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Mehr Geduld in Corona-Zeiten

23.10.2020 Seite 16
RAE Ausgabe 11/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 11/2020

Seite 16

  • Nur am Handy: Während der Zeit des Lockdowns war das Smartphone für viele Jugendliche die einzige Möglichkeit, mit ihrem Freundeskreis zu kommunizieren. Laut Dr. Gabriele Komesker, Leiterin der Kinderschutzambulanz am Evangelischen Krankenhaus in Düsseldorf, sind die Kontakte zur Peergroup vor allem in der Pubertät die wichtigsten und nicht zu ersetzen. © Photographee.eu/ stock.adobe.com
  • Homeoffice und Corona-Ferien: Für viele Familien stellte die neue Situation in den eigenen vier Wänden eine enorme Herausforderung dar. „Das Klima in vielen Haushalten war sehr angespannt durch die Einschränkungen“, sagte Komesker. © Rafael Ben-Ari/stock.adobe.com
Am 16. März schlossen bundesweit alle Schulen und Kindertagesstätten ihre Pforten ebenso wie Jugendklubs. Spielplätze wurden abgesperrt, Kontakte auf den eigenen Haushalt beschränkt. Nicht alle Familien konnten mit dieser Situation umgehen.

von Vassiliki Latrovali

Für Kinder und Jugendliche bedeutete der wochenlange Lockdown einen gewaltigen Umbruch. Ihr soziales Umfeld außerhalb der Familie brach weg. Viele waren physischer und psychischer Gewalt in den eigenen vier Wänden ausgeliefert. Ärztinnen und Ärzte sprachen bereits im Mai von möglicherweise schwerwiegenden Folgen, denn Kinder und Jugendliche erleben die Corona-Pandemie ganz anders als ihre Erziehungsberechtigten. Auch die Zwischenergebnisse der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik des Bundesfamilienministeriums über Verdachtsfälle möglicher Kindeswohlgefährdung während der Zeit des Lockdowns zeigen, dass Sorgentelefone und Online-Beratungsangebote vermehrt in Anspruch genommen wurden.
„Während des Lockdowns ist vermutlich bei vielen Kindern und Jugendlichen das Gefühl aufgekommen: ,Das bleibt jetzt für immer so. Wie sollen wir das nur aushalten?‘ Auch wenn sie vom Intellekt her genau wussten, das stimmt nicht. Ihnen fehlten vor allem ihre Freunde und auch der Gewinn durch Zeit für sich und für lange aufgeschobene Dinge machte das nicht wett. Selbst die Erwachsenen haben sich ja mit den Einschränkungen schwergetan“, sagt Dr. Gabriele Komesker, Leiterin der Kinderschutzambulanz am Evangelischen Krankenhaus (EVK) in Düsseldorf. Als Erwachsener sei man besser in der Lage, sich trotz Homeoffice einen geregelten Tages-ablauf zu schaffen und sich Beschäftigungen zu suchen, auch ohne den gesamten Freundeskreis. „Bei Kindern und Jugendlichen fehlte der Austausch mit Gleichaltrigen, bei dem man ja auch Frust ablassen kann und sich gegenseitig entlastet, wenn es zu Hause oder in der Schule mal nicht so gut läuft“, erklärt die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.

Kontakte zu Gleichaltrigen nicht ersetzbar

Besonders in der Pubertät seien die Kontakte zur Peergroup die wichtigsten. „Jugendliche möchten miteinander abhängen, sich nahekommen. Das wurde ihnen von jetzt auf gleich genommen und hat sicherlich das Gefühl der Einsamkeit bei vielen verstärkt“, sagt Komesker. Kinder und Jugendliche, denen es bereits vor der Corona-Pandemie schwergefallen sei, Freundschaften zu schließen und zu erhalten, seien besonders durch Einsamkeit gefährdet: „Wenn ich nicht darauf vertraue, dass ich beziehungsfähig bin, können Kontaktbeschränkungen schnell Verlustängste schüren. ,Wieso meldet sich keiner bei mir? Mögen mich meine Freunde überhaupt noch?‘“
Auch den vermehrten virtuellen Kontakt über Soziale Medien sieht die Leiterin der Kinderschutzambulanz kritisch. „Soziale Medien waren bestimmt eine Hilfe in Zeiten der Kontaktbeschränkung, aber auch eben nicht für jeden. Dabei ist außerdem immer zu berücksichtigen, ob die Zeit vor den Bildschirmen kontrolliert und begrenzt wurde oder nicht. Je länger der ausschließlich virtuelle Kontakt anhält, Jugendliche förmlich darin aufzugehen scheinen, desto höher sehe ich die Wahrscheinlichkeit einer Abhängigkeit“, so Komesker. Ein weiterer Faktor, der es Kindern und Jugendlichen erschwert haben könnte, wieder in ihren geregelten Alltag zu finden, sei ein möglicherweise gestörter Tag-Nacht-Rhythmus durch deutlich zu spätes Schlafengehen und zu langes Ausschlafen. „Zusätzlich schwierig wird es bei diesen Szenarien, wenn Eltern oder Erziehungsberechtigte sich nicht ausreichend kümmern können.“

