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Krankenhausplanung in NRW: Abschied vom Bett

21.10.2020 Seite 12
RAE Ausgabe 11/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 11/2020

Seite 12

© PeopleImages/istockphoto.com
Statt Betten sollen im bevölkerungsreichsten Bundesland künftig verstärkt Leistungen geplant werden. Ziel ist es, die Versorgung besser zu steuern und auf diese Weise Überkapazitäten in den Ballungsgebieten abzubauen und zugleich Unterversorgung auf dem Land zu verhindern. Damit das gelingen kann, hat der Landtag in Düsseldorf Mitte Oktober über eine Novelle des Krankenhausgesetzes beraten.

von Heike Korzilius


Es ist eine kleine Revolution, die sich der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann vorgenommen hat. Mit der Novelle des Krankenhausgestaltungsgesetzes (KHGG) will er die Krankenhausplanung im Land auf neue Füße stellen (Drucksache 17/11162). Am 8. Oktober hat der Landtag in erster Lesung darüber beraten. NRW ist das erste Bundesland, dass sich die Empfehlungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen – flankiert von einem eigenen Gutachten zur „Krankenhauslandschaft NRW“ – zu eigen macht und von der bisherigen Bettenplanung abrücken will. Stattdessen sollen künftig vorrangig Leistungen geplant werden.
Dass Handlungsbedarf besteht, darüber sind sich die Experten einig. So geht der aktuelle Krankenhaus Rating Report der Gesundheitsökonomen des RWI – Leibnitz-Institut für Wirtschaftsforschung davon aus, dass bis 2025 38 Prozent der Krankenhäuser in Deutschland ein erhöhtes Insolvenzrisiko aufweisen und 57 Prozent ein negatives Jahresergebnis erzielen werden. Diesem „kalten Strukturwandel“ will man in NRW jetzt mit einer verbesserten Krankenhausplanung entgegentreten. 

Qualität kaum berücksichtigt

Für die Krankenhäuser im Land hatte das Gutachten im Auftrag des Ministeriums im vergangenen Jahr eine tendenzielle Überversorgung in den Ballungsgebieten, insbesondere im Rheinland und im Ruhrgebiet, beschrieben. Auf dem Land gebe es dagegen zum Teil Versorgungslücken. Nach Einschätzung der Gutachter verhindert die derzeitige Planungsmethodik eine gezielte Steuerung der medizinischen Versorgung. Die praktizierte Rahmenplanung sei zu wenig detailliert, sie orientiere sich überwiegend an der Bettenzahl und berücksichtige die Qualität der Leistungen nur in sehr geringem Maß. 
Beispiel Innere Medizin und Chirurgie: Zurzeit erhalten Krankenhäuser die Zuweisung für diese Gebiete ohne Einschränkung und sind damit im Grunde genommen befugt, zwei Drittel des gesamten medizinischen Leistungsspektrums anzubieten. „Wenn ein Krankenhausbetreiber beschließt, künftig auch Herzkatheteruntersuchungen durchzuführen, kann er das machen, wenn er die entsprechenden personellen und technischen Voraussetzungen erfüllt“, erläutert Dr. Anja Mitrenga-Theusinger, Vorsitzende der Krankenhauskommission der Ärztekammer Nordrhein und Mitglied im Kammervorstand. Die Folge: Hochspezialisierte und damit lukrative Leistungen werden von immer mehr Krankenhäusern erbracht, ohne dass überprüft werden kann, ob das im Einzelfall immer wirtschaftlich oder unter Qualitätsaspekten sinnvoll ist. 
Im Jahr 2017 sind dem Gutachten zufolge in NRW 30.000 Knie-TEPs eingesetzt worden, und zwar an 233 Krankenhäusern. Dabei habe die Hälfte der Kliniken weniger als zwei Eingriffe in der Woche durchgeführt. Strukturell bedeutet das, dass zu viele – auch kleine – Krankenhäuser dieselben Leistungen anbieten. Die Folge ist ein ungesunder Wettbewerb, der das Risiko birgt, dass Indikationen für lukrative Eingriffe ausgeweitet werden. Dieser Mechanismus verhindert eine sinnvolle Arbeitsteilung, Kooperation und Schwerpunktbildung im Sinne einer besseren Patientenversorgung. Die derzeitige Finanzierungssystematik über DRGs verschärft das Problem zusätzlich. Denn allein mit Leistungen der Grundversorgung kommt kein Krankenhaus über die Runden.
Die Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe sind wie die Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (KGNW) und die Krankenkassen über den Landesausschuss Krankenhausplanung in die Reformdiskussion mit dem Landesgesundheitsministerium eingebunden. Über die Zielrichtung der Reform seien sich die Mitglieder des Gremiums im Grunde genommen einig, meint Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein. 

