder für die Demokratie und schauten nicht mehr weg. Schuster: „Diese Bürger wollen Deutschland nicht einfach nach rechts abdriften lassen. Sie wollen Deutschland wieder zu einem Land machen, dessen Markenkern Respekt ist.“

    Im Rheinland hatten bei Machtantritt der Nazis noch besonders viele jüdische Ärztinnen und Ärzte praktiziert. Die Ärztekammer Nordrhein setzt sich für eine offensive Aufarbeitung der Verbrechen an jüdischen Ärzten während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und das Erinnern an diese Zeit ein: So war im März 2018 im Haus der Ärzteschaft die Wanderausstellung „Fegt alle hinweg“. Die Ärztekammer Nordrhein möchte weitere Schicksale aus ihrem Kammergebiet in Erinnerung rufen. Die acht Bezirksstellen der Kammer werden sich hierzu mit historischem Material auseinandersetzen. Die Ausstellung „Fegt alle hinweg“ soll dann zum 85. Jahresgedenken des Approbationsentzugs im Jahr 2023 um weitere acht Gedenktafeln ergänzt werden und erneut in Düsseldorf Station machen. Rudolf Henke: „Die Vergangenheit kann von uns nicht geändert werden. Was wir aber beeinflussen können, das ist die Zukunft.“

    Internethinweis

    Sie können die Rede von Dr. Josef Schuster auf www.aekno.de als PDF herunterladen:

    Das Rheinische Ärzteblatt hat im Mai 2011 über den Forschungsbericht "Medizin und Nationalsozialismus" geschreiben: