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Wissenschaft und Fortbildung – Aus der Arbeit der Gutachterkommission – Folge 122

Fehlerhafte Behandlung mit Colchicin

26.10.2020 Seite 30
RAE Ausgabe 11/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 11/2020

Seite 30

Vor der Verabreichung von Colchicin dispert® müssen unter anderem Gegenanzeigen wie beispielsweise eine eingeschränkte Nierenfunktion und/oder eine Anämie Beachtung finden. Bei der Dosierung darf die maximale Grenze einer Gesamtdosis von 12 mg pro Gichtanfall keinesfalls überschritten werden. 

von Theodor Königshausen, Peter Lange und Beate Weber

Im vorliegenden Fall hat ein Ehemann ein Verfahren gegen den Hausarzt und die Krankenhausinternisten seiner Ehefrau eingeleitet. 
Der Ehemann macht im Einzelnen geltend, seiner im achten Lebensjahrzehnt stehenden Ehefrau sei im Monat der beklagten Behandlung vom Hausarzt ohne Indikation Kortison (Prednisolon 20 mg) verschrieben worden, wodurch sich eine diabetische Stoffwechselentgleisung entwickelt habe. Schließlich sei seine Frau wegen Schüttelfrost und Gelenkschwellung vom Hausarzt ins Krankenhaus eingewiesen worden. Fünf Tage später sei sie dort auf der Intensivstation infolge einer schweren metabolischen Azidose verstorben, die durch die Fehlbehandlung des Hausarztes verursacht worden sei. Die Erstmanifestation des zugrundeliegenden Diabetes mellitus sei von den belasteten Krankenhausinternisten nicht erkannt und seine Frau trotz stetiger Zustandsverschlechterung fehlerhaft zu lange auf einer Normalstation behandelt worden.
Nach der vorgelegten Dokumentation wurde die Patientin mit akuten Knie- und Rückenschmerzen in die Klinik aufgenommen. Dort war sie erst zehn Tage zuvor nach einer knapp 14-tägigen Behandlung einer akuten gastroenteralen Blutung bei endoskopisch nachgewiesenen Dünndarmdivertikeln mit Blutungsanämie entlassen worden. Es lagen zudem unter anderem ein teilthrombosiertes Bauchaortenaneurysma mit Durchmesser 4,2 cm, ein Zustand nach Apoplex und ein acht Jahre zuvor diagnostiziertes myelodysplastisches Syndrom vor. Berichtet wird eine Dauermedikation mit ASS 100, Candesartan und Hydrochlorothiazid.
Die bei der Aufnahme von der Patientin geschilderten Schmerzen im linken Kniegelenk und im rechten MCP-III-Gelenk mit Verdacht auf einen akuten Gichtanfall seien, so der abschließende Arztbrief, unter symptomatischer Therapie mit Colchicin und Diclofenac bereits am Folgetag rückläufig gewesen. In den nächsten Tagen habe die Patientin nur noch über leichte Gelenkbeschwerden, aber weiterhin über Rückenschmerzen geklagt, die durch unfallchirurgisches Konsil und eine Röntgenaufnahme der Brustwirbelsäule mit dem Ergebnis degenerativer Veränderungen abgeklärt worden seien. In der Nacht zum 4. Behandlungstag habe die Patientin eine delirante Symptomatik entwickelt. Man habe ein gerontopsychiatrisches Konsil veranlasst, das die Verdachtsdiagnose einer beginnenden Demenz ergeben habe. Die Infektwerte seien angestiegen und bei zunehmender Übelkeit und Durchfällen am ehesten als Ausdruck einer infektiösen Gastroenteritis interpretiert worden. Am Folgetag habe sich der Zustand der Patientin deutlich verschlechtert. Neben einer Kreislaufinstabilität habe eine Hemiparese vorgelegen, ohne dass sich im notfallmäßig durchgeführten CCT ein Korrelat gezeigt habe. Sonografisch sei freie Flüssigkeit im Abdomen ausgeschlossen worden. Laborchemisch lagen eine ausgeprägte metabolische Azidose (pH-Wert von 6,996 und base excess von -22,0 mmol/l in der arteriellen Blutgasanalyse) und eine Anämie vor. Letztlich habe sich der Zustand der Patientin so stark verschlechtert, dass sie trotz Reanimation und Verlegung auf die Intensivstation verstorben sei.

Bewertung

Eine Prednisolon-Gabe kann eine diabetische Stoffwechsellage begünstigen. Die Gutachterkommission hat aber mit übereinstimmendem Erst- und abschließendem Gutachten nach sorgfältiger – hier nicht im Einzelnen wiederzugebender – Analyse der in der Klinik wiederholt erhobenen Laborwerte festgestellt, dass dieser Faktor für den fatalen Verlauf nicht ausschlaggebend war und dass ein Diabetes mellitus bei der Patientin nicht vorlag [2;3]. Deswegen war auch die Frage nach der Indikation für die ursprüngliche hausärztliche Kortisonverordnung nicht weiterzuverfolgen.