Keine Möglichkeit durchzuatmen

Der Lockdown habe den Kindern und Jugendlichen quasi sämtliche Ausweichmöglichkeiten genommen, um das, was zu Hause passiert, zu verarbeiten. „Es fehlte die Möglichkeit außerhalb, aber auch innerhalb der Familie durchzuatmen. Zudem fielen auch außenstehende erwachsene Ansprechpartner, wie Klassen- oder Vertrauenslehrer, plötzlich weg“, sagt die Ärztin. Die Auswirkungen der „Corona-Ferien“ hätten vor allem Kinder und Jugendliche getroffen, die aus sozial benachteiligten Familien kommen und wenig Ressourcen haben. „Es geht dabei nicht nur, aber auch um Materielles. Ein eigenes Zimmer, ein großer Garten sind natürlich etwas ganz anderes als eine kleine Wohnung mitten in der Stadt, in der sich drei Geschwister ein Zimmer teilen“, meint Komesker. Es gehe aber auch um Selbstvertrauen und einen starken familiären Zusammenhalt. „Es gibt sicherlich einige Familien, bei denen während des Lockdowns unterschwellige Konflikte zum Vorschein gekommen sind. Kinder und Jugendliche leiden dann mit und fühlen einen hohen Verantwortungsdruck, auch dann zum Beispiel, wenn ihre Eltern nicht mehr arbeiten konnten oder aber ständig arbeiten mussten, weil sie systemrelevante Berufe ausüben.“
Elterlicher Stress führe zwangsläufig zu Stress bei Kindern und Jugendlichen. „In der Zeit des Lockdowns hat die Belastung von Familien zugenommen und die Lebensqualität von Kindern hat nach deren eigener Einschätzung deutlich abgenommen. Aber die Szenarien sind sehr unterschiedlich. Aus unserer Arbeit lässt sich interpretieren, dass der Lockdown für die meisten Familien insgesamt eher schwierig war. Das Klima in vielen Haushalten war sehr angespannt durch die Einschränkungen“, sagt Komesker. In solchen Situationen hörten Eltern oft nicht richtig hin. „Viele waren mehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, empfanden die Kinder beispielsweise während der Arbeit im Home-office häufig als extrem herausfordernd.“ Nun sei es aber nicht so, dass Kinder und Jugendliche nicht gelernt hätten, Rücksicht zu nehmen. Wenn aber der einzige erwachsene Ansprechpartner nicht ansprechbar sei, gestalte sich das Miteinander schwierig. „In hitzigen Konfliktsituationen kommt es dann mitunter eher zur Anwendung von psychischer und/oder körperlicher Gewalt.“ So haben es betroffene Familien der Kinder- und Jugendpsychiaterin berichtet.
Für viele Familien sei es hilfreich gewesen, dass sich die Hilfsangebote im Verlauf der Pandemie erweitert hätten. „Oftmals ging es um Fragen wie: Was können wir als Familie unternehmen? Wie handhaben wir die ersten Lockerungen mit den Freunden unserer Kinder? Wir fühlen uns als Eltern überfordert, wer kann uns helfen?“, erklärt die Ärztin und führt fort: „Das waren sicherlich alles gute Lösungen, aber es ist natürlich nicht perfekt. Kinder und Jugendliche begreifen sehr wohl, dass es sich bei COVID-19 um eine ernstzunehmende Infektionskrankheit handelt, aber der Wunsch, unter sich zu sein, ist eben größer und das müssen wir Erwachsenen akzeptieren. Ich spreche mich da ganz klar für die Kinder und Jugendlichen und eine höhere Priorisierung ihrer Bedürfnisse aus.“