Selbst die Krankenhausgesellschaft kämpfe nicht mehr um jedes Bett. Denn die Beschränkung der Krankenhausplanung auf eine reine Rahmenplanung, wie sie vor 15 Jahren eingeführt wurde, um Kassen und Kliniken vor Ort mehr Gestaltungsspielraum einzuräumen, habe sich nicht bewährt. „Die Hoffnung, dass die Marktkräfte und das DRG-System eine rationale Versorgungsstruktur praktisch von alleine entstehen lassen, hat sich nicht erfüllt“, sagt Henke. 

Erreichbarkeit bleibt ein Kriterium

Das Gesundheitsministerium verspricht sich von der neuen Planungssystematik, dass die Qualität der medizinischen Versorgung wieder in den Vordergrund rückt. „Das heißt: Krankenhäuser können künftig in regionalen Planungsverfahren einen Antrag für das Angebot einer bestimmten medizinischen Leistung stellen. Voraussetzung dafür ist, dass sie die vorgegebenen Qualitätsanforderungen des neuen Krankenhausplans erfüllen“, erklärt eine Sprecherin des Ministeriums gegenüber dem Rheinischen Ärzteblatt. Dazu gehören neben einer Mindestzahl an Fachärztinnen und -ärzten zum Beispiel eine bestimmte technische Ausstattung oder die Vorhaltung spezieller Abteilungen wie Intensivmedizin oder Geriatrie.
Darüber hinaus solle die Zuweisung von Leistungen so geplant werden, dass diese für die Bürgerinnen und Bürger im ganzen Land günstig erreichbar seien. Gesundheitsminister Laumann hatte vor kurzem betont, 90 Prozent der Bevölkerung müssten innerhalb von 20 Autominuten ein Krankenhaus erreichen können, und sich damit Forderungen der Ärzteschaft und der Krankenhäuser zu eigen gemacht.
Das Ministerium räumt ein, dass es durch die Neuordnung der Krankenhausplanung zur Schließung von Abteilungen oder ganzen Krankenhäusern kommen kann. „Es ging bei der Planung jedoch nie um einen Kahlschlag“, betont die Ministeriumssprecherin. Es gehe allein darum, sinnvolle Strukturen zu schaffen, um eine effiziente Krankenhausplanung und die bestmögliche Qualität der medizinischen Versorgung zu erreichen. Diese müsse sich auch am regionalen Bedarf ausrichten. „Krankenhäuser sind Daseinsvorsorge“, so die Sprecherin. 
Die Krankenhauslandschaft verändere sich bereits heute – allerdings ungeplant. Viele Krankenhäuser stünden unter einem erheblichen wirtschaftlichen Druck und konkurrierten um Fachkräfte. Dies führe bereits heute zu Schließungen, die gerade in ländlichen Regionen teilweise die wohnortnahe Versorgung gefährdeten.
Wie wichtig ein gut funktionierendes Gesundheitssystem ist, hat dem Ministerium zufolge die COVID-19-Pandemie verdeutlicht. „Durch die Pandemie zeigt sich zum Beispiel, wie wichtig es ist, über das Land verteilt genügend Intensivbetten vorhalten zu können“, heißt es aus dem Ministerium. Dies werde auch bei der neuen Planung berücksichtigt werden. 
