Vorlesen
Praxis

Ein Beipackzettel fürs Trinkwasser?

23.01.2020 Seite 20
RAE Ausgabe 2/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 2/2020

Seite 20

Dieses Mädchen freut sich auf einen kräftigen Schluck Wasser aus dem Hahn. © Igor- stock.adobe.com
Noch bewegt sich das Problem im geringen ZehntelMikrogrammBereich, aber es ist in der Welt: 269 Arzneimittelwirkstoffe oder deren Abbauprodukte sind inzwischen in bundesdeutschen Gewässern nachgewiesen worden. Auf die Gesellschaft kommen möglicherweise horrende Ausgaben für eine intensivere Klärung von Abwässern zu. Und die Frage: Wer wird dafür zur Kasse gebeten werden? Die Pharmaindustrie? Die Kliniken? Oder gar verschreibende Niedergelassene?

von Bülent Erdogan

Gehören auch Sie zu den Menschen, die ohne zu zögern folgenden Satz unterschreiben würden: „Man kann nie früh genug damit anfangen!“ Wenn dem so ist, dann haben Sie womöglich im Dezember eine für Sie hochspannende Veranstaltung im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf verpasst. Organisiert hatte diese das Netzwerk Umweltmedizin Nordrhein. Etwa 40 Ärztinnen und Ärzte aus dem Rheinland informierten sich am Beispiel der Frischwasserversorgung Düsseldorfs und der Abwasserbehandlung der  Emschergenossenschaft/Lippeverband über die Qualität des wichtigsten Lebensmittels – und über die Kardinalfrage: Können wir auch künftig einen kräftigen Schluck Wasser aus der Leitung trinken, ohne uns mit Medikamentenrückständen zu belasten?

Die Antworten, die Christoph Wagner und Dr. Issa Nafo als Experten beider Einrichtungen der Wasserwirtschaft gaben, mögen auf den ersten Blick beruhigen. Man müsse schon 70 Jahre lang zwei Liter Leitungswasser täglich zu sich nehmen (beim Wirkstoff Ibuprofen wären es gar 5.500 Jahre), um eine therapeutische Dosis Diclofenac aufzunehmen, einem vor allem als Salbe angewendeten und frei verkäuflichen Blockbuster gegen Schmerzen. 90 Tonnen gehen davon als sogenanntes OTCPräparat jährlich „Over The Counter“. Etwa 60 Prozent davon gehen nicht in den Körper über, sondern werden bei der nächsten Dusche abgewaschen und gelangen in die aquatische Umwelt. Röntgenkontrastmittel rauschen nicht nur durch die Leber, sondern passieren auch die Kläranlage, weil der Stoff dem Wasser die Treue hält und nicht vollständig vom teuren Aktivkohlefilter adsorbiert wird.

Auch das Umweltbundesamt (UBA) kommt zum Schluss: „Die gemessenen Konzentrationen der Arzneimittelwirkstoffe in der Umwelt liegen in der Regel unterhalb der therapeutischen Dosen der Arzneimittelprodukte.“ Eindeutig festlegen will man sich auch beim UBA aber offensichtlich nicht: „Damit ist jedoch für die Umwelt keine Entwarnung gegeben. Denn obwohl Arzneimittel zu den humantoxikologisch am besten untersuchten Stoffen zählen, sind die ökotoxikologischen Folgen der vergleichsweise geringen, dafür jedoch permanenten Belastung der Gewässer und des Bodens mit Arzneimittelresten weitgehend unbekannt.“

Auch Wagner und Nafo warnten unisono vor steigenden „Störstoffeinträgen“ infolge einer alternden Bevölkerung und einer erwarteten Steigerung der Nachfrage nach Arzneimitteln um 70 Prozent bis zum Jahr 2045. Man sehe sich als Wasserversorger und als Abwasserentsorger „erheblichen Herausforderungen“ ausgesetzt. Wagner: „Wir wollen als Versorger nicht den Weg gehen müssen, als Reparaturbetrieb am Schluss jeglichen Aufwand und jegliche Technik betreiben zu müssen, um das Wasser sauber zu machen. Wir wollen an der Eintragsseite ansetzen.“