Prüfen des gesamten Sachverhaltes

Nach ihrem Statut hat die Gutachterkommission nicht nur den explizit vorgebrachten Behandlungsfehlervorwurf zu prüfen. Sie überprüft den gesamten Sachverhalt der vorgeworfenen Behandlung. Denn vom Patienten beziehungsweise seinen antragstellenden Angehörigen/Erben kann nicht erwartet werden, dass er oder sie als medizinische Laien die medizinischen Zusammenhänge in ausreichendem Umfang überblicken [1].

Colchicinbehandlung

Nach der Behandlungsdokumentation der Krankenhausinternisten wurde die Patientin vom Aufnahmetag bis zu ihrem Tod am 5. Behandlungstag mit 4-mal täglich 2 mg Colchicin dispert® oral behandelt. Ob bereits in der Notaufnahme eine erste Dosis Colchicin verabreicht wurde, ist nicht eindeutig ersichtlich. Demnach hat die Patientin mindestens eine kumulative Colchicindosis von 34 mg innerhalb von fünf Tagen erhalten.
Der Krankenakte ist zu entnehmen, dass 24 Stunden nach der Aufnahme erstmals zwei flüssige Durchfälle aufgetreten sind. In den nachfolgenden Tagen habe sich laut Arztbrief die Stuhlfrequenz weiter erhöht, was als infektbedingt interpretiert und mittels Stuhlproben mikrobiologisch ausgeschlossen wurde.

Prüfung der Indikation/Kontraindikation 

Vor jeder Medikation ist die Indikation zur Behandlung abzuwägen und es sind die vom Hersteller angegebenen Kontraindikationen zu beachten [6]. Patientinnen und Patienten sind über die wesentlichen (Neben-)Wirkungen aufzuklären.
Nach den Krankenunterlagen erschließt sich der Gutachterkommission im vorliegenden Fall nicht, ob der im Arztbrief berichtete Verdacht auf einen akuten Gichtanfall tatsächlich begründet war. Darauf kommt es bei der Bewertung in diesem Fall aber nicht maßgeblich an, denn entscheidend war, dass bei der Patientin als Kontraindikation eine eingeschränkte Nierenfunktion und eine Anämie vorlagen, die von den Krankenhausinternisten fehlerhaft nicht bedacht wurden: Die Laboranalyse am Folgetag der Aufnahme wies einen Kreatinin von 1,55 mg/dl und eine deutlich eingeschränkte glomeruläre Filtrationsrate von 34,46 auf, weiterhin eine Anämie mit einem Hämoglobinwert von 10,5 g/dl (Normalwert 11,9-14,6), vermutlich noch als Folge der vorausgegangenen gastroenterologischen Blutung.
 

Es wird von der Gutachterkommission als grober Behandlungsfehler beurteilt, dass Colchicin dispert® trotz Kontraindikationen verabreicht wurde. Bei bekannter vorbestehender Blutungsanämie war es spätestens nach der Laboranalyse am Tag nach der Aufnahme zwingend geboten, Colchicin dispert® umgehend abzusetzen. Zudem wurde im Arztbrief eine Besserung der Symptomatik beschrieben, sodass spätestens nach (vermeintlicher) Behandlung eines akuten Gichtanfalls nach 24 Stunden eine Indikation zur Verabreichung von Colchicin eindeutig nicht mehr gegeben war [7; 8; 9]. Die Antragsgegner haben sich nach dem Gutachten nicht mehr geäußert.

Toxische Dosis verabreicht

Nebenwirkungen einer Colchicin-Überdosierung sind insbesondere Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, metabolische Azidose und Multiorganversagen. Studien haben zudem gezeigt, dass niedrige Dosen (1,8 mg Colchicin in < 24 h) und hohe Dosen (4,8 mg Colchicin < 24 h) annährend gleiche Wirksamkeiten entfalten [7]. Die Nebenwirkungen präsentieren sich initial klinisch wie eine Gastroenteritis [8]. Letale Ausgänge von Colchicin-Vergiftungen sind bei Dosen von 7 – 26 mg beschrieben [9].
Der Patientin wurde mit 34 mg in fünf Tagen eine toxische Dosis Colchicin verabreicht, was als weiterer grober Behandlungsfehler bewertet wird, zumal die Symptomatik der Überdosierung fehlerhaft bis zuletzt nicht erkannt wurde.  Über die Gründe für diesen Fehler geben die der Gutachterkommission vorliegenden Unterlagen keine Auskunft. Die Behandlung der Patientin fiel in eine Feiertags- und Ferienzeit. Ob dies dazu geführt hat, dass die Fortführung der Colchicin-Medikation schlicht übersehen wurde, muss offen bleiben. Noch im zehn Tage nach dem Tod der Patientin datierten Arztbrief wird allerdings als wahrscheinlichste Todesursache ein rupturiertes Bauchaortenaneurysma, alternativ ein ischämisches zerebrales Geschehen mit Hemiparese und eine Sepsis vermutet. Diese Differenzialdiagnosen erklären jedoch nicht die ausgeprägte metabolische Azidose. 
Die hier verabreichte Dosis von 34 mg entspricht 280 Prozent der vom Hersteller definierten Maximaldosis pro Gichtanfall und 560 Prozent der im klinischen Alltag üblichen Maximaldosis pro Gichtanfall von 6 mg. Die Dosis von 34 mg liegt deutlich über der in Fallberichten beschriebenen letalen Dosis von Colchicin [9].
 