Was die Neuausrichtung der Krankenhausplanung im Einzelnen bedeutet, haben die Gutachter bereits im vergangenen Herbst vorgezeichnet. Statt chirurgischer Betten sollen künftig Leistungsgruppen geplant werden, die so kleinteilig sein können, dass sie im Wesentlichen eine Leistung beinhalten wie zum Beispiel die Knie- oder die Hüft-TEP. Das könnte dazu führen, dass ein Krankenhaus künftig nach neuer Planung zwar Hüft-TEPs einsetzen darf, aber keine Knie-TEPs. 
Die Leistungsgruppen sollen „exklusiv“ vergeben werden: „Die den jeweiligen Leistungsgruppen zugehörigen Leistungen dürfen nur erbracht werden, wenn diese im Feststellungsbescheid zugewiesen wurden“, heißt es dazu im Entwurf des KHGG. Dies erfordert eine eindeutige Definition. Die Gutachter hatten eine Zuordnung über das DRG-System vorgeschlagen. Aus ärztlicher Sicht war dieser Vorschlag jedoch von Anfang an kritisiert worden – nicht nur wergen der verbreiteten Kritik am DRG-System, sondern auch wegen methodischer Probleme. Der Gesetzentwurf sieht nun eine Definition über OPS-Codes, ICD-Codes oder „andere geeignete Merkmale“ vor. 
Allerdings kann man nach Ansicht der Experten nicht 100 Prozent des Leistungsspektrums über OPS-Codes abbilden und damit quasi jeden Handgriff im Krankenhaus planen. Deswegen werde am Ende ein Mischsystem stehen. Das heißt, ein Teil des Leistungsspektrums wird kleinteilig über OPS/ICD-Codes geplant, für den Rest bleiben weiterhin die Inhalte der ärztlichen Weiterbildungsordnung ausschlaggebend. Alle Leistungsgruppen werden außerdem übergeordneten Leistungsbereichen zugeordnet. Auch diese Leistungsbereiche folgen der Struktur der Weiterbildungsordnung. 
Die weitgehende Orientierung an der Weiterbildungsordnung ist Mitrenga-Theusinger wichtig. Sie betont außerdem, dass die durch die Reform der Krankenhausplanung angestrebte Schwerpunktbildung an den Kliniken nicht dazu führen darf, Weiterbildungswege zu fragmentieren. „Deshalb müssen die Krankenhäuser verbindliche Weiterbildungskooperationen schließen“, sagt die Vorsitzende der Krankenhauskommission.
Da der neue Krankenhausplan unter den Bedingungen des DRG-Systems umgesetzt werden muss, plädiert sie zudem für ein pragmatisches Vorgehen, um Verwerfungen zu vermeiden. „Man kann zunächst mit moderaten Änderungen einsteigen und dann in einem lernenden System Anpassungen vornehmen, indem man beispielsweise neue Leistungsgruppen aufnimmt oder Qualitätskriterien weiterentwickelt“, so Mitrenga-Theusinger. 
Genau hier setzt die KGNW an. Sie betont zwar, dass man die „völlig neue Ausrichtung der Krankenhausplanung“ stets konstruktiv begleitet habe. Der angestoßene Planungsprozess dürfe aber nicht dazu führen, dass Kapazitäten abgebaut werden, die später mühsam wiederaufgebaut werden müssten und dass Krankenhäuser nach Umsetzung der Pläne nicht mehr wirtschaftlich geführt werden könnten, sagt deren Sprecher Lothar Kratz. Er würde es zudem begrüßen, wenn es gelänge, im Zuge des geplanten Strukturwandels die Sektorengrenze zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu überwinden und Krankenhäuser als Gesundheitszentren oder medizinisch-pflegerische Versorgungszentren für ambulante Versorgungsangebote zu öffnen. 
 

