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Praxis

„Kein Einsatz ohne Indikation“

25.03.2020 Seite 24
RAE Ausgabe 4/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 4/2020

Seite 24

Seit ihrer Entdeckung gelten Antibiotika als das wichtigste Instrument der Medizin gegen bakterielle Infektionen. Doch häufig erhalten oder fordern Patientinnen und Patienten Antibiotika, obwohl keine bakterielle Genese vorliegt. In den vergangenen Jahrzehnten hat dies weltweit zu einer enormen Resistenzentwicklung geführt. Eine Fortbildungsveranstaltung des Instituts für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN) widmete sich dem Umgang mit Antibiotika im Praxisalltag.

von Vassiliki Latrovali

In Nordrhein-Westfalen werden zehn Prozent mehr Antibiotika verordnet als im Bundesdurchschnitt. Das sagte Dr. Carsten König M. san., Stellvertretender Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein, auf einer Veranstaltung des Instituts für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN) Mitte Februar im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf. „Wir haben in Deutschland ein Ost-West-Gefälle bei der Antibiotikaverordnung. In den neuen Bundesländern werden deutlich weniger Antibiotika eingesetzt als im Westen“, sagte König vor rund 200 Ärztinnen und Ärzten. Ziel sei deshalb, sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch Patientinnen und Patienten besser und genauer zu informieren. „Natürlich fordern manche Patienten eine Antibiotikabehandlung förmlich ein, aus dieser Situation muss man sich erstmal herauszunavigieren wissen“, so König. Ärztinnen und Ärzte müssen sich der Konsequenzen einer unnötigen Verschreibung bewusst sein. In NRW gebe es viele Aktionen, wie die aktuelle Antibiotikawoche des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW oder das RESIST-Projekt (kurz für: Resistenzvermeidung durch adäquaten Antibiotikaeinsatz bei akuten Atemwegsinfektionen) der KV Nordrhein. „Es geht nicht darum, die Leute zu belehren, sondern um die Verbreitung wichtiger, evaluierter Informationen, die dem Wohl der gesamten Bevölkerung dienen“, erläuterte der Düsseldorfer Allgemeinmediziner. 

Dr. rer. nat. Holger Neye, Leiter der Abteilung Pharmakotherapieberatung der KV Nordrhein, stellte erste Ergebnisse des RESIST-Projektes vor. „Bundesweit werden weniger Antibiotika verordnet“, so Neye. Wichtig sei daher doch, die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen in Nordrhein verstärkt zu sensibilisieren. Ärztinnen und Ärzte, die am RESIST-Programm der KV Nordrhein teilgenommen haben, entschieden sich im Vergleich zu den Kolleginnen und Kollegen ihrer Fachgruppe deutlich häufiger gegen eine Antibiotikavergabe, so Neye: „Die am Projekt teilnehmenden Mediziner konnten ihre Verordnungsrate während der Influenzasaison 2018 im Vergleich zum Vorjahr senken.“ So könne langfristig  ein verantwortungsvollerer Umgang mit Antibiotika gefördert und weitere Antibiotika-Resistenzen können vermieden werden. Rund 320 nordrheinische Ärztinnen und Ärzte haben laut Neye in den vergangenen drei Jahren an der Online-Schulung teilgenommen. „Seit dem zweiten Quartal 2019 können Ärztinnen und Ärzte über das Portal der KV Nordrhein zudem eine praxisindividuelle Auswertung ihrer Antibiotikaverordnungen einsehen. Auf diese Weise hat man einen guten Überblick über Standard- oder Reserveantibiotikaverordnungen und kann die Werte mit denen der Fachgruppe vergleichen“, so Neye. 

„Wenn es in zwei bis drei Tagen nicht besser wird, kommen Sie bitte wieder.“

Laut Dr. André Schumacher, Facharzt für Allgemeinmedizin aus Düsseldorf, muss jeder Mediziner seine Antibiotikaverordnungen im Auge behalten und einen rationalen Einsatz anstreben. „Ich denke, jeder niedergelassene Arzt spricht den Satz ‚Wenn es in zwei bis drei Tagen nicht besser wird, kommen Sie bitte wieder‘ mehrmals am Tag aus. Auch das ist Teil unserer lokalen Resistenzvermeidung“, sagte Schumacher. Um Erkrankungen rankten sich immer noch gewisse Mythen. „Es gibt Patienten, die glauben, Fieber und grünes Sekret in der Nase deuteten ohne Zweifel auf eine bakterielle Infektion hin. Die kommen dann in die Praxis und wollen ein Antibiotikum. Viele Kolleginnen und Kollegen verschreiben auch eins“, sagte Schumacher. Um die Diagnose „bakterieller Infekt“ festzustellen, bedürfe es allerdings neben der Symptomatik und körperlicher Befunde auch eines Bluttests, eines CRPs oder sogar weiterer mikrobiologischer Befunde. „Es ist zu berücksichtigen, dass ein Antibiotikum vieles im Körper durcheinanderbringt. Es gibt Menschen, die hoch allergisch auf einige Wirkstoffe reagieren“, so Schumacher. Außerdem störe ein Antibiotikum häufig die Darmflora und schwäche mitunter das Immunsystem.

