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Diagnose: Selten

27.02.2020 Seite 14
RAE Ausgabe 3/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 3/2020

Seite 14

Etwa eine Million Menschen in Nordrhein-Westfalen leidet an Krankheiten, die lediglich eine Prävalenz von eins zu 2.000 aufweisen und daher als „Seltene Erkrankungen“ bezeichnet werden.

von Ulrike Schaeben

Seltene Erkrankungen sind nicht so selten und hinterlassen aufgrund ihrer Komplexität und der häufig langen Dauer bis zur Diagnosefindung durchaus markante Spuren im Gesundheitssystem. Das zeigte eine Fortbildung der Kreisstellen Kreis Aachen und Stadtkreis Aachen der Ärztekammer Nordrhein und des Zentrums für Seltene Erkrankungen der RWTH Uniklinik Aachen im niederländischen Vaals im Dreiländereck.
Eine Seltene Erkrankung auf Anhieb zu erkennen kann schwierig sein, da Ärzte im Verlauf ihres Berufslebens rein statistisch selten mit einer spezifischen Seltenen Erkrakung konfrontiert sind. Im Praxisalltag ist die Herausforderung groß, aus scheinbar rätselhaften Befunden die richtigen Schlüsse zu ziehen und die korrekte Diagnose zu stellen. „If you hear hoofbeat, think of horses, not zebras“ – diese vor knapp 80 Jahren geprägte Faustregel des amerikanischen Medizinprofessors Theodore Woodward erweist sich in Zeiten von ICDs, DRGs und Budgetierung als zutreffender denn je: Der Schlüssel zu einer effizienten Diagnosefindung liegt nach dieser Formel darin, zuerst das Naheliegende und nicht das Ausgefallene in den Blick zu nehmen.

Doch aus dem zitierten „Zebra“ wird schnell eine Herde, wenn man die Zahlen auf mehr als 82 Millionen Einwohner in Deutschland hochrechnet: In Europa spricht man dann von einer Seltenen Erkrankung (SE), wenn weniger als einer von 2.000 Einwohnern betroffen ist. Man zählt heute circa 7.000 bis 8.000 Krankheits-Entitäten, die unter diese Definition fallen. Das führt dazu, dass es in Deutschland schätzungsweise vier Millionen Patienten mit einer Seltenen Erkrankung gibt, davon knapp eine Million in Nordrhein-Westfalen. Die Gesamtzahl der Patienten ist also groß und in der Summe sind Seltene Erkrankungen häufig. Bedingt durch die Zunahme medizinischen Wissens und neuer molekularbiologischer Analysemethoden ist außerdem die Zahl der bekannten SE und damit auch die Anzahl der Patienten mit einer diagnostizierten Erkrankung in den vergangenen Jahren insgesamt gestiegen.

Schätzungsweise vergehen im Schnitt drei bis vier Jahre, bis die Betroffenen die Diagnose einer Seltenen Erkrankung erhalten. Die vorangegangene Odyssee durch das Gesundheitssystem kann nicht nur die Budgets, sondern vor allem die Psyche des Patienten belasten, der nicht selten als „hoffnungsloser Fall“ oder gar Hypochonder erscheint.

Spezialisierte Versorgung

In Forschung und Politik wurden die „Seltenen“ lange vernachlässigt, die Betroffenen waren mit einem hohen Maß an psychologischer, sozialer und wirtschaftlicher Anfälligkeit und wenigen Informationen über ihre Krankheit und die Therapiemöglichkeiten gesellschaftlich marginalisiert. Doch seit etwa zehn Jahren ist in Deutschland Bewegung in diesem Feld: 2010 wurde auf Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) zusammen mit der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE e.V.) das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) gegründet. Es vernetzt Forscher mit Ärzten und führt bestehende Initiativen sowie Informationen für Ärzte und Patienten zusammen. 2013 wurde ein Nationaler Aktionsplan mit insgesamt 52 Maßnahmen zur Lösung der drängendsten Probleme von Betroffenen und deren Angehörigen verabschiedet; abrufbar auf www.namse.de. Ende 2019 legte der Gemeinsame Bundesausschuss schließlich eine Richtlinie vor, die Regelungen zur Konkretisierung der besonderen Aufgaben von Zentren und Schwerpunkten gemäß § 136c Absatz 5 SGB V vorsieht.

 

Mit der Bildung von Fachzentren soll Expertise gebündelt und die Erforschung Seltener Erkrankungen unterstützt werden mit dem Ziel, die Patienten möglichst schnell an das für sie passende Zentrum zu lotsen. Der Plan stützt sich auf eine dreigliedrige Zentrenstruktur (A, B und C) aus zertifizierten Referenzzentren sowie Fach- und Kooperationszentren, die interdisziplinär arbeiten sollen. Die A-Zentren an den Universitätskliniken sollen als Anlaufstelle für Patienten bei unklaren Diagnosen fungieren und sollen die weitere Versorgung koordinieren. Die auf bestimmte Krankheiten oder Krankheitsgruppen spezialisierten B-Zentren – diese können in ein A-Zentrum integriert aber auch eigenständig sein – sollen die krankheitsübergreifende Versorgung organisieren, Gemeinschaftspraxen als C-Zentren die ambulante Versorgung übernehmen.

„Dr. House“ lässt grüßen?

Das Zentrum für Seltene Erkrankungen an der Uniklinik RWTH Aachen (ZSEA) wurde 2013 gegründet. Das Team unter der Leitung des koordinierenden Geschäftsführers Dr. rer. nat. Christopher Schippers widmet sich den Krankengeschichten von Patienten, die von niedergelassenen Kollegen an es überwiesen werden. Ist die Diagnose unbekannt, setzen die drei ZSEA-Ärztinnen Daniela Volk, Dr. Anja Doll und Margret Niessen da an, wo andere mit ihrem Latein am Ende sind: Ähnlich wie ein Ermittler Indizien an Tatorten sammelt, um den Täter zu überführen, suchen sie versteckte Hinweise in den Krankenakten und betrachten Anamnesen und Befunde, um dem Auslöser der unerklärlichen Beschwerden auf die Spur zu kommen. Ist die Diagnose bereits bekannt, vermitteln sie den Patienten direkt an den passenden Spezialisten im Zentrumsverbund, aber auch an Kollegen außerhalb.

„Immer, wenn Sie nicht nur ein Symptom, sondern ein Syndrom haben, sollten Sie an eine Seltene Erkrankung denken.“

Dass die Arbeit im ZSEA weniger mit einer Krimiserie zu tun hat, als vielmehr das Ergebnis eines stringenten Konzepts ist, in dem die passenden Experten gezielt zum Einsatz kommen und ihr Wissen klug vernetzt wird, machte der Sprecher des ZSEA, Professor Dr. Jörg B. Schulz, in seinem Einführungsvortrag bei der von knapp 100 Teilnehmern besuchten Fortbildung in Vaals deutlich.

Als einen Indikator für die Abgrenzung einer Schweren Erkrankung zu anderen Krankheiten nannte Schulz Komplexität und Dauer: Seltene Erkrankungen sind schwerwiegend, oft chronisch und progredient fortschreitend. Sie sind häufig komplex und betreffen mehrere Organe. „Immer, wenn Sie nicht nur ein Symptom, sondern ein Syndrom haben, sollten Sie an eine Seltene Erkrankung denken“, führte der ZSEA-Sprecher aus. Da circa 80 Prozent der Seltenen Erkrankungen genetisch bedingt seien, finde sich ein großer Anteil der Betroffenen in der Pädiatrie und in der Genetik, jedoch manifestierten sich über die Hälfte erst im Erwachsenenalter.

Der Weg zur Diagnose

Der Zugang der Patienten zum Aachener Zentrum für Seltene Erkrankungen erfolgt nicht direkt, sondern über deren Hausarzt, der sich an die Geschäftsstelle des ZSEA wendet. Dieses Verfahren hat sich laut ZSEA bewährt, um beispielsweise Doppeluntersuchungen und -zuweisungen zu vermeiden. „Wir sind auf die Informationen angewiesen, die Sie bei der Erhebung der Anamnese und der Abklärung der Beschwerden gewonnen haben“, sagte Schulz an die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen im Auditorium gewandt. Die Arbeitsgemeinschaft der ZSE hat für anfragende Patienten einen Fragebogen entworfen und es gibt einen einseitigen ZSE-Anmeldebogen, der vom Hausarzt ausgefüllt werden sollte (abrufbar auf www.zsea.ukaachen.de). Anhand der bereitgestellten Unterlagen arbeiten die Kollegen im ZSEA den Fall auf und versuchen zur Diagnose zu kommen.

Wenn eine klare Verdachtsdiagnose vorliegt, wird der Patient an ein eigenes B-Zentrum weitergeleitet oder auch an andere Spezialisten außerhalb verwiesen. Kann keine klare Diagnose gestellt werden, wird der Patient einbestellt, um bei Bedarf weitere Untersuchungen durchzuführen.

Bei komplexeren Fragestellungen findet alle zwei bis drei Monate eine interdisziplinäre Fallkonferenz mit Spezialisten des Zentrums, aber auch unter Hinzuziehung externer Experten statt, in der man gemeinsam über das weitere Vorgehen berät. Es erfolgt in der Regel die Überweisung an ein Fachzentrum, die Empfehlung an ein anderes Zentrum oder die Weiterbehandlung im Hause.

Wie geht es für den Patienten weiter, wenn die Diagnose vorliegt? Dies hängt stark vom Grad der Erforschung der Krankheit, aber auch vom medizinischen Fortschritt ab. „Während man bisher häufig feststellen musste, dass es für das Syndrom zwar einen Namen, aber keine Therapie gibt, ist die Entwicklung in den vergangenen Jahren deutlich positiver“, so die Einschätzung des Leiters des ZSEA: „Wir erzielen heute therapeutische Erfolge, die bisher nicht vorhanden waren. Insbesondere wenn die Krankheit monokausal durch Mutationen in einem bestimmten Gen bedingt ist, wird heute eine gengerichtete Therapie möglich. Bei der Spinomuskulären Atrophie erreichen wir beispielsweise durch den Einsatz einer Antisense­Technik Meilensteine in der motorischen Entwicklung und Lebenserwartung, die wir bis heute nicht kannten.“

 

Doch klären die Experten an den Zentren wirklich jeden ungelösten Fall auf? Schulz goss ein wenig Wasser in den Wein: Aktuell betrage die Erfolgsquote bei Seltenen Erkrankungen circa 30 Prozent. Nicht hinter jedem Symptomkomplex, der nicht lösbar erscheine, verberge sich eine Seltene Erkrankung. In circa 50 Prozent der Fälle erwachsener Patienten liege keine somatische Erkrankung, sondern eine funktionelle Störung beziehungsweise eine psychische Ursache vor; doch auch diese Patienten benötigten eine Therapie.

Fall gelöst

ZSEA-Ärztin Daniela Volk machte bei der Fortbildung in Vaals den Auftakt zu den Fallvorstellungen aus verschiedenen Fachbereichen. Die von der Fachärztin für Neurologie präsentierte seltene Diagnose eines Glukosetransporter-Defizit-Syndroms (Glut-1­Defekt) diente als Beispiel der Abgrenzung seltener neurologischer Erkrankungen zu psychosomatischen Störungen und verdeutlichte die schwierige Gratwanderung der beteiligten Ärzte in der Diagnosefindung: „Der Patient klagt über ein ganzes Bündel von Beschwerden und Sie als Ärztin oder Arzt fragen sich zu Recht: Ist es eine somatische oder eine psychosomatische Erkrankung?“

„Die junge Patientin hat durch Stellung der Diagnose nach über zehn Jahren entscheidend profitiert.“

Die Fallvorstellung skizzierte eindrucksvoll, wie lang der Weg von den ersten Symptomen in der Kindheit  bis zur Diagnose im jungen Erwachsenenalter sein kann, der häufig auch durch fruchtlose Therapieversuche geprägt ist. Doch im präsentierten Fall gab es schließlich ein Happy End durch die differenzial­diagnostische Diskussion verschiedener Experten. Volk: „Die junge Patientin hat durch Stellung der Diagnose nach über zehn Jahren entscheidend profitiert und durch den gewählten Therapieansatz bereits nach drei Monaten eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität erreicht. Dies wäre ohne die interdisziplinäre Zusammenarbeit im ZSEA nicht möglich gewesen.“

ZSE-DUO: Bundesweites Pilotprojekt

Im Projekt „ZSE-DUO“ (www.ukw.de/zse-duo) soll eine neue Versorgungsform in mehreren Zentren für Seltene Erkrankungen in ganz Deutschland eingeführt und bewertet werden. Die Behandlung von Patienten, die sich mit ungeklärten Beschwerdebildern an einem Zentrum für Seltene Erkrankungen vorstellen, ist häufig sehr komplex. Die Beschwerden sind oftmals begleitet oder gar verursacht durch psychiatrisch-psychosomatische (Begleit-)Erkrankungen, die eine Abklärung weiter erschweren. Ziele des Projektes sind, die Versorgung von Menschen mit unklaren Diagnosen zu verbessern, die Rate an gesicherten Diagnosen zu steigern, die Zeit bis zu einer Diagnosefindung zu verkürzen und eine psychologische Begleitung von Beginn zu ermöglichen. Dafür wurde dieses Projekt, eine Kooperation verschiedener Unikliniken in Deutschland, der Allianz für Seltene Erkrankungen ACHSE sowie dreier Krankenkassen ins Leben gerufen. Es wird vom Innovationsfonds beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gefördert.

Wichtig ist für die Neurologin vor allem die effektive Vernetzung auch über Sektorengrenzen hinweg: Die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen sollten auch an „das Zebra“ unter den Diagnosen denken und sich bei dem Verdacht auf eine Seltene Erkrankung nicht scheuen, den Kontakt zum ZSEA zu suchen. Dessen Aufgabe sei es dann, die meist umfangreichen Vorbefunde zu sichten, zu bewerten und die richtigen Expertinnen und Experten an Bord zu holen.

Professor Dr. Steffen Koschmieder aus der Klinik für Hämatologie, Onkologie, Hämostaseologie und Stammzelltransplantation an der Uniklinik RWTH Aachen, präsentierte zwei interessante Fallbeispiele von Patienten mit starker chronischer Fatigue und Blutbildveränderungen, die mit Hilfe des ZSEA endlich eine Diagnose erhielten. Professor Dr. rer. nat. Thomas Eggermann aus dem Institut für Humangenetik des UKA ging den verschiedenen Ursachen des vergleichsweise häufigen Befundes von Kleinwuchs auf den Grund und gab einen Einblick in seinen Forschungsschwerpunkt zum Silver-Russell-Syndrom. Im Anschluss brachte sich das Auditorium in eine lebhafte Diskussion ein, die der Internist Dr. Ivo Grebe als Vorsitzender der Kreisstelle Stadtkreis Aachen der Ärztekammer Nordrhein in bewährter Weise moderierte. Gefragt nach dem besonderen Merkmal der Arbeit im Zentrum für Seltene Erkrankungen wie dem ZSEA, lautete das Fazit von Daniela Volk: Die Diagnose einer Seltenen Erkrankung erfordert Zeit, die den niedergelassenen Kollegen im Versorgungsalltag, aber auch den hinzugezogenen Experten fehlt. Die Extraktion und Interpretation der vorliegenden Befundergebnisse aus der oft umfangreichen Patientenakte ist von großer Bedeutung, um die anschließende Expertenauswahl oder die Fallkonferenz vorzustrukturieren, so die Ärztin.

EMRaDI-Projekt und INTERREG-Programm

EMRaDi steht für „Euregio Meuse-Rhine Rare Diseases (dt.: „Seltene Erkrankungen in der Euregio Maas-Rhein“). In diesem Projekt ( Laufzeit: 1.10.2016 bis 31.03.2020) haben acht regionale Partner ihre Kräfte gebündelt, um wesentliche Verbesserungen in der integrierten Gesundheitsversorgung von Patienten mit Seltenen Erkrankungen zu erzielen. Das Projekt ist Teil des 5. INTERREG-Programms, Teil A. INTERREG ist eine Initiative der Europäischen Kommission und wird vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und von regionalen Behörden – in NRW ist das das Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes – finanziert. Das Programm zielt darauf ab, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Europäischen Union durch grenzüberschreitende (Teil A des Programms), transnationale (Teil B) und interregionale Zusammenarbeit (Teil C) zu stärken.


ZSEA-Leiter Schulz richtete in seinem Fazit einen Appell an die Teilnehmer: „Seltene Erkrankungen bedürfen einer interdisziplinären Zusammenarbeit und Vernetzung, zum einen der verschiedenen Fächer, aber auch vertikal zwischen niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern und Unikliniken. Daher verstehen wir uns als Partner. Wir wollen bei Ihnen dafür werben, bei Ihren Patienten mit unklaren Syndromen an eine Seltene Erkrankung zu denken und mit uns Kontakt aufzunehmen.“ Seiner Einschätzung nach ist schon viel erreicht worden, aber es gilt weiter Transparenz zu schaffen, Lobbyarbeit zu leisten, Empfehlungen zu entwickeln, die Vernetzung zu verbessern, um die Patienten nach erfolgter Behandlung auch wieder in die ambulante Versorgung zurückzugeben.


Dr. phil. Ulrike Schaeben ist Referentin für die Koordination der Kreis- und Bezirksstellen der Ärztekammer Nordrhein.