Was Sie bei der Verabreichung von Colchicin bedenken müssen:

  • Colchicin besitzt eine geringe therapeutische Breite und darf nur im akuten Gichtanfall angewendet werden. Kontraindikationen (zum Beispiel eingeschränkte Nierenfunktion) und Wechselwirkungen sind zu beachten. Eine Risiko- und Sicherungsaufklärung des Patienten über die Nebenwirkungen und eine Beschränkung der Abgabemenge (Packungsgröße) ist essentiell.
  • Eine Gesamtdosis von 8 mg innerhalb von 24 Stunden beziehungsweise 12 mg pro Gichtanfall darf keinesfalls überschritten werden. Eine Tagesdosis am ersten Tag von 2 mg, am zweiten und dritten Tag 2 bis 3 x 0,5 mg und am vierten Tag gegebenenfalls 2 x 0,5 mg bis zum Erreichen der Höchstdosis von 6 mg pro Gichtanfall wird in der Indikation „Behandlung des akuten Gichtanfalls“ als ausreichend wirksam erachtet. Behandlungsalternativen sind Cortison und NSAR. Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin sieht Colchicin – anders als andere Leitlinien – gegenüber diesen Behandlungsoptionen als Reservemedikament. [4; 5]
  • Nach Beendigung eines akuten Gichtanfalls sollte eine Behandlungspause von mindestens drei Tagen eingehalten werden.
  • Vergiftungserscheinungen können auch unter therapeutischer Dosierung auftreten und betreffen Organe und Gewebe mit hoher Proliferationsrate (Metaphaseninhibitor).
  • Die Behandlung einer Überdosierung erfolgt rein symptomatisch, da kein spezifisches Antidot zur Verfügung steht. Primär sollte Erbrechen herbeigeführt (Magenspülung) und mehrfach medizinische Kohle verabreicht werden.
     
Beweislastumkehr

Nach Auffassung der Gutachterkommission muss der Tod der Patientin (mit praktischer Gewissheit) als direkte Folge der Colchicin-Überdosierung angesehen werden. Für die juristische Bewertung der Frage, ob der Tod der Patientin durch den Behandlungsfehler verursacht wurde, war es von maßgeblicher Bedeutung, dass der Behandlungsfehler als grob einzustufen ist. So wird im Arzthaftungsrecht ein medizinisches Fehlverhalten eingeordnet (hier: gravierende, mehrtägige Überdosierung bei vorliegenden Kontraindikationen), das „aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich“ erscheint, weil „ein solcher Fehler dem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf“ [10]. Bei groben Behandlungsfehlern liegt die Beweislast dafür, dass es an der Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und dem Schaden (hier: Tod der Patientin) fehlt, bei den beschuldigten Krankenhausärzten. Dieser Beweis war im vorliegenden Fall nicht zu erbringen. 

Professor Dr. med. Theodor Königshausen ist Stellvertretendes Geschäftsführendes Kommissionsmitglied, Dr. jur Peter Lange ist Stellvertretender Vorsitzender und Dr. med. Beate Weber ist die für die Dokumentation und Auswertung zuständige Referentin in der Geschäftsstelle der Gutachterkommission.


Literatur 
[1]    Laum H.-D., Smentkowski U., Ärztliche Behandlungsfehler – Statut der Gutachterkommission. Kurzkommentar. Deutscher Ärzte-Verlag 2000: 129ff
[2]    World Health Organization Department of Noncommunicable Disease Surveillance Definition, Dia-gnosis and Classification of Diabetes Mellitus and its Complications in: WHO/NCD/NCS/99.2. 1999
[3]    S2k-Leitlinie Diabetes mellitus „Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter“, 2. Auflage, Seite 7-8
[4]    S2e-Leitlinie Gichtarthritis (fachärztlich) - Evidenzbasierte Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie, www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/060-005l_S2e_Gichtarthritis_2016-08.pdf&nbsp;
[5]    S1-Leitlinie Akute Gicht in der hausärztlichen Versorgung www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/053-032b.html
[6]    Fachinformation Colchicin dispert siehe Rote Liste
[7]    Terkeltaub RA et al., Arthritis Rheum. 2010, DOI org. 10.1002/art.27327
[8]    Finkenstein Y et al., Clinical Toxicology Colchicine Poisoning: The Dark Side of an Ancient Drug 2010, DOI 10.3109/15563650.2010.495348
[9]    Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, „Aus der UAW-Datenbank“: Akzidentelle Überdosierung von Colchicin mit Todesfolge. Dtsch Arztebl 2017; 114(3): A-96 / B-84 / C-84
[10]    vgl. BGH, Urteil v. 25.10.2011 VI ZR 139/10