Der Gesundheitliche Orientierungswert (GOW) von 0,1 Mikrogramm je Liter (µg/l) schafft jedenfalls ein Aufgreifkriterium und hat bereits zu Diskussionen um weitere, kostspielige Klärstufen geführt. Bange machen ist zwar nicht angesagt, Wegschauen hilft allerdings auch nicht. Und die Fragen spuken bereits in den Köpfen herum: Müssen zum Beispiel Hersteller von Röntgenkontrastmitteln zu jedem Beutel eines Tages Entsorgungstütchen mitliefern, die mit einem Streu befüllt sind und für die ersten 24 Stunden das kontrastmittelbelastete Urin des untersuchten Patienten aufnehmen sollen, damit es in der Müllverbrennung entsorgt werden kann? Müssen Kliniken eines Tages eventuell eigene Klärwerke betreiben? Und wird Ärzten ein Teil vom Honorar abgeknapst werden, wenn sie ökotoxikologisch bedenkliche Wirkstoffe verschreiben und nicht auf das biologisch unbedenkliche Präparat wechseln? Aber was, wenn keines da ist oder dieses das Arzneimittelbudget sprengt?

Röntgenkontrastmittel führen Liste an

In Deutschland werden laut Umweltbundesamt (UBA) derzeit mehr als 2.300 Wirkstoffe in der Humanmedizin mit einer jährlichen Verbrauchsmenge von mehr als 30.000 Tonnen verkauft. „Und es ist in den kommenden Jahrzehnten mit einem steigenden Verbrauch zu rechnen, da sich der Anteil älterer Menschen weiter erhöhen wird“, so das UBA. Für Heim und Nutztiere seien circa 450 Wirkstoffe zugelassen. Von diesen Wirkstoffen werden etwa 1.200 vom Umweltbundesamt als umweltrelevant eingestuft. Als nicht umweltrelevant erachtet das UBA zum Beispiel natürliche Stoffe wie Vitamine, Elektrolyte, Aminosäuren, Proteine und Peptide. „Das Besondere an Humanarzneimitteln ist, dass sie mit den menschlichen Ausscheidungen kontinuierlich in die Abwässer gelangen und ein Großteil in den Kläranlagen nicht eliminiert wird. Damit erfolgt ein steter Eintrag von Arzneimittelstoffen in die Umwelt, wenn auch in relativ geringen Mengen.“ Bisherige Ergebnisse aus Forschungsprojekten und speziellen Messprogrammen der Länderbehörden zeigten, dass in Deutschland 269 verschiedene Arzneimittelwirkstoffe oder deren Abbauprodukte in der Umwelt nachgewiesen worden seien. „Sie wurden meist in Flüssen, Bächen oder Seen gemessen.“ In den meisten Fällen lägen die Konzentrationen im Bereich von 0,1 bis ein Mikrogramm pro Liter (µg/l). Die Umweltmediziner weiter: „Das Spektrum der gefundenen Wirkstoffe ist groß. Am häufigsten werden Antiepileptika, Blutdrucksenker und Schmerzmittel sowie Antibiotika und Betablocker gefunden. Die höchsten Konzentrationen ließen sich für Röntgenkontrastmittel nachweisen.“

„Wir haben eine zunehmende Spurenstoffdiskussion in der EU und in Deutschland“, sagt Wagner. Diskutiert würden zum Beispiel höhere Zulassungshürden für Medikamente oder eine Bewertung anhand von Verfahren, wie sie mit der EUChemikalienverordnung REACH auch für die chemische Industrie etabliert worden seien. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wann, ich kann Ihnen nur sagen, dass es eines Tages Restriktionen geben wird.“
Aktuell setzen Wagner und Nafo lieber auf eine Sensibilisierung aller Akteure in der Herstellung, dem Inverkehrbringen, dem Verbrauch von Arzneimitteln und deren Entsorgung. Wagner: „Wir wollen gern in einen Dialog eintreten.“ Die Idee, den Ärzten Verschreibungsvorschläge zu unterbreiten, habe man inzwischen verworfen, weil man hierfür schlicht nicht die Expertise habe. Langfristig drohten indes weitere Klärstufen, die ins Kontor schlagen würden. Wagner: „Wo soll das irgendwann hinführen?“ Mit Blick auf Medikamentenreste der Prviathaushalte hatte Nafo einen klaren Rat: „Ganz einfach in die schwarze Tonne damit.“

„Trinkwasser ist und bleibt ein sehr sauberes Lebensmittel“, sagte Dr. Herbert Lichtnecker, Facharzt für Arbeitsmedizin und DiplomChemiker, der die 22. Sitzung des Netzwerks Umweltmedizin leitete. Lichtnecker erinnerte an seit Jahrzehnten bestehende und tolerierte Expositionen der Bevölkerung mit DDT, Benzodioxinen und Benzofuranen.

Kontakt zum Netzwerk Umweltmedizin: Stefanie Esper, Mail: Stefanie.Esper(at)aekno.de, Tel.: 0211 43022204. www.aekno.de/aerzte/netzwerkumweltmedizin