Es geht nicht um einen Kahlschlag

Müssten dennoch Abteilungen oder ganze Krankenhäuser geschlossen werden, dürfe man die Krankenhausträger nicht im Regen stehen lassen, fordert Kratz. Denn meist ist das von massiven Bürgerprotesten begleitet, die die Lokalpolitik unter Druck setzen und nicht selten einen Strukturwandel verhindern. Landespolitiker und auch Krankenkassenvertreter müssten sich in solchen Fällen öffentlich und vor Ort zu ihrer Verantwortung bekennen, so Kratz. Dem möglichen Eindruck, dass bei der Weiterentwicklung der Krankenhausstrukturen der Aspekt des Kapazitätsabbaus im Vordergrund stehe, müsse konsequent begegnet werden.
Mehr Effizienz und eine bessere Qualität der medizinischen Versorgung verspricht sich die AOK Rheinland/Hamburg von der neuen Leistungsplanung. Sie ist eine der mitgliederstärksten Krankenkassen in NRW. Ein rein ökonomisch getriebener Wettbewerb um Patientenzahlen, eine unzureichende Personalbesetzung in kritischen Bereichen sowie eine fragmentierte Leistungserbringung seien nur einige bekannte Defizite der derzeitigen Krankenhauslandschaft, kritisiert Vorstandsmitglied Matthias Mohrmann gegenüber dem Rheinischen Ärzteblatt. Dass jedes Krankenhaus alles in gleich guter Qualität anbieten könne, sei eine Mär. 
Die klare Zuweisung von Versorgungsaufträgen ermögliche zukünftig zudem eine zielgenauere Förderung von Investitionen und Großgeräten. In diesem Zuge könnten auch die erheblichen Rückstände in der Digitalisierung endlich aufgeholt werden. Die geplante Reform ermögliche Strukturveränderungen, ohne die wohnortnahe Versorgung zu gefährden. 
Einfach wird deren Umsetzung aus Sicht von Mohrmann jedoch nicht. „Vielfach hält sich in der Laienöffentlichkeit der Eindruck, alle Krankenhäuser seien gleich gut“, sagt der Kassenmanager. Mangelnde Qualitätstransparenz und ausgeprägte Beharrungskräfte verhinderten aus medizinischer Sicht längst überfällige Reformen. Bei der Umsetzung der neuen Krankenhausplanung werde es deshalb darum gehen, die mit den Veränderungen verbundene Verbesserung der Versorgungsqualität auch für die Bevölkerung anschaulich zu machen. Ein einfaches „Weiter so“ aus Scheu vor kontroversen Diskussionen dürfe es nicht geben.
Am Geld dürfte die Umsetzung der Reform diesmal nicht scheitern. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie haben Bund und Länder den Krankenhäusern zuletzt viele Milliarden Euro für notwendige Investitionen zugesagt – Mittel, die idealerweise auch in notwendige Strukturreformen fließen könnten (siehe Kasten „Milliardenspritze für die Krankenhäuser“). Das NRW-Gesundheitsministerium will den Entwurf des neuen Krankenhausplans jedenfalls bis Ende des Jahres fertigstellen. Im ersten Quartal 2021 soll er im Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales beraten werden. Im Anschluss daran sind die ersten regionalen Planungsverfahren vorgesehen.

Milliardenspritze für die Krankenhäuser

Im Rahmen des Krankenhaus-zukunftsfonds der Bundesregierung erhalten die Krankenhäuser in  Nordrhein-Westfalen insgesamt 900 Millionen Euro, 630 Millionen Euro vom Bund und 270 Millionen Euro vom Land. Diese Mittel sollen vorwiegend für Digitalisierung und Cybersicherheit eingesetzt werden. Zusätzlich wurden den Kliniken von der Landesregierung im Zuge eines „NRW- Konjunkturprogramms“ weitere zwei Milliarden Euro für dringend notwendige Investitionen zur Verfügung gestellt. 
Um die Folgen der Corona-Pandemie abzufedern, erhielten die Krankenhäuser mit dem Krankenhaus-entlastungsgesetz seit Ende März pro freigehaltenem Bett zunächst eine Pauschale von 560 Euro. Seit 1. Juli 2020 liegt diese Freihaltepauschale für COVID-19-Patienten zwischen 360 Euro und 760 Euro.