Resistenzen vermeiden

„Einige Experten schätzen, dass wir bis 2050 weltweit knapp zehn Millionen Tote durch Antibiotikaresistenzen verbuchen werden“, so Privatdozentin Dr. Norma Jung, Oberärztin der Klinik I für Innere Medizin am Universitätsklinikum Köln. „Wir müssen mehr valide Daten erheben und Investitionen fördern und auch die Produktion von Standardantibiotika vorantreiben, damit der Griff zu Reserveantibiotika verringert wird“, so die Ärztin. Wichtig sei, ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen und zusätzlich die Hygiene in ambulanten und stationären Einrichtungen weiter zu verbessern. „Um antibiotische Multiresistenzen zu vermeiden, muss man auch auf die Viehzucht und Landwirtschaft blicken“, sagte Jung.

Datenbank zu Antibiotikaresistenzen in Deutschland

Dr. Annegret Quade, Fachärztin für Transfusionsmedizin und Laboratoriumsmedizin sowie Ärztliche Leitung und Geschäftsführung des MVZ Quade und Kollegen, und Dr. Eva-Maria Moench, Fachärztin für Laboratoriumsmedizin und ABS-Expertin am MVZ Quade und Kollegen, stellten das ARS-Projekt (kurz für: Antibiotika-Resistenz-Surveillance) des Robert Koch-Instituts vor. Seit 2008 werden im Rahmen des Projektes Resistenzdaten für alle klinisch relevanten Erreger erhoben. 2018 nahmen bundesweit 389 Krankenhäuser und 16.016 ambulante Einrichtungen freiwillig am Projekt teil. Laboratorien aus ganz Deutschland werten die Proben aus den medizinischen Versorgungseinrichtungen und Arztpraxen mikrobiologisch aus. Nach Überprüfung und Freigabe der gesammelten Daten durch die Labore werden diese in den Referenzdatenpool von ARS aufgenommen und tagesgleich bereitgestellt. 

Weitere Informationen erhalten Sie auf https://ars.rki.de/.

Oberstes Gebot ist ihrer Meinung nach: „Kein Einsatz ohne Indikation“. Es gebe fünf Szenarien, bei denen in der Vergangenheit häufig Antiinfektiva ohne Indikation eingesetzt wurden. Dazu gehörten die akute Bronchitis, Candida im Trachealsekret oder Stuhl, eine verlängerte peri-operative Prophylaxe, eine asymptomatische Bakterirurie sowie eine lediglich isolierte CRP-Erhöhung ohne klinischen Anhalt für eine Infektion. Die „Klug Entscheiden-Kampagne“ der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V. (DGIM) in Anlehnung an die US-amerikanische „choosing wisely-Kampagne“ sei initiiert worden, um  auch in Deutschland ein Umdenken beim Verschreiben von Antibiotika zu beschleunigen. Besonders bei diesen fünf Szenarien werden heutzutage seltener Antibiotika eingesetzt. „Innerhalb Europas ist die Antibiotikavergabe aber leider immer noch recht uneinheitlich. In vielen Ländern bekommt man Antibiotika ohne Rezept in der Apotheke“, so Jung.

„Mich schauen gerade mehr Bakterien und Keime an als Menschen“, begrüßte Professor Dr. André Gessner, Direktor des Instituts für Mikrobiologie, Hygiene und Mikrobiomforschung der Universität Regensburg, die Teilnehmer. 

Klein, kleiner, Mikrobiom

An und im Körper gebe es lauter gesunde Bakterien, Pilze, Keime und Einzeller – unser Mikrobiom. Sie helfen dem Menschen zum Beispiel, Vitamine zu produzieren, so Gessner. Das Darmmikrobiom, häufig fälschlicherweise als Darmflora bezeichnet, schütze uns beispielsweise vor diversen Krankheitserregern. Es hat Gessner zufolge bei vielen Erkrankungen sogar größeren Einfluss als das Patientengenom. „Krankheiten, Auslandsreisen, Ernährungsumstellungen und Alkohol- und Drogenkonsum können diese Welt sehr schnell ins Schwanken bringen. Das gilt auch für Antibiotika“, sagte Gessner. Auf lange Sicht müsse man Antibiotikaverordnungen stark reduzieren, um eine unnötige Schädigung oder gar Veränderung unserer Mikrobiome zu verhindern. Heutzutage berge auch unsere Nahrung Risiken: „Die meisten Menschen haben bereits diverse Resistenzen, auch wenn sie noch nie ein Antibiotikum eingenommen haben“, so Gessner. Grund ist ihm zufolge die Viehzucht. „Ein Huhn beispielsweise bekommt in seinem kurzen Leben von knapp 35 Tagen 2,3-mal Antibiotika.“ Man gebe den Tieren Antibiotika, um durch eine sogenannte Mikrobiom-Verschiebung eine Gewichtszunahme hervorzurufen. „Diese Methode ist eigentlich illegal. Doch wenn eines der Tiere erkrankt, muss die gesamte Herde mit therapiert werden. Alle haben dann ein verändertes Mikrobiom, das sie schneller wachsen lässt“, sagte